Hier ist man nie allein

Die Erwartungen waren hoch, damals, Ende der Siebziger. Das Problem des städtischen Wohnens wollte man lösen. Mit der neuartigen Großwohnanlage „Am Schöpfwerk“. Was wurde aus der Mustersiedlung in Wien-Meidling? Notizen eines temporären Aufenthalts.

Gesunde Wohnungen – glückliche Menschen“, stand auf dem massiven Marmorblock „Am Schöpfwerk“, gefolgt von den Namen der Politiker und Architekten. Hohe Erwartungen wurden hier in Stein gemeißelt und griffige Glücksformeln. Die Fachwelt war von dem Vorhaben angetan; das Projekt zierte die Titelseiten wichtiger Zeitschriften. Ein Modellbau, als typologisches Experiment und soziologische Demonstration. Die Planer gaben sich selbst-bewusst: „Nach einer Ära städtebaulicher Prosa nach dem Zweiten Weltkrieg kündigt sich in unserem Lande der Beginn einer städtebaulichen Poesie an.“ „Großwohnanlage“ war die bevorzugte Bezeichnung. „Wir produzieren und befriedigen vorzugsweise immer noch Luxusbedürfnisse. Unsere Aufgabe ist die große Zahl.“

Am Beginn stand die Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ im Jahre 1966, in der Architekt Viktor Hufnagl gemeinsam mit Kollegen Kritik am simplen Zeilenwohnungsbau der Nachkriegsjahre übte. In der Folge wurde ein Team um Hufnagl von der Stadt Wien direkt mit der Planung für ein Demonstrativbauvorhaben beauftragt; ausgewählt wurde ein 17 Hektar großes Grundstück im Süden Wiens, am Fuße des Wienerbergs gelegen. Angestrebt war die Neuinterpretation der Wiener Höfe, vor allem nach dem Vorbild der Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit, ein bunter Mix von Wohnungstypen, eine sehr hohe Bewohnerdichte, die Vermischung von Funktionen, Verkehrstrennung und die Anwendung vorgefertigter Bauteile. Nach langer Planungsphase wurde von 1975 bis 1980 gebaut.


Meine Vorgängerin hat in der Wohnung noch ein paar Gläser und Teller zurückgelassen, im Kühlschrank eine Dose Ketchup, zwei Red Bull und eine halb volle Flasche Gin. Ich kann alles gut brauchen. Irgendwie hoffe ich auf eine Nachricht zu stoßen, von wem?Auf der Terrasse finden sich ein Klappsessel und ein Campingtisch, die eine brauchbare Küchenausstattung abgeben. Die ersten Nächte probiere ich es auf der dünnen Wander-Isomatte, doch bekomme ich kein Auge zu und besorge am dritten Tag eine Angebotsmatratze, die ich direkt auf den Boden lege. Die Stauballergie vergesse ich. Im mittleren Zimmer ist eine Zimmerpalme zurückgeblieben, abends rücke ich den Tisch und den Klappsessel dazu, und ein fast wohnzimmerartiges Ensemble entsteht.

Das Gurren der Tauben ist allgegenwärtig, was sprechen sie untereinander? Die meisten Loggien sind mit Gittern und Netzen abgeschirmt. Morgens liegen in den Höfen neben dem Weg Brotfladen und Semmelbrösel bereit, die Tauben genießen über Nacht unsichtbare Fürsorge. Unter der Balkonkante ist der Taubenkot mehrschichtig auf den Waschbetonplatten aufgetragen. Ich lerne geschickt, zwischen den unbenützbaren Platten durchzutänzeln. Eine angegraute Hollywoodschaukel steht noch im Schutz der Balkonplatte, der einzige Anlass, sich ungeschützt den Blicken der Hauswände auszusetzen.


Der Name „Am Schöpfwerk“
dürfte auf Hebeanlagen zurückgehen, mit denen das Grundwasser nach oben befördert wurde zur Bewässerung der umliegenden Gärtnereien. Die Siedlung gliedert sich in vier große Abschnitte. Die Grundstruktur bilden Hofabfolgen mit mittigen Erschließungsachsen – als Ringe bezeichnet –, die halbkreisförmig um einen zentralen Park angeordnet sind. Als Auftakt im Norden, gleich bei der U-Bahn-Station, ist ein 17-geschoßiges Doppelhochhaus platziert. Eine Fußgängerpassage quert den neungeschoßigen Bauteil Nordring, am Ende dieser Achse liegen eine Volks- und Hauptschule und eine Kirche. An den Kreuzungspunkten der Gebäudetrakte sind mächtige Stiegenhallen ausgebildet, mit umlaufenden Brücken und Galerien, die ursprünglich als Gemeinschaftswintergärten gedacht waren. Die Anzahl der Geschoße nimmt von Norden nach Süden ab; die fünfgeschoßigen Blöcke des Ostrings sind an den Schmalseiten abgetreppt für Terrassenwohnungen. Den Südring bilden viergeschoßige Oktogone mit internen Innenhöfen.

Immerzu rumort etwas in diesem Betonkörper. Die Heizkörper murmeln, auch wenn sie abgedreht sind, im nächsten Zimmer gleicht das mehr einem Pfeifen oder Zischen, die Töne ändern sich, wie modulierend. Das Rauschen einer Abflussleitung, das Klappern von Schritten darüber, dort das Schlagen einer Tür. Die Anlage: ein riesiger Klangkörper aus Stahlbeton.

Nachts schleiche ich den Fußweg unter den Betonarkaden entlang wie einer, der nicht auffallen möchte. Hier ist man nie allein. Erst ist es ein seltsames Gefühl, in einer Anlage mit so vielen Menschen auf engem Raum zusammenzuwohnen. Daran gewöhnt man sich. Abends flimmern die Lichtpunkte der Hochhausfenster wie ein Leuchtpuzzle, am Horizont im Südwesten stehen die Lichtketten der Wohntürme von Alt-Erlaa, man fühlt sich dann in der riesenhaften Megacity einer fernen Zukunft, wo Städte den Planeten überzogen haben wie ein alles bedeckender Wald.


Die katholische Pfarrkirche ist aus Betonfertigteilen mit Backsteinfeldern errichtet. Auf dem erhöhten Vorplatz liegen Felsbrocken, als wären sie irrtümlich vom Himmel gefallen. Ein mächtiger Campanile ragt auf als weit sichtbares Zeichen. Der Turm wirkt verwaist, oben am Ende des quadratischen Schaftes sind vier leere kreisrunde Scheiben eingelassen wie blinde Augen; hier sollten Uhren angebracht werden, die sich die Kirchenleitung aber nicht leisten konnte. Aus dem Glockenturm wird man kein Glockenläuten hören, nicht weil sie dauerhaft ausgeflogen, sondern nie eingezogen sind. Bei einer Abstimmung unter den Anrainern wurde die Bestückung mit Glocken abgelehnt, und der Turm blieb stumm.


Die fußgängerorientierte Erschließung der Wohnungen war eine der planerischen Prämissen. Die Autos parkten in den Tiefgaragen und an den Rändern. Der Konzeption der Außenräume kam besondere Bedeutung zu; Vorbilder wie Agora, Forum, historische Marktplätze und sogar die Piazza San Marco wurden als Zeugen angerufen. Eine Stadt inder Stadt entstand: 1705 Wohnungen für 6500Menschen, 62 Treppenhäuser mit 2,6 Kilometer Laubengängen, 55 Hobbyräume, 1200 Stellplätze. Dennoch blieb die Anlage ein Torso. Eine Kleingartensiedlung schneidet bis heute tief in die Bebauung ein. Sie sollte einem Westring weichen, so aber kam der zentrale Park nur in halber Größe zur Ausführung. Bautechnische Probleme folgten der Eröffnung auf dem Fuß: mangelhafter Schallschutz, Schimmelbildung durch Kältebrücken, unregulierbare Zentralheizungen, Wasserschäden an Terrassen und Flachdächern.


Obwohl an diesem Sonntagnachmittag die Sonne freundlich scheint, sind in den Räumen des Arkaden-Cafés die Lampen eingeschaltet und die Fenster nach draußen zur Passage mit Schnürlvorhängen und Dekorstoffen verhängt. Als Hemmschwelle für den unschlüssigen Flaneur? Der Gastraum füllt sich langsam. Man ist ins Herz des Guten-Tag-Landes vorgedrungen. Die Wirtin bleibt routiniert und aufmerksam jeder Kundschaft gegenüber. Hier versammeln sich die Mitglieder der Einheimischen-Community, zumeist deutlich betagte Teilnehmer der ersten Pioniertrupps, die auf dem Gelände gesiedelt haben.

Schräg gegenüber, an der halb offenen Fußgängerpassage, liegt der Penny-Supermarkt. Mit der angrenzenden Drogeriefiliale und einem türkischen Gemischtwarenladen bildet er das Kommunikationsdreieck der Anlage. Samstagvormittags findet auf den Betonbänken der Umgebung der lokale Tranklertreff statt.

Der teuerste Rotwein im Regal: ein Cuvée „Stoaweit“ für 5,99; Red-Bull und Hochprozentiges wird auf Nachfrage von der Verkäuferin direkt an der Kasse ausgehändigt. Ein Security-Mann dreht auffällig seine Runden. Meist steht er geduldig hinter der Kassa, während die Waren auf die Laufbänder geschoben werden, danach schlängelt er durch die Verkaufsgänge, ordnet da und dort das Gemüse in den Kisten, kleine Kinder fragen ihn um Auskunft, und wenn der Ausgang von Einkaufswagen verstellt ist, behebt er die Blockade, obwohl es nicht seine Aufgabe ist. Er bewahrt Haltung, ein älterer Herr schon, dunkelhäutig und groß gewachsen, die Security-Uniform steht ihm gut und verleiht ihm etwas Stattliches. Sein Basislager ist das Stehpult gleich neben dem Eingang, wo auf einem geteilten Bildschirm die Bilder der Überwachungskameras weiterspringen, als würde das einen Überblick verschaffen. Er lehnt lässig am Pult und sieht kaum hin. Das hilfsbereite Auftreten steht im Gegensatz zur strengen Aufgabe. Seine Freundlichkeit verrät sich in nichts.


Die Ausstellung von 1966 hatte nichts weniger angestrebt, als das Problem des städtischen Wohnens zu lösen, untermauert mit neun Forderungen. Etwa: „Schöpferische Aktivierung der Bewohner als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Persönlichkeit.“ Oder: „Der Wohnbau als verantwortungsvollste Bauaufgabe unserer Zeit erfordert höchste künstlerische Qualität.“ Der planerische Blick war nach vorne gerichtet. „Wir brauchen in unserer pluralistischen Umwelt Menschen, die bereit sind, jenseits politischer und konfessioneller Begrenzungen urbane Gemeinschaften einzugehen, Menschen, die durch das gemeinsame Erlebnis des Bauens und des selbst gestalteten Zusammenlebens ohne fixierte Vorstellungen und ohne Vorurteile Begegnungen suchen.“ Eine Fachzeitschrift kommentierte: „Dem in die Sackgasse geratenen sozialen Wohnungsbau sollen neue Möglichkeiten gewiesen und die Flucht junger, begabter Architekten in die Utopie vermieden werden.“ Die fachpublizistische Aufnahme war umfangreich und freundlich: das „Spectrum“ der „Presse“ von 1982 vermutet sich einem „Schlüsselbauwerk“ gegenüber, dem vielleicht „wichtigsten Wohnbau im Wien der Nachkriegszeit“.


Nach einer unruhigen Nacht voll Dröhnen und Klappern beschließe ich entnervt, bei den Nachbarn über mir vorzusprechen. Dazu muss ich über das Stiegenhaus in den Stock darüber steigen, scheuche zwei Schülerinnen beim Rauchen auf, durch einen Verbindungsraum gelange ich hinaus auf den Außengang. Alles wirkt verwaist rund um die Eingangstür, die Jalousien des Küchenfensters heruntergezogen, ob hier jemand wohnt? Nach dem Klingeln bleibt es ruhig. Schätze ich die Geräusche falsch ein, übertreibe ich? Auch in den folgenden Wochen ist abends kein Lichtschimmer auszumachen.


Samstagabend, rasch breche ich auf zu einem Dämmerungsspaziergang. Überall Kindergruppen, auf den Rasenflächen, unter den Tordurchfahrten, in den Zugängen, Ball spielend, herumwuselnd. In der Nähe meiner Wohnungstür spielt ein Vater mit einer Gruppe kleiner Mädchen Fußball, sie sprechen Deutsch mit unterschiedlichenAkzenten. Die vielfältigen Abstammungen der Bewohner färben das Bild an diesem Tag lebendig und bunt. Migrantischer Hintergrund, sagt man, Neuösterreicher. Riesige Integrationsmaschinen, die zu funktionierenscheinen. Ist es die Ankunft in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder der begrenzten Unmöglichkeiten? Ist das Österreichische in seinen lichtesten Momenten ein Prinzip, das von der Anziehungskraft einer Alltagskultur und dem gelassenen Umgang miteinander getragen wird?


1980 war dann das Kaninchen aus dem Hut gezaubert, als ausgewachsenes Prachtexemplar. Zwar hatte die Architektengruppe in einer mehrjährigen Planungsphase insgesamt sieben Zwischenstufen ausgearbeitet, um Forschung, Experiment und Planungsreife zu verbinden. Die Gedanken der frühen Konzepte sollten wie von riesigen Hebeanlagen ans Licht der Oberfläche befördert werden. Als die 6500 Menschen in kurzer Zeit einzogen, wirkte das riesengroße Steuerpult, das ersonnen worden war, um alles Erdenkliche zu berücksichtigen, mit seinen vielen Knöpfen und Reglern und Lämpchen schon klobig und unvollständig.

Wenn der naturkundige Beobachter heute auf dem Gebiet der ehemaligen Froschlacken etwas studieren wollte, dann vielleicht, dass eine umgesetzte Utopie zwar nicht gleich in ihr Gegenteil kippen muss, aber von Anstrengung und Ernüchterung begleitet wird; die Anstrengung der langen Arbeit, eine Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen, und der ernüchternden Ahnung, wie sich die gewünschten Absichten in ihr Gegenteil verwandeln könnten. Ein Stimmungsfirnis, der über den Schöpfwerkgründen gelegentlich anzutreffen wäre.

Während ich für Stunden treppauf und treppab durch Gänge und Atrien streifte, ohne jemals den Gebäudekörper zu verlassen, fühlte ich mich wie der übermächtige Hausmeister. Mit einem riesigen Schlüsselbund gerüstet, der Einzige, der dieses Systemim Gleichgewicht halten konnte. Die Geräusche wurden mir vertraut und in Nuancen unterscheidbar. Das nächtliche Rumoren in der Wohnung störte mich kaum noch. Ich stellte mir dann vor, dass es die Größe war, die zu sprechen anfing und sich mit meinen Träumen verband, ein nicht endender Gedankenstrom aus dem Betonbauch der Anlage.


Wärmedämmplatten decken nach und nach alles zu, und die Anlage erstrahlt im feierlichen Styroporkleid. Der Uringeruch auf Stiege 14 bleibt nach dem Anstrich fast verschwunden. Die Renovierung des Nordringes wird noch heuer abgeschlossen sein, jeder freie Zentimeter mit Taubenstacheln bestückt. Ein zweites Leben beginnt für das Demonstrativbauvorhaben, ohne Titelseiten und Fachzeitschriften. Die Marmorinschriften werden weniger hochtrabend ausfallen.

Auch meine Zeit dort ging zu Ende. Ich hatte um Aufnahme gebeten, atmosphärischen Anschluss gesucht: Ein Gleicher unter Gleichen wurde ich nicht, aber wer kann das schon von sich behaupten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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