Fritz! Es ist ein Traum!

Manhattan
ManhattanREUTERS/Shannon Stapleton
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Ich war 16. Ein Asylantenkind. Die Geschichte hatte uns aus Wien über den Atlantik gefegt. Erinnerung an eine Jugend in Manhattan.

Bei einem unserer Ausflüge während meiner Kindheit von unserem Außenbezirk in Wien ins elegante Stadtzentrum sah ich ihn. Ich war vielleicht sieben, musste hinaufgreifen, um die Hand meines großen Vaters zu erreichen, doch viel größer noch war diese wunderbare Gestalt, die da vor uns aufragte: ein Riese wie aus dem Märchen mit einem silbernen Federbusch auf einer himmelblauen Kappe in einem himmelblauen Rock mit diamantenen Knöpfen und mit Epauletten, die golden auf heroischen Schultern leuchteten. Aber märchenhaft, wirklich märchenhaft wurde die Erscheinung erst durch das Gesicht. Es glomm ebenso kohlschwarz wie die Hand, die zwei weiße Handschuhe hielt.

Und gleich einer Laterna magica flammtein meinem Kopf die Illustration auf, die ich vor Kurzem in einem Buch bei meinem Freund zu Hause gesehen hatte. Ich erinnerte mich noch an die Worte unter dem prachtvollen Porträt, das jetzt vor meinen Augen Fleisch geworden war – General Othello.

„Ein General!“, flüsterte ich meinem Vater zu. – „Nicht ganz“, flüsterte Papa zurück. –„Er sieht aus wie ein General!“

Papa führte mich um die Ecke, damitwir normal reden konnten. „Das ist das Hotel Imperial“, sagte er. „Es wurde gebaut für Könige auf Staatsbesuch.Das ist der Türsteher.“

Der Türsteher? Ichbestand darauf, nocheinmal um die Ecke zugehen, damit ich nocheinen Blick erhaschenkonnte. Was auch immer ein Türsteher seinmochte, er sah eindeutig, ganz eindeutig, eindeutiger denn je wie ein General aus.

Ich war damals der kleine Fritz Mandelbaum, in der Mitte der 1930er-Jahre. Wenige Jahre später explodierte die Geschichte. Sie fegte uns im Wien der Nazis aus unseren hellen Art-déco-Zimmern quer durch Europa direkt über den Atlantik – und ließ uns vor einer abgeblätterten Fassade in der West 151st Street in Manhattan fallen, vor einem Eingang, über dem in rostenden Buchstaben The Beaumont Arms stand.

Und dort erwartete uns ein anderer militärisch wirkender schwarzer Mann. Aber der war ganz eindeutig kein General. Er trug eineArt Armeemantel, grünlich, zerknittert, mit einem zerrissenen Revers, offensichtlich die Uniform des Hausmeisters des Beaumont Arms. Er half mit, unseren Schrankkoffer in unsere Wohnung im vierten Stock zu schleppen, denn „der Lift is kaputt“.

Als ihm Papa ein 25-Cent-Stück als Trinkgeld gab, salutierte er beinahe gekonnt, um (wie ich mir vorstellte) das Revers zu kompensieren. „Heiße Elwood“, sagte er. Durch Elwood veränderte sich das Bild, das er in meinen Gedanken auslöste – das des großartigen schwarzen Kommandanten vor dem Hotel Imperial. Elwood prägte meine erste Erfahrung mit „Negern“ im Amerika der1940er-Jahre.

Das änderte sich in der zweiten Woche nach unserer Ankunft, als ich in die berufsbildende High School für Lebensmittelweseneintrat und dort meine Bäckerausbildung begann. Warum gerade dort? Weil ich wegen meiner fürchterlichen Noten am Gymnasiumin Wien wohl kaum für eine höhere Schulbildung bestimmt war. Wichtig war auch der Ratder Flüchtlingshilfsorganisation: Da meine Eltern sich kaum die Miete in einem schäbigen Gebäude leisten konnten, solle man vorsichtigerweise eine Schu-
le wählen, wo ich einHandwerk lernen würde,in dem ich direkt nachmeinem Schulabgang eine Stelle finden könne.Bäcker waren gesucht.

Genau aus diesemGrund hatte BürgermeisterLaGuardia die Schule zwei Jahre zuvor gegründet. Sie war eine Institution, in der die Kinder armer Einwanderer in Berufen ausgebildet wurden, in denen das Stellenangebot groß war. Doch unter den Gruppen, die in erster Linie angesprochen wurden, waren nicht Flüchtlinge aus Nazideutschland, sondern „Neger“, die aus den rassistischen Südstaaten geflohen waren.

Die Klasse, in der ich landete, bestand daher zu mehr als der Hälfte aus Schwarzen. Die weißen Kinder waren aus jüdischen Slums – Schlägertypen, für die die Lebensmittelschule oft die letzte Station vor der Erziehungsanstalt war. Doch es gab da auch nicht wenige Söhne von Inhabern kleinerBäckereien in Little Italy, Buben mit harten sizilianischen Augen und Gliedmaßen, die dafür gemacht waren, zu treten und zuzuschlagen. Und von den Schwarzen war keiner ein Elwood. Aus einer späteren Generation stammend, waren sie im brutalen Umfeld von Harlem geboren, aufgewachsen und hart geworden. Diese Nigger (wie sie sich locker gegenseitig nannten, aber wehe, ein anderer hätte das getan!) ließen sich nichts gefallen von Kikes(Drecksjuden) oder Wops(Spaghettis).

Derlei Gustostückerln amerikanischerAusdrücke lernte ich durch meine Schulkameraden kennen. Komplexere Redeweisen wie Cocksucker oder Motherfucker lernte ich von den Lehrern. Die Lebensmittelschulehatte ihren Lehrkörper nicht an einer properen Lehrerbildungsanstalt rekrutiert. Die Meisterbäcker, die uns zeigten, wie man einen riesigen Sack Mehl aufhebt, um ihn kontrolliert in eine noch größere Teigschüssel zu leeren, waren robuste Typen mit einer kernigen Art und Sprache. Und dennoch erfüllte sie (von unserem zynischeren Standpunkt im 21. Jahrhundert aus betrachtet) ein fast bizarrer Idealismus. Sie hätten viel mehr als Vorarbeiter in einer Bäckerei verdienen können, doch sie waren begeisterte Anhänger des New Deal und entschlossen, dieseJugendlichen von der Straße mit ihren Rohheiten und Bandenkriegen zu holen und in einen soliden Job zu bringen.

Und sie waren fanatisch egalitär. Na gut, Schimpfwörter, wer scheißt sich da schonwas – aber wenn auch nur eine Silbe aus deinem Mund kam, die zu einer ethnischen Beschimpfung hätte werden können, dann WHAM!, dann wurde man am Schlafittchen gepackt und zum Waschbecken geschleppt, wo man den restlichen Schultag damit verbrachte, Backschaufeln abzukratzen, verbrannte Kuchenformen zu schrubben oder Töpfe zu scheuern.

Das konnte mich merkwürdig Sprechenden, merkwürdig Aussehenden nicht immer schützen, besonders nicht am Anfang, als Mutti noch darauf bestand, dass ich so wie in Wien mit weißem Hemd, Krawatte undSakko zur Schule antrat. An der Lebensmittelschule wirkte das wie eine Szene aus einer Komödie. Also bekam ich zu Hause einen Tobsuchtsanfall, schleppte Mutti in den Army & Navy Store an der Amsterdam Avenue, in die (glücklicherweise billige) Abteilung für gebrauchte Kleidung. Die abgenutzten Jeans, in denen ich dann in der Schule erschien, entsprachen der dortigen Kleiderordnung viel eher.

Der Army & Navy Store hatte allerdings nichts im Angebot, was meinen Akzent hätte verhüllen können. Außerhalb der Hörweite der Lehrer war er immer noch Anlass für groben Spott. An einem Vormittag ging ich in den Geräteraum der Bäckerei und verlangte einen Teigschaber. Palusso, der Alpha-Italiener, hatte zufällig gerade Dienst und verhöhnte mich wieder einmal wegen meines Akzents.

Da reichte es mir. Ich sprang ihn an. Als uns Mr. Sultan schließlich trennte, hatte ich eine dicke Lippe, aber Palusso hatte zwei hübsch geschwollene Augen und blutete eindrucksvoll aus der Nase. Von da an fühlte ich mich in der Lebensmittelschule zu Hause. Und nach meiner zweiten Rauferei (macht nichts, dass dieses Mal ich derjenige war, der am Schluss aus der Nase blutete) war allen klar: Respekt!

Sicher, Palussos Gruß war immer noch: „Hey, du Kraut!“ Aber ich hatte gelernt, mit derselben Lässigkeit „Is was, Arschloch?“ zu antworten. Doch der akzeptierte „Kraut“ der Schule zu sein war mir nicht genug. Ich wollte einer der Top Guys sein. Bei diesem Status gab es keine Rassengrenzen, doch der Zugang war streng begrenzt. Nur diejenigen kamen in seinen Genuss, die das Lasterhüpfen beherrschten, eine Kunstform, die an der Seventh Avenue gepflegt wurde. Diese Straßeverband das Hauptgebäude unserer Schule (mit seiner Bäckerei, Fleischerei und seinen Restaurants) mit ihrem akademischen Anhängsel, einer früheren Fabrikshalle, die in klapprige Klassenzimmer unterteilt worden war, wo wir rudimentären Unterricht in englischem Aufsatz, Fetzen von Literaturkunde und gerade genug Mathematik vorgesetzt bekamen, um die Mengen in Rezepten ausrechnen oder Inventur machen zu können. In der Mittagspause traten wir die Reise zwischen den zwei Gebäuden an. Das gemeine Schülervolk latschte kauend die zwölf Blocks an der Seventh Avenue entlang. Doch der Hochadel an der Lebensmittelschule sprang flinkfüßig und kaltblütig auf die Ladeflächen von Lastwagen in voller Fahrt. (Bei Rot hätten es die Fahrer bemerkt und uns fluchend verjagt.)

Nachdem ich die Technik der Meister genau beobachtet und selbst ein paar gescheiterte Versuche unternommen hatte, schaffte ich es. Ich wurde ein Virtuose im Lasterhüpfen. Mit der Zeit führte meine Geschicklichkeit zu meiner offiziellen Aufnahme in den Kreis der Top Guys an dem Ort, wo die Amtseinführung normalerweise stattfand: im Herrenklo. Monatelang hatte ich das Ritual dort neiderfüllt beobachtet. Einer der Top Guys lehnte immer mit wunderbar lässiger, sorgloser Haltung am Türpfosten, während eine Zigarette von seinen Lippen baumelte. Wennirgendein Niemand (wie ich vor meiner Zeit als Lkw-Künstler) durch die Tür hinausging, wurde er bestenfalls mit einem knappen „Hi“ gegrüßt. Wenn jedoch ein anderer Top Guy daherkam, übergab ihm der an der Tür Lehnende die Zigarette mit einem Nicken von Prinz zu Prinz und ging; woraufhin der Empfänger sich auf dieselbe Art hinlehnte und die Zigarette baumeln ließ, bis er sie dann exklusiv einem Gleichgestellten anbieten konnte.

Am Ende meines ersten Jahres in der Schule wurde ich aufgenommen. Mir wurde die magische Camel überreicht. Und derjenige, der sie mir anbot, war kein Geringerer als Palusso, mein früherer Gegner. Doch er ging nicht weg, nachdem ich installiert war. Er schlenderte zu den Pissoirs, ließ jedoch den Reißverschluss zu und beäugte mich. Mir kam der Verdacht, dass er irgendeinen Fehler in meiner Haltung sah. Vielleicht lehnte ich nicht richtig am Türpfosten in einem Winkel, der auf echt amerikanische Weise zeigte, dass mir alles scheißegal war. Oder vielleicht ließ ich als Nichtraucher die Zigarette nicht richtig baumeln.

Aber nein. Palussos wahrer Grund wurde klar, als Wilson das Herrenklo betrat. Nun, Wilson war nicht nur ebenfalls ein Lkw-Künstler, sondern er war auch schwarz. Natürlich reichte ich ihm die Camel. Zu meinem Schock wirkte er fast geschockt. Dann grinste er ein bisschen, klopfte mir seltsam auf die Schulter und war, ohne die Zigarette zu berühren, wieder weg. Im nächsten Augenblick ging Palusso auf mich los. „Bist du scheißblind?“ – „Häh?“ – „Wilson ist Farbiger!“ – „Sicher, aber...“ – „Haben sie dir dasnicht beigebracht in deinem alten Land? Ich hab mir schon gedacht, ich muss dich beobachten! Du gibst sie nicht ihnen, und sie geben sie nicht dir!“ – „Die Zigarette?“ – „Natürlich die Scheißzigarette! Da vermischtsich die Spucke, die farbige und die weiße! Man wird krank davon!“ – „Wie denn?“ – „Da wachsen einem Bakterien im Blut oder so was. Schau, man tut das nicht. Jetzt weißtdu's. Man tut das nicht, verdammt nochmal. Okay?“

Und ich tat es nicht mehr danach.

Aber das gefiel mir nicht. So sehr ich es mochte, der Hüter des Feuers im Herrenklo zu sein – ich konnte den Geschmack verbrannten Tabaks in meinem Mund nicht leiden und musste so länger warten, bis ein weißer Top Guy hereinkam und ich die Zigarette weitergeben konnte.

Außerdem konnte ichdieses Verbot nicht verstehen. Schließlich wurde die Frage durch ein großes Ereignis geklärt, das die Zeremonie der Top Guys im Herrenklo für immer veränderte: Bürgermeister Fiorello LaGuardia besuchte unsere Schule.

Für mich war dieser Anlass Grund zu besonderem Stolz: Ich war auserwählt worden, Teil der Begrüßungsdelegation zu sein, einer Vierergruppe von Schülern aus allen Abteilungen der Schule. Zum vereinbarten Zeitpunkt zu Mittag standen wir und der Direktor, Mr. Simonson, vor dem Gebäude stramm. Und tatsächlich hörte man sehr baldden Klang einer Polizeisirene näherkommen. Wir dachten, sie würde die Ankunft einer vornehmen Limousine ankündigen. Doch nur ein normales Polizeiauto tauchte auf. Es hielt vor uns an, und die Sirenenfanfare verklang. Bei der hinteren Türe kletterteein kleines, pausbäckiges, verknittertes Geschöpf heraus, die Hängebacken von einem riesigen Hut überschattet.

Der Herr Bürgermeister in Person.

Er schüttelte Mr. Simonson die Hand. Und dann machte er etwas Erstaunliches. Das einzige Stück seiner Aufmachung, dasein hohes Amt vermuten ließ, seinen beeindruckenden Stetson, nahm er ab, schnappte sich mit der anderen Hand die Kochmütze des Delegierten der Köche, ließ den Stetson auf den Kopf des Kochs fallen und die Kochmütze auf seinen, hängte sich auf der einen Seite beim Koch und auf der anderen bei Mr. Simonson ein und marschierte so in die Schule.

Und ich, der ich hinter ihnen ging, war fast genauso eifersüchtig wie fasziniert. Ich wünschte, der Bürgermeister hätte mich mit seinem Stetson gekrönt. Aber wenigstensging Herr Bürgermeister zuerst in unsere Abteilung. Hier standen schnurgerade Reihen weiß beschürzter, applaudierender Bäcker. Billson rollte einen Tortenwagen herein, auf dem eine große Schoko-Kirsch-Torte mit rosa Glasur thronte.

Der Bürgermeister streckte einen Zeigefinger zur Torte hin, berührte sie aber noch nicht; und blickte schüchtern von seinen 1,60 Metern Körpergröße auf zum großen schlaksigen Billson und fragte mit heiserer Stimme: „Darf ich kosten?“

„Sicher, Mann – Sir“, sagte Billson. Der Bürgermeister tauchte seinen Finger in die Glasur, kostete, warf entzückt seinen Kopf samt Kochmütze in den Nacken und ließ ein ekstatisches Mmmmmmhhh!!! hören, tauchte den Finger wieder ein, bot seinen wieder überzogenen Finger einem seiner Mitarbeiter an, der ebenfalls Mmmmmmhhhh!!!machte, bevor er die Torte in den Geschenkkorb stellte, den er beisich trug. Danach eskortierten wir den HerrnBürgermeister in die übrigen Abteilungen der Schule, welche alle miteiner Köstlichkeit alsGeschenk bereitstanden, das mit großen Gesten bürgermeisterlicher Dankbarkeit übernommen wurde.

Doch wie konnte der Bürgermeister die Zigarettenzeremonie im Herrenklo verändern? Eigentlich tat er selbst nichts dazu, aber ohne seinen Besuch wäre es nicht zu einem folgenschweren Vorfall gekommen.

Am Morgen dieses Tages rauchte Greenstein seine Top-Guy-Zigarette an der Tür im Herrenklo, als ein erwachsener Schwarzer aus einer Kabine kam und sich die Hände am Waschbecken wusch. Nun wurden Erwachsene immer zum Lehrerklo im oberen Stock geschickt, und der Anblick war noch außergewöhnlicher, weil dieser Mensch einen eleganten dreiteiligen Anzug trug und graue Schläfen hatte.

„Hey“, fragte Greenstein, „was machen Sie da, Mann?“ Der Mann zog so etwas wie eine Geldtasche aus seiner Jackentasche und klappte sie auf: „Sicherheitskontrolle vom Bürgermeister.“

Obwohl er ruhig gesprochen hatte, traf dieser Satz Greenstein wie ein Donnerschlag. Dass er eine solche Persönlichkeit herausgefordert hatte, überraschte, desorientierte, alarmierte ihn dermaßen, dass er in seiner Verwirrung, quasi als Entschuldigung, dem Mann sprachlos seine Zigarette anbot. Der Mann lächelte, nahm sie, zog daran und gab sie zurück. „Danke, Kollege“, sagte er im Gehen.

Diese zwei Worte verwandelten Greensteins Schmach in ein Hochgefühl. Ein Detektiv der Polizei von New York City, ein großes Tier des persönlichen Sicherheitsdienstes des Bürgermeisters, hatte ihn „Kollege“ genannt! Das konnte Greenstein unmöglich für sich behalten. Um 10 Uhr 30 wusste bereits die gesamte Metzgerabteilung jedes Detail vom dreiteiligen Anzug bis zum Grau an den Schläfen. Um elf Uhr kannte jeder in der Schule die Geschichte. Und dann wurde uns die explosive zweite Dimension dieser Begegnung klar: Greenstein hatte in seiner Euphorie die Zigarette fertiggeraucht, nachdem er sie vom Detektiv zurückbekommen hatte – doch es wuchsen ihm keine Bakterien im Blut. Nach zwei Tagen war er immer noch gesund und sprang auf einen Lastwagen auf, der sogar für mich zu schnell war. Von nun an war die Camel der Top Guys im Herrenklo farbenblind.

Ich war darüber unheimlich erleichtert, durfte jedoch niemandem erzählen, warum. Die Entgiftung des interrassischen Speichels hatte für mich eine sehr private Bedeutung. Dabei ging es um eine gewisse Bibliothekarin der Öffentlichen Bibliothek in der 145th Street. „Miss Harriet Poynton“ stand auf dem Schild auf ihrem Tisch, doch unter dem Tisch quollen schokoladebraune Schenkel hypnotisierend unter ihrem kurzen Rock hervor, die wilde Fantasien auslösten; diese begannen immer mit sehr viel feuchter Zungenberührung, was nun nachgewiesenermaßen medizinisch unbedenklich war.

Doch abgesehen von ihrem heißen Körper, hatte Miss Poynton auch einen Schlüssel, der ebenso heiß war, den Schlüssel zu einer Vitrine, in der Webster's Unabridged Dictionary stand. Wenn sie sich bückte und mit dem Schlüssel das Schloss penetrierte, entfachte sie in mir eine zweifache Libido. Die zweite war meine Lust auf Wortschatz.

Meine Vokabelmanie war ein Jahr, nachdem Beine in Seidenstrümpfen faszinierend geworden waren, über mich gekommen. Doch es gab einen Unterschied zwischen den beiden Obsessionen. Die Sache mit den Frauen brodelte auch in allen anderen Typen; sie war das Hauptthema in der Garderobe und Anlass für endlose Witze, Anspielungen und Angebereien. Doch keiner der anderen Burschen litt wie ich an einem Sprachentick. In der Bibliothek konnte ich mich in Wörtern suhlen. Wenn Miss Poyntondie Glasvitrine aufsperrte und mir das Großwörterbuch übergab, packte, umarmte, umklammerte ich lustvoll dieses opulente Werk mit seinen mehr als 3000 Seiten voller Synonyme, Antonyme, Metonyme und Etymone. Ich drückte diese große, üppige, begehrenswerte Last an mein Herz, atmete den schwachen Papierduft ein, wankte zum nächsten Tisch und ließ dort meinen Schatz fallen. Dann zog ich den Zettel heraus, auf dem ich mir komplizierte Wörter aufgeschrieben hatte, schillernde, verhüllte Geheimnisse, die sich mir nun in ihrer nackten Bedeutung zeigten.

Und wo hatte ich diese reichsilbigen Freuden erspäht? Bei der fanatischen Lektüre, die mein Worthunger von mir forderte. Gierig verschlang ich wahllos, alles fressend Lyrik, Fiction, Non-Fiction, von Karl Marx bis T.S. Eliot. Doch ich versteckte meinen neuen verbalen Reichtum. Nur ab und zu ließ ich mich zu unreifer, unerfahrener Arroganz hinreißen, was ich erst bemerkte, wenn es zu spät war. Im Englischunterricht wurde Mr. Hertz, als wir „Oliver Twist“ (das einsame„literarische“ Werk auf unserer Leseliste) besprachen, in seiner Lobhudelei einfach zu unerträglich simpel für mich. Ich platzte heraus: „Dickens bleibt brillant an der Oberfläche, aber es gibt keine Tiefe, keine Sogwirkung wie bei Dostojewski!“

Die Mitschüler starrten mich bei solchen Ausbrüchen verwundert an. Aber sie geschahen nicht oft. Und wenn sie passierten, dann dachten die anderen offensichtlich, dass meine Verirrungen die amüsanten Nachwirkungen meines Akzents waren, der im Laufe meines letzten Schuljahres verschwand.

Vielleicht forderte mich Smitty deswegen auf, mir „irgendwas lustiges Deutsches“ auszudenken für unsere Show bei der Schulabschlussfeier. Smitty war der Organisator; er war der am besten Geeignete für diesen Job als unser führender Entertainer in der Garderobe, der jeden mit seiner herrlich schweinischen Version von Frank Sinatras „I love you for sentimental reasons“ zum Totlachen brachte.

Eine großartige, geistreiche Schweinerei. Doch ich war völlig geistlos. Mir irgendwas lustiges Deutsches einfallen lassen? Mir fiel überhaupt nichts ein, auch nichts lustiges Nichtdeutsches. Eine Katastrophe. Denn gerade in dieser Zeit, am Ende meines letzten Schuljahres, war mir klar geworden, dass ich Schriftsteller werden wollte. Dieser riesige Berg Sprache, den ich zwischen meinenSchläfen angehäuft hatte – daraus wollte ich Ideen, Geschichten, Aussagen destillieren, die die Welt erbauen sollten. Ich plante, der neue Maxim Gorki zu werden, der ebenfalls Bäcker gewesen war und inmitten der Mehlsäcke geschuftet hatte. Und da war ich und konnte mir keinen Sketch für die Abschlussfeier einer High School einfallen lassen!

Da ich meine ehrgeizigen Pläne geheimgehalten hatte, musste ich meinen Kummer übermein Versagen ebensoverbergen, besonders vormeinen Eltern. Das warnicht leicht, denn gerade während meiner Depression darüber, dassich nie ein Gorki sein würde, kam meine Mutter von der Sprechstunde nach Hause und strahlte: „Mr. Hertz sagt, dass du so gescheit bist! Du solltest aufs College gehen! Nach einer berufsbildenden High School brauchst du einen speziellen Aufnahmetest, aber er wird das arrangieren! City College – keine Studiengebühren! Fritz, ist das nicht wunderbar?“

Nun ja, gewissermaßen schon. Es war gut,dass meine Gescheitheit, an der ich zu zweifeln begonnen hatte, offiziell bestätigt wurde. Und vielleicht würde eine schwierige Prüfung den Funken für meine grauen Zellen liefern, sodass mir doch noch eine Idee für die Show kam. Das hat aber nicht funktioniert. Vom Test kann ich mich nur an eine schäbige Halle erinnern, an angespannte, pickelübersäte Gesichter links und rechtsvon mir und zu viele Aufgaben aus Mathematik, meinem Schwachpunkt. Und an die bleierne Sicherheit danach, dass ich durchgefallen war. Und an das bittere Gefühl, dass das ganz egal sei. Das sollte mich von meinen Schriftstellerfantasien befreien. Das sollte der Realität zum Durchbruch verhelfen.

Nun, die Realität kam anders. Als ich am Ende der letzten Schulwoche nach Hause kam, lief meine Mutter auf mich zu undschwenkte ein Kuvert. „Fritz! Von der Zulassungsstelle! Du bist jetzt Student! Ich habe schon Mr. Hertz angerufen!“ – „Du meinst, ich bin durchgekommen?“ – „Ja, und Mr. Hertz sagt, du kannst jetzt Lebensmittelchemie studieren und einen höheren akademischen Posten bekommen! Fritz, es ist ein Traum!“

Ich mimte Freude, als mich meine Mutter umarmte. Denn das war schlimmer, als bei der Prüfung durchzufallen. Es bestätigte, dass ich nicht dumm war, aber ich war ein stumpfer Bücherwurm, der völlig unbeleckt war von Fantasie. Ich würde Lebensmittelchemie studieren und kein Gorki werden, der vom mehlbestäubten Arbeiter aufsteigt, keine Stimme für das Leid und die Hoffnungen der Menschen.

Was würde aus mir werden? Ich hatteAngst vor der Zukunft. Ich klammerte mich an die Vergangenheit. Ich wollte nicht, dass die Schule zu Ende ging. Ich sehnte mich sogar danach, meinen Akzent wiederzubekommen. Irgendwie kam es mir vor, dass ich mein wahres Selbst aufgegeben hatte, als ich ihn verlor. – Da leuchtete anlässlich dieser nostalgischen Gefühle ei-ne Glühbirne in meinem Kopf auf – endlich eine echte Idee für die Abschlussfeier! Sie war zwarnicht besonders originell, da ich sie eigentlich von einer meiner Lieblingssendungen im Radio gestohlen hatte, aber es war „etwas lustigesDeutsches“. Ich wünschte mir nur, ich hätte früher daran gedacht als am Freitagabend, als nur mehr ein Wochenende bis zur Feier am Montag blieb.

Glücklicherweise fuhren unser Showmaster Smitty und ich in derselben U-Bahn nach Hause; seine Station in Harlem war nur ein paar Haltestellen weiter als meine. „Hey“,sagte er, als ich ihm die Idee vorlegte, „toller Scheiß, Mann. Doch wir sollten's besser gleich ausprobieren.“

Aber wo? Zu Hause war das unmöglich. Also hatte ich noch einen Einfall: die Lobby in unserem Gebäude. Sie war riesig, passend zum Beaumont Arms in besseren Zeiten, bevor die Luxusappartements in mickrige Wohnungen unterteilt worden waren. Als wir hineingingen, stand Elwood in einer Ecke miteiner anderen Person, und beide starrten auf einen Wasserfleck an der Stuckdecke. Die zweite Person war Mr. Posser, der Hausherr höchstpersönlich, eine ausgegangene Zigarre zwischen die gelben Zähne geklemmt.

Mr. Posser war eine Nervensäge. Aber zunächst machte er keine Schwierigkeiten und ging mit Elwood davon. Also hatten wir, als wir zu proben begannen, nur ein Problem. Es sollte ein Sketch mit Musik werden – und ich konnte nur falsch singen. Smitty fand auch eine Lösung dafür. Er sagte, er würde ein paar Zeilen singen, ich würde die anderen sprechen, nur mit einem fürchterlichen deutschen Akzent. Okay. Nach ein paar Fehlstarts (ich musste erst mit dem Rhythmus zurechtkommen) waren wir ganz gut unterwegs. Smitty (singend): Whenthe Führer says... Ich(auf und ab marschierend und bellend): Weare ze mashter rrrace... Smitty (singend):We go pf, pf, pf right in the Führer's face... Und wieder Smitty (singend): When Herr Göring says...Ich (auf und ab marschierend und bellend): You kannot pomb zis blace...Smitty (singend): We go pf, pf, pf right in Herr Göring's face... Und wieder Smitty (singend): When HerrGoebbels says...

Doch plötzlich mussten wir aufhören. Völlig unerwartet schob Elwood seinen Putzwagen mitten in unsere Probe. Mr. Posser hatte ihm befohlen, ausgerechnet jetzt die Lobby aufzuwischen. Das war unerträglich. „Wo zum Teufel ist Mr. Posser?“ Elwood zeigte auf die Tür zum Zählerraum. Hinter der Tür stand Mr. Posser und betrachtetestirnrunzelnd den Stromzähler. „Sagen Sie Elwood, er soll uns in Ruhe lassen!“

Mr. Posser nahm die Zigarre aus dem Mund. „Schaff ihn hier raus“, sagte er, „kein Nazinigger wird sich weiter in meiner Lobby rumtreiben.“ – „Smitty ist kein Nazi!“ – „Das hat mir noch gefehlt, Nigger, die in meiner Lobby rumjohlen. Die bringen das ganzeViertel um. Schaff ihn raus.“ – „Erstens einmal sollten Sie nicht Nigger sagen!“ „Er hat hier nichts verloren. Schaff ihn raus.“ – „Mein Gott, wir proben doch nur für unsere Abschlussfeier!“ – „Nicht mit ihm. UndSchluss jetzt.“ – „Nein“, sagte ich, „wir haben ein Recht darauf.“ – „Er ist kein Bewohner in diesem Gebäude. Ich lasse ihn wegen Hausfriedensbruchs verhaften.“ – „Nein“, sagteich, „es ist dies ein freies Land.“

Mr. Posser zeigte mit seiner Zigarre auf das Münztelefon an der Wand: „Soll ich auf dem Polizeirevier anfrufen? Captain McGurkist ein Freund von mir.“

„Er ist der Sohn eines Generals“, hörte ich mich sagen. – „Was?“, sagte Mr. Posser, „wer?“ – „Der schwarze junge Mann in der Lobby, Smitty“, sagte mein Mund zu meiner Überraschung, „er ist der Sohn eines Generals.“ – „Sicher, und ich bin der Kaiser von China.“ – „Ist er aber!“ Ich bebte. „Er ist derSohn eines afrikanischen Generals! Der sehr wichtig ist für die Kriegsführung der Alliierten!“ – „Schwachsinn!“

„Wollen Sie – wollen Sie wetten? LaGuardia bringt diesen General zu unserer Abschlussfeier mit.“ – „Bring mich nicht zum Lachen.“ – „Das ist wahr! Bürgermeister LaGuardia liebt unsere Schule, er besucht uns immer wieder, Sie können das in der Zeitung nachsehen! Und ich werde ihm sagen, was Sie gemacht haben!“ – „Du bist verrückt“, sagte Mr. Posser und drehte sich weg, „er verschwindet hier, oder er wird verhaftet.“ – „Ich werde dem Bürgermeister sagen, er soll Ihnen öfter Gebäudeinspektoren an den Hals hetzen.“ Mr. Posser drehte sich wieder zumir. „Das ist nicht lustig,junger Mann.“ – „Nein,es ist auch nicht lustig, den Sohn des Gasts des Bürgermeisters zu beleidigen. Sie werden das noch von den Inspektoren erfahren.“ – „Unfug!“ – „Wollen Sie wetten?“ Mr. Posser klopfte ein bisschen Asche von seiner ausgegangenen Zigarre. Nur ein paar Flocken fielen hinunter.

„Was ist dieser Quatsch mit LaGuardia?“, sagte er. – „Er liebt unsere Schule! Schauen Sie's nach in der Daily News! Die große Geschichte letzten Mai! Er wird sehr böse sein!“ – „Du spinnst.“ Er klopfte wieder auf die Zigarre, aber keine Asche fiel hinunter. „Auf jeden Fall ist derzeit alles in Ordnung hier.“ – „Und was ist mit der Müllverbrennungsanlage?“, sagte ich. „Schon seit Wochen kaputt. Da werden Sie ordentlich Strafe zahlen.“

Mr. Posser steckte die Zigarre wieder in seinen Mund, nahm sie aber wieder heraus. Er murmelte etwas, etwas wie: „Ich werde dieses stinkende Geschäft sein lassen.“ Lauter sagte er: „Wie lange musst du da mit ihm rumtun in der Lobby?“ Unglaublich. Er gab nach! „Wie lange? Mindestens eine Stunde“, sagte ich. „Vierzig Minuten, maximal vierzig Minuten“, sagte Mr. Posser. Er öffnete die Tür. „Elwood, hast du eine Uhr?“, rief er hinaus. – „Yeah, Sir.“ – „Dann lass sie, genau vierzig Minuten, nicht mehr, hörst du?“ – „Yeah, Sir.“ Elwood schob seinen Putzwagen weg.

„Gut“, sagte ich. „So ist es schon besser.“

Bis heute frage ich mich, ob es mir gelang, das mit ganz fester Stimme zu sagen. Innerlich zitterte ich noch immer vom Stress des Kampfes, als ich von Mr. Posser wegmarschierte auf Smitty zu.

Doch welch ein Triumph! Wir konnten weiterproben. Ich würde bei der Abschiedsfeier der Lebensmittelschule auftreten. Und ich hatte mich gegen Mr. Posser auf kreative Weise durchgesetzt – sozusagen. Der Bluff mit der Daily News war ein Geniestreich. Vielleicht würde ich schließlich doch ein zweiter Maxim Gorki werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2012)

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