Die Kuh, die dir Fragen stellt

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Viehische Maschinen, die Milch, Eier, Fleisch im Akkord produzieren. Tierklumpen mit Kleinsthirn, schmerzunempfindlich, leidensunfähig. Mithilfe der Gentechnologie können sie Realität werden.

Wir denken uns eine Kuh, vier Beine, Rumpf und Kopf, das Euter. „Eine Milchkuh?“,fragt Arianna Ferrari, Institut für Technikfolgeabschätzung und Systemanalyse ITAS, Karlsruher Institut für Technologie KIT, auf dem Tisch einen Apfel, nicht mehr frisch. 100 Kilo Milch am Tag, viermal automatisch gemolken! Ferrari, Dr. phil., wadenhohe Stiefel aus künstlichem Leder, nippt vom Grüntee und spricht: „Die Logik der Ausbeutung.“

Die Kuh, die wir uns denken, hat weder Namen noch Rang, nur eine Nummer, .230849-012-G, sie steht draußen vor der Tür, Campus Nord, Gebäude 0451, stumm und klaglos: ein Tier vom Typ AML. „Aha“, knurrt die Tierphilosophin aus rotem Mund. AML bedeutet Animal Microencephalic Lumps, Tierklumpen mit Kleinsthirn. „Eine AML- Höchstleistungsmilchkuh, frei von jedem Problem!“, sagt Dr. Ferrari und versucht zulächeln.

Den Begriff AML setzte der Philosoph Gary L. Comstock in die Welt, 1992, North Carolina State University: Tiere, reduziert auf den Nutzen, den sie der Menschheit bringen, gentechnisch verändert bis zur Leidensunfähigkeit. AML-Legehennen, zum Beispiel, hätten, weil sie die nicht mehr bräuchten, weder richtige Beine noch Flügel, noch Federn, sie wären blind und taub und regungslos, legten nur Ei um Ei, jenseits jeder Empfindung. Oder: AML-Schweinen, unfähig zu leiden, könnte regelmäßig Fleisch aus dem Leib geschnitten werden, das, bei guter Versorgung mit Nährstoffen, wieder nachwüchse. Noch gibt es sie nicht, noch bevölkern sie erst die Gedankengänge einiger Philosophen. Mittlerweile, sagt Ferrari an ihrem Tisch, neben dem Apfel ein Buch, „Müssen Ethiker moralisch sein?“, mittlerweile mache bereits ein weiterer Begriff die Runde, weniger eindeutig, weniger belastend, Animal Disenhancement for Animal Welfare, Verminderung der Fähigkeiten von Tieren zum Zweck, ihr Wohlbefinden zu schützen. – Unser Gedanke, Nummer .230849-012-G, steht vor der Treppe und käut wieder: Frau Ferrari, dieser Kuh geht es doch gut! Ferrari holt Luft: „Es geht ihr weder gut noch schlecht, sonst wäre sie keine AML-Kuh.“ Ist das verwerflich?

Vor 13.700.000.000 Jahren – 13,7 Milliarden Jahren – sammelte sich eine unvorstellbare Menge Energie auf allerwinzigstemRaum, der vielleicht nicht weiter war als das Hundertstel des Durchmessers eines Punktes auf dem Buchstaben i. Dieser Punkt blähte sich plötzlich, als wäre er ein Ballon, zu kosmischer Dimension auf, undenkbar schnell: der Urknall. In weniger als dem Billionsten Teil einer Sekunde wandelte sich diese Energie in Materie, das Universum war gezeugt, ein Chaos aus Teilchen und Strahlen, noch sehr dicht und noch sehr heiß, milliardenfach heißer als das Innere unserer heutigen Sonne. Schwere und flüchtige Materieteilchen zerfielen praktisch sofort in leichtere, stabile, in sogenannte Elektronen und in sogenannte Quarks: Elektronen und Quarks sind der Rohstoff der Welt, aller Sonnensysteme, der Sterne, der Erde, kein Leben ohne sie, kein Mensch, keine Kuh, keine Moral.

Jedoch, vor zwei Millionen Jahren erst, 13.698 Millionen Jahre nach der Entstehung der Welt, wuchs – neben unzähligen anderen – ein Wesen heran,Homo erectus, Homo sapiens, ausgestattet miteinem großen Hirn, dassich daranmachte, seine Mitkreatur zu nutzen, erfolgreicher als jede andere Art, seit dem Sommer 1973 auch durchdie Veränderung dessen, was während Äonen entstanden war, des Erbguts, der Gene: der Sekundensieg über die Evolution.

Jetzt dreht sie den Kopf ins Licht und hört zu kauen auf, sie dreht den Kopf zurück, öffnet das Maul, schiebt ihre lange graue Zunge ins rechte Loch der Nase: Dieser Kuh geht es doch glänzend! Ferrari lächelt.

Das Rind und die Erbse haben ein beinahe identisches Gen, Histon-H4: Was auf diesem Planeten lebt, ist miteinander verwandt. Gene – also Ausschnitte aus der Erbinformation, DNA genannt, Desoxyribonukleinsäure – lassen sich deshalb, zumindest theoretisch, aus dem einen Organismus beliebig in einem anderen unterbringen, auf eine Weise, dass das manipulierte Wesen die neue Eigenschaft annimmt und seinen Nachkommen vererbt.

„Oder die Veränderung geschieht dadurch, dass ein Gen ausgeschaltet wird, knock-out“, sagt Ferrari im Büro 317b, blauer PVC, Neon, an der Wand ein Poster, Landschaft mit vier Bäumen, Egon Schiele, 1917, gegenüber ein Schild, Hochspannung Vorsicht Lebensgefahr.

Knock-out-Mäuse gibt es im Jahr 39 der Gentechnologie in verschiedensten Modellen: furchtlose Mäuse, die mit Katzen schmusen, weil sie deren Geruch, der Lebensgefahr bedeutet, nicht mehr alarmiert, nackte Mäuse, fast schmerzunempfindliche Mäuse, die nicht merken, wann sie sich verletzen, intelligente Mäuse, die unter chronischen Schmerzen leiden und überängstlich sind, Zombiemäuse, die keine mäusetypischen Anzeichen von Bewusstsein zeigen, nackte Mäuse, schizophrene Mäuse, Schwarzeneggermäuse, 30 Prozent kräftiger als ihre unveränderten Genossen. Im Jahr 2006 habe man errechnet, schimpft Arianna Ferrari in den frühen Karlsruher Abend, dass mehr als sieben Millionen Versuchsmäuse notwendig wären, mehr als sieben Millionen!, um für jedes der 25.000 Gene der Maus ein Knock-out-Modell herzustellen. „Und dies ist das Ziel eines Projekts der National Institutes of Health in den USA, www.knockoutmouse.org“, sagt Ferrari, verwirft ihre schmalen Hände, zwei breite Ringe daran, und schweigt.

Unsere Kuh da draußen sieht nicht anders aus als eine heutige! Jetzt geht sie einige Schritte, bleibt stehen, öffnet das Maul, rollt die Zunge, dreht den Kopf ins Licht und wartet auf nichts, AML. Eine Kuh im Koma.

Wenn der Mensch sich schon Nutztiere halte und diese darunter litten, wie er dies tue, dann sei es wohl im Interesse gerade dieser Tiere, dass ihr Leiden – kraft Gentechnologie – minimiert oder verhindert werde, meinen jene, die die Produktion von Tierklumpen mit Kleinsthirnen für erwägenswert halten. Die Herstellung eines leidensunfähigen Tieres sei ethisch neutral, schrieb der Philosoph Bernard E. Rollin, Colorado State University, 1995, weil die Vertretbarkeit der Handlung im Hinblick auf die tatsächlichen Konsequenzen für das Wohlergehen des existierenden Tieres zu bestimmen sei und nicht in Bezug auf die Handlung als solche. Ein Ersatz der herkömmlichen Nutztiere durch transgene – also gentechnisch veränderte – und leidensunfähige Tiere sei dem Status quo vorzuziehen, so Adam Shriver, Washington University St. Louis, 2009.

Frau Ferrari? Sie fährt sich schnell durchsschwarze Haar, schlägt ein Bein über das andere, langes Kleid aus grauem Fleece. Sie kritisiere ja nicht die Biotechnologie per se, überhaupt nicht. Denn es seien in der Tiermedizin auch Projekte am Laufen, tatsächlich mit dem Zweck, das Wohlergehen des Tieres zu sichern: und nicht dessen Nutzung durch den Menschen. „Was ich kritisiere, ist: dass man die ersten Fragen nicht stellt.“

Die lauten? „Unter welchen Bedingungendarf der Mensch Tiere nutzen? Tiere haben keine fundamentalen Rechte, kein Recht auf Leben, keines auf Freiheit.“ Ferrari gießt Tee nach, so heftig, dass es spritzt. „Darf der Mensch Tiere einfangen, sie einsperren, anketten? Darf er einer Kuh die Milch nehmen, die eigentlich ihrem Kalb gehört? Darf er das Kalb trennen von der Mutter?“

Die meisten aber, die nun das Szenario von AML entwürfen, keine Unmenschen, nein, ernsthafte Ethiker, nette Kollegen, die alle setzten bereits voraus, der Mensch habe fraglos das Recht, ein Tier zu benützen. „Und das, ehrlich gesagt, diese Logik der Macht, die ärgert mich sehr“, sagt Dr. phil. Arianna Ferrari und schlägt die Hand auf den Schenkel, 35-jährig, geboren in Cremona, Stadt von Stradivari und Guarneri, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Technikfolgeabschätzung und Systemanalyse ITAS, Karlsruher Institut für Technologie KIT, 76344 Eggenstein-Leopoldshafen, es ist Abend.

Nummer .230849-012-G, hornlos, das Euter prall und tropfend, steht vor Gebäude 0451, Campus Nord, sie schaut hinauf zu Büro 317b, zweites Stockwerk, sie öffnet das Maul, spielt mit der Zunge und steht und wartet und dreht den Kopf ins Licht, Animal Microencephalic Lumps, Animal Disenhancement for Animal Welfare, unsere Kuh im Koma, vielleicht, wenn sie träumen könnte, träumte sie jetzt von der Zeit, da sie noch gehen konnte, Tausende von Metern, sie hatte einen Namen, Arcadia.

Arcadia steht im Stall, zweimal täglich wird sie gemolken, zweimal 30 Liter, am Morgen etwas mehr, der Bauer ist zufrieden, manchmal krault er ihre Stirn, ist gut zu ihr. Aber einmal, sie war noch Kalb, vielleicht drei Wochen alt, trieben zwei Männer sie in eine Ecke, ein dritter, der Bauer, stellt sich über sie, packt sie am rechten Ohr, dann setzt er den Thermokauter an, ein heißes Gerät, das einem Lötkolben gleicht, hält es auf ihren Schädel, dreht den Kolben ins Lebendige, bis dort, wo vorhin noch Horn war, ein rundes Loch klafft, Arcadia windet sich vor Schmerz. Dann brennen sie auch das linke Horn aus.

„Das ist die Realität“, sagt Arianna Ferrari, in der Hand die Tasse, darauf, beide tanzend, Mowgli und Baloo aus dem Dschungelbuch. „Und diese Realität hat die Vorstellung von komatösen Kühen ja erst geboren.“

Rinder, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, sprechen mit Rindern durch die Haltung ihres Körpers, vor allem des Kopfes und der Hörner, so noch vorhanden. Ein Rind ist fähig, 150 andere Rinder zu unterscheiden. Manche Kühe haben Freundinnen, die sie selbst nach einem halben Jahr der Trennung sofort wiedererkennen. Freundinnen sind in der Lage, einander zu bedeuten, wo sie geleckt werden möchten, manchmal an so verletzlichen Stellen wie dem Auge. Sonst aber gehen Kühe auf Distanz, bewahren sich einen Raum von drei, vier Metern. Konflikte lösen sie durch Drohen und Weichen. Rinder, die noch Hörner haben, sind dabei sprachlich im Vorteil. Untersuchungen zeigen, dass enthornte Kühe, eines ihrer Ausdrucksmittel beraubt, sich vier- bis achtmal häufiger puffen und stoßen als solche, die Hörner haben: Stress. Allerdings braucht der Bauer, der Kühe mit Hörnern hat, einen größeren Stall als der, der hornlose hat: Das kostet.

Frau Ferrari, darf der Mensch nun Tiere grundsätzlich nutzen oder nicht? Sie dreht sich zum Fenster, schaut vorbei an der lila Orchidee, sieht die Kuh, die wir meinen, ruhig steht sie in der Blankenlocher Straße, spielt mit der Zunge und steht und wartet und dreht den Kopf ins Licht, rollt die Zunge, schlägt sie hoch und steckt sie ins linke Loch der Nase. „In unserer Gesellschaft: ja – der Mensch darf! Aber an sich: Mit welcher Begründung soll der Mensch dies dürfen?“ Denn sie, Ferrari, verbiete sich jeden Speziesismus, jede Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Spezies. Die Spezieszugehörigkeit werde also zum Kriterium für die ungleiche Behandlung von Lebewesen. „Das Prinzip der Gleichheit besagt: Gleiches ist gleich zu behandeln. Speziesisten aber meinen, die Zufügung von Leiden an leidensfähigen Lebewesen sei anders zu gewichten, je nachdem, ob dieses Leiden einem Menschen oder einem Tier zugefügt wird. Ich meine, leidensfähige Lebewesen haben ein Interesse, nicht zu leiden, unabhängig davon, zu welcher Spezies sie gehören. Das ist entscheidend!“

Klar, sagt Arianna Ferrari, das Rind habe den Menschen vielleicht erst sesshaft gemacht. Vor allem die Milchkuh, in manchen Gesellschaften noch heute heilig, sei mit der Geschichte der Menschheit sehr eng verbunden, gleichsam Teil ihrer Kultur geworden, es wundere sie deshalb nicht, sagt Ferrari, dass derzeit so viele gentechnische Projekte liefen, einige mit dem Ziel, aus dem Euter der Kuh eine Art menschlicher Milch zu gewinnen.

17 Jahre nach dem ersten, vergleichsweise primitiven Gentransfer durch menschliches Tun – zwei Amerikaner übertrugen ein Stück Erbgut von einem Bakterium auf ein anderes – blökte in den Wiesen hinter Edinburgh bereits das Schaf Tracy, Patentantragsnummer WO 90/05188, das in seiner Milch AAT ausschied, Alpha-1-Antitrypsin, ein Medikament gegen eine Lungenkrankheit des Menschen.

Mittlerweile, 2012, Jahr 39 der Gentechnologie, gibt es transgene Kühe, deren Milch mehr Kasein enthält als die Milch unveränderter Tiere: Kasein erleichtert die Herstellung von Käse und anderen Milchprodukten. Es gibt Kühe, deren Milch einen Wirkstoff gegen Milchallergie mitführt oder das antibakterielle Peptid Lysostaphin, das die Milchdrüsen, ständig überfordert, gegen die häufige Mastitis schützt, eine Euterentzündung durch das Bakterium Staphylococus aureus. Es gibt transgene Hühner, fast unfähig, die Vogelgrippe zu übertragen. Es gibt transgene Schweine, sogenannte Enviro-Pigs, die in ihrem Kot weniger Phosphat ausscheiden. Es gibt Schweine, gentechnisch so verändert, dass einige ihrer Teile in Menschen eingesetzt werden können, Xenotransplantation. Es gibt Schweine, die haben, damit ihr Fleisch den Menschen bekömmlicher ist, das Spinatgen FAD2 in sich. Auch transgene Zuchtfische gibt es längst, kälteresistent dank des Antifreeze Proteins AFP, auch Zuchtlachse, die schneller wachsen als unveränderte, AquAdvantage salmon, eingetragenes Warenzeichen.

An die 100 Kilo fließen heute täglich aus einer Höchstleistungsmilchkuh, durch Zucht dazu gezwungen, angetrieben mit Gras, Kraftstoff, Palmöl, Kokosfett aus Übersee. Damit im Euter einer Kuh nur ein einziger Liter Milch entsteht, müssen innerhalb von 24 Stunden 400 Liter Blut die Drüsen passieren, bei 100 Liter Milch 40.000 Liter Blut, Tag um Tag, eine Laktation lang, 305 Tage. Ihre vier Zitzen sind so gezüchtet, dass sie in die Becher der Melkmaschine passen, nicht zu lang, nicht zu dick, aber so weit offen, dass sie in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Milch entlassen, bis zu acht Liter in der Minute.

Dr. Ferrari krümmt sich zum Computer, schreibt, wartet. „2010 wurden, erfasst von der FAO, der Welternährungsorganisation, weltweit 720.980.007 Tonnen Milch produziert, 599.615.097 Tonnen davon aus Kühen. Wollen Sie wissen, was hier sonst noch steht?“ 320 Millionen geschlachtete Rinder und Büffel im Jahr 2010. 1,2 Milliarden Kaninchen. 1,375 Milliarden Schweine. 2,7 Milliarden Enten. 55 Milliarden Hühner. 1,2 Billionen Eier.

Kühe, die der Mensch säugen lässt, erkennen säugenderweise, wie es gesundheitlich um ihre Kälber steht. Rezeptoren im Innern der Zitzen prüfen ständig den Speichel des trinkenden Kalbes. Stellen die fest, dass das Kalb von einem bestimmten bakteriellen Infekt befallen ist, reichert die Kuh, bereits nach zwei, drei Stunden, ihre Milch mit einem Gegenmittel an, Immunoglobulin.

Tiere haben eine Würde. „Das ist heute, zumindest in der westlichen Gesellschaft, unbestritten, manche reden von Integrität, in der Praxis bedarf beides der Interpretation“, sagt Dr. phil. Arianna Ferrari in ihrem Büro, Pflanzen im Rücken, Pflanzen auf dem Sims, daneben ein Stapel Bücher, „Lexikon der Globalisierung“, „Medizinrecht“, „Autonomie und Ethik“. Was, Frau Ferrari, bedeutet Ihnen des Wort „Schöpfung“? Sie glaube nicht, sagt sie schließlich, dass alles, was naturgegeben sei, an sich gut und vollkommen sei. Erst wir Menschen, fähig zu moralisieren, begriffen Situationen und Handlungen als gut oder als schlecht. „Ich denke nicht, dass etwas heilig ist nur deshalb, weil es sich so entwickelt hat, nein.“ Ihr Handy klingelt. „Aber man muss begründen, warum wirMenschen etwas verändern wollen.“ Und sei es durch herkömmliche Züchtung? „Genau!“ Denn selbst wenn das Züchten von Tieren eine Konstante der menschlichen Kultur sei, so bedeute, sagt Ferrari, Vegetarierin seit 15 Jahren, Veganerin seit über vier, so bedeute Züchtung stets Selektion und Optimierung von tierischen Merkmalen im Hinblick auf menschlichen Konsum. „Ich bin Antispeziesistin, ganz klar.“ Gentechnologie, Frau Ferrari, ist die Steigerung von Züchtung? „Die Logik ist heute meist die gleiche. Die Auswirkung keineswegs.“

In Wahrheit kennt der Mensch,wenn er Gene von einem Lebewesen auf ein anderes überträgt, weder den genauen Ort der sogenannten Insertion, der Einpflanzung, noch die Anzahl der Moleküle, die eingebaut werden. Im Genom, dem Erbgut des manipulierten Wesens, kann es geschehen, dass die Information sich neu ordnet, dass einzelne Gene ausgetilgt, verdoppelt oder verschoben werden. Das Risiko, auf diese Weise unbekannte Übel zu schaffen, indem man bekannte entfernt, wiegt umso schwerer, als der Mensch weiß, dass manche Erbkrankheiten oft über mehrere Generationen hinweg verborgen schlummern, bevor sie ausbrechen. In Wahrheit ist es dem Menschen, Homo neoliberalis, bis heute nicht gelungen, ein kommerziell erfolgreiches transgenes Nutztier zu schaffen.

Die Kuh Arcadia hatte einmal eine Freundin, die große Rote. Waren sie auf der Weide, stellten sie sich nebeneinander, nicht Kopf an Kopf, sondern umgekehrt, leckten einander, wedelten einander mit dem Schwanz die Fliegen aus dem Gesicht. Doch eines Tages, als Arcadia nicht mehr trächtig wurde, sagte der Bauer: Mädchen, adieu!

Die Nutzungsdauer einer europäischen Milchkuh, die Zeit zwischen der Geburt ihres ersten Kalbes bis zu ihrer Schlachtung, betrug 1965 sechs Jahre, heute dreieinhalb. Früh verbraucht, anfällig für Krankheiten, oft unfruchtbar geworden, trifft sie ihren Metzger zu einer Zeit, da ihr Wachstum eben erst vollendet ist, mit fünf Jahren, am Ende ihrer Jugend.

Letzte Frage: Gehört die Fähigkeit, Angst zu haben, sich unwohl zu fühlen, zu leiden, zur Würde eines Tieres? „Ja!“, sagt Arianna Ferrari. „Unbedingt!“ Denn jedes Lebewesen sei holistisch zu betrachten. Umfassend, ganzheitlich! Weil nicht nur positive Stimuli das Leben eines Tieres ausmachten, sondernauch negative – selbst wenn jetzt manche Antispeziesisten, vielmehr sogenannte Transhumanisten, keine Unmenschen, ernsthafte Ethiker, nette Kollegen, meinten, es sei geradezu die moralische Pflicht des Menschen, andere Spezies am Segen der Gentechnik zu beteiligen, auf dass das Leiden aus dieser Welt verschwinde, Raubtiere nicht mehr rauben und Menschenaffen endlich sprechen.

Es ist längst dunkel, kalter Wind weht durch die Blankenlocher Straße, Campus Nord, vor Gebäude 0451 käut .230849-012-G wieder, Elektronen und Quarks, stumm, klaglos, aber fähig, Milch und Fragen auszuscheiden, kübelweise, mehr denn je. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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