Zu Befehl!

Der deutsche Theaterfeldwebel Stemann erteilt dem österreichischen Dramatiker Turrini Anordnungen. Aus diesem Anlass ein flüchtiger Blick auf den deutschen und den österreichischen Sozialcharakter.

Der Deutsche ist ein weltlüsterner Nationalist, der Österreicherhingegen chauvinistisch undweltverdrossen. Der Chauvinist ist nicht besser als der Nationalist, er ist anders. Ihn kümmert die Weltnicht, da sie ihm ohnedies gehört. Und was einem gehört, muss man nicht erobern, auch nicht verteidigen.

Dem Österreicher war die Welt immer zu groß. In der Monarchie schätzte er die Randländer nur insofern, als das, was aus ihnen herausgepresst wurde, dem Zentrum zufloss. Heute ist es nicht anders, die ehemaligen Randländer sind selbstständig, nichtsdestoweniger hat Österreich sie ökonomisch im Würgegriff.

Dem Deutschen war die Welt immer zu klein. Er verdankt zwar der Kleinstaaterei eine Blüte der deutschen Literatur, recht ist ihm das aber nicht. Er sähe es lieber, Goethe wäre mit Bismarck auf Kur gewesen und nicht mit Beethoven. Wem die Welt zu klein war, dem bleibt sie zu klein. Er unternimmt Eroberungszüge, zuerst militärische, später wirtschaftliche, kann aber, was er erobert, nicht behalten. Das hat er nie gelernt.

Der Österreicher, dem die Welt tatsächlich einmal gehörte, betrachtet den Gebietsverlust als Gewinn, denn jetzt erst, im Kleinstaat, kann er ungestört genießen, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Adorno erzählte im Operncafé, wie er, in den Zwanzigerjahren nach Wien gekommen, um bei Alban Berg Musik zu studieren, dem Meister gestand, von Wien aus Kontakt suchen zu wollen zu Leuten, die sich in Budapest und Pragin Neuer Musik versuchen. Berg schaute ihn verständnislos an. Neue Musik gab es nur in Wien.

Der Nationalist findet an der Welt nicht Genüge, der Chauvinist ruht in seiner Welt. Er beruft sich auch nicht, wie ihm unterstellt wird, auf die Geschichte, er muss sienicht einmal kennen.Denn er verkörpert sie. Der Nationalist ist geschichtslos, er erfindetfür sich eine Heldengeschichte, die immereine Leidensgeschichteist. Und macht er sichschuldig, leidet er umso mehr. Er kommt nicht zur Ruhe und wird immer aggressiver. – Der Chauvinist ist, wie man am Österreicher sieht, prinzipiell unschuldig. Er ist ebenso verbrecherisch wie sein Kompagnon, der Nationalist, begeht aber die Verbrechen kaltblütig und ohne missionarischen Eifer, weshalb er nicht nur gelassen, sondern geradezu gemütlich wirkt. Er ist sogar beliebt. Für den Nationalisten ein Grund mehr, wütend zu sein.

In diese österreichische Welt kommt der deutsche Theaterregisseur Stemann, im Tornister Pläne für eine neue Willkürherrschaft, welche die alte Herrschaftswillkür ablösen soll. Er tritt als Theaterfeldwebel auf, der weiß, wie er sich am besten Gehör verschafft:indem er hinausschreit, dass fortan nur die eigene Anordnung gilt. Das hört sich schon deshalb komisch an, weil ein Feldwebel immer eine komische Figur ist. Man sagt: Zu Befehl, Herr Feldwebel, geht weg und lacht über ihn.

Niemand aber tritt ihm in Wien gegenüber und lacht ihn aus, da der österreichische Chauvinist sich in seiner Ruhe nicht stören lässt, sondern sich denkt, dass das Unglück geht, wie es kommt. Stemann jedoch braucht ein wirkliches Gegenüber und findet es nach langem Suchen in der Person des Dramatikers Peter Turrini. Der schreibt nicht nur Stücke, sondern hat über seine Kunst und den Umgang mit ihr im Theater einiges zu sagen.

Turrini hat sich in einer Rede und in Interviews dagegen verwahrt, dass Regisseure in Theaterstücken nach Belieben herumfuhrwerken, und gemeint, am Theater solle doch eine Arbeitsteilung gelten wie im übrigen Arbeitsleben: Man legt fest, wer was macht, wer wofür zuständig ist. Der Autor fürdas Stück, der Regisseur für die Inszenierung. Turrini hätte diese einfache Einsicht nicht ausgesprochen, hätte er nicht beobachten müssen, dass Regisseure sich nicht nur hier und da, sondern geradezu systematisch nicht daran halten. Seine Rede war ein Protest.

Das kommt dem Feldwebel gelegen. Denn wie seinem militärischen Vorbild der Mensch im Krieg Material ist, ist ihm im Theaterkrieg auch das Theaterstück nur Material. Sein Material. Schreiben ist passé, Umschreiben an der Tagesordnung. Und Umschreiben setzt voraus, dass man nicht schreiben kann – wie an dem Text, den Stemann dieser Tage in der Zeitschrift „profil“ gegen Turrini verfasst hat, abzulesen ist.

Angenommen, in einem Theaterstückfände sich der Satz: „Ich merke, wie müde ich es bin, so etwas ständig kommentieren zu müssen.“ Stemann hätte den Satz, folgt man seinem Text in der Zeitschrift, dieserart umgeschrieben: „Ich merke, wie müde ich bin, ständig so etwas kommentieren zu müssen.“ Es ist verständlich, dass Stemann müdeist von seinem Kampf um die Oberhoheit am Theater. Auch ich bin es müde, zu betonen, dass das Umschreiben voraussetzt, dass mannicht schreiben kann.

Der umschreibende Stemann, der esnicht zum schreibenden Dramatiker gebracht hat, schreibt: „Er hat meinen vollsten Zuspruch.“ Schriebe er diesen Satz in ein Stück, stünde der Autor nicht nur als Volltrottel, sondern als Vollsttrottel da. Das wäre allerdings eine jener sprachlichen Bereicherungen, welche das an Schimpfwörtern armeÖsterreichisch dringend braucht.

Seit die Wirtschaft in Deutschland stagniert, weil zu viele Deutsche in Griechenland in der Sonne liegen und den Griechen argwöhnisch beim Nichtstun zuschauen, gehen die wenigen fleißigen Deutschen, die es noch gibt, verbittert nach Österreich, wo sie gleichwohl freundlich aufgenommen und in der Gastronomie als Kellner oder am Theaterals Regisseure beschäftigt werden, in der Gastronomie die mit guten, am Theater die mit schlechten Deutschkenntnissen.

Kennt man seinen Leidensweg, versteht man Stemann besser. Wer sich mit der Sprache schwertut, greift zur Phrase, die er so lange drischt, bis der Unsinn den Klang von Sinn annimmt. Stemann verkündet: „Wer fürs Theater schreibt, schreibt fürs Theater.“ Allerhand. Das wusste man bislang nicht. Man weiß allerdings, dass hinter der Tautologie stets die Diktatur lauert. Stemann will sagen: Wer fürs Theater schreibt, schreibt fürsTheater. Und das Theater bin ich. Und er verleiht der Anmaßung Bedeutung, indem er denSchlachtruf brüllt: „Denn gekämpft werden muss immer.“ Und zwar solange, bis Stemann gesiegt hat. – Er führt allerdings keinen einsamenKampf, sondern partizipiert von einem internationalen Trend. Der wirkliche Kampf ist der zwischen Kunst und Kunstgewerbe. Er wurde zu allen Zeit geführt; selten hat ihn die Kunst gewonnen. Zurzeit liegt die Kunst einigermaßen zerschunden auf dem Boden. Sie hat aber nie aufgegeben und wirddas auch jetzt nicht tun. Sie hat unzählige Diktaturen überstanden, sie wird auch die gegenwärtige Diktatur der Kunstgewerbler überleben.

Es ist eine dramatische Auseinandersetzung. Die gegenwärtige Ökonomisierung vonallem und jedem, die pathologische Züge annimmt und das Innerste der Menschen erfasst, und der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug des Kapitals haben eine Horde vonKunstgewerblern hervorgebracht, die sich dem Kapital andienen mit dem Versprechen,Kunst zu jenem beliebigen Dreck zu machen,mit dem die Wirtschaft, die sich als Sauwirtschaft herausstellt, die Welt überschwemmt.

Der Grund des gegenwärtigen Kampfes der Kunst gegen die Kunstgewerbler ist ebenso einfach zu erklären wie schwer zu verstehen: Kunst war und ist diejenige Ware, die den größtmöglichen Gebrauchswert repräsentiert. Das Kunstwerk, Inbegriff dieses Bemühens, begibt sich auf den Markt und demonstriert dort den Menschen, dass es nicht nur auf den Warencharakter eines Gegenstandes ankommt, jenen Warencharakter, der die Menschen um den Gebrauchswert betrügt.

Das ist die materialistische Ursache jenermaßlosen Wut der Mächtigen gegen eine Kunst, die alles andere als mächtig ist. Dasgelungene Kunstwerk folgt einer strengeninnerkünstlerischen Ökonomie, deren Strenge dem Ziel geschuldet ist, für den Gebrauch da zu sein, den Menschen zur erkenntnisreichen Freude und zur freudigen Erkenntnis. Das Kunstwerk ist der Widerpart der gebrauchsentleerten Ware, welche die Menschen anleitet zu Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen, die sie produzieren und kaufen, was in Gleichgültigkeit und Verachtung ihrer selbst endet.

Die gegenwärtige Offensive der Kunstgewerbler orientiert sich an einer Wirtschaft, die, geleitet von der wahnhaften Doktrin, sie müsse wachsen, Waren produziert mit minimalem Gebrauchswert, damit auf der Grundlage von unbrauchbarem Schrott nochmehr unbrauchbarer Schrott produziert werden kann.

Wie man aus Kunst Schrott macht, ist die einzige geistige Frage, welche diese Gesellschaft beschäftigt. Da die Kunst freiwillig nicht mittut, muss ein Geschäftszweig geschaffen werden, der die Drecksarbeit erledigt, angeführt von Kuratoren, Museumsleitern, Dramaturgen, Kulturjournalisten, Literaturvermittlern, Arrangeuren, Festivalbetreibern. Von außen sieht dieses Geschäft aus wie ein traditioneller Kulturladen, der schon von Weitem nach Moder stinkt, tatsächlich aber handelt es sich um ein bis zur Erschöpfung umtriebiges Management, das seine alte Funktion behäbigen Verwaltens verloren hat und, ums Überleben kämpfend, ganz in der neuen Funktion aufgeht, die Kunst geschäftstüchtig niederzumetzeln.

Die wahren Sensenmänner aber, die Herren der Zeit, sind die neuen Kunstgewerbler, die sich, von gesellschaftlicher Macht gestützt, an die Stelle der Künstler setzen. Der alte Kunstgewerbler, zum Beispiel der Herrgottschnitzer, hatte eine Vorlage, die er meist von den Altvorderen übernahm und bis ans Ende seiner Tage reproduzierte. Der neue Kunstgewerbler arbeitet anders. Da er über keine handwerklichen Fähigkeiten verfügt, könnte er niemals einen Herrgott schnitzen.

Er nimmt eine simple Vorlage, die ertechnisch leicht vervielfältigen kann, eineLicht-, eine Ton-, eine Wortinstallation, und legt ihr einen Zettel bei, auf dem steht, was dieses Ereignis zu bedeuten hat. Im Kunstereignis, dem Event, stecken Bruchstücke aller Künste. Es ist ein Gesamtkunstwerk, indem das Wagnersche endlich zu sich kommt. Wagner probierte aus, wie Musik als Massensuggestion funktioniert. Noch gab es eine Parallelität von Musik und Propaganda.

Die fällt heute weg. Musik versinkt in Eintönigkeit, der gegenüber das Immergleiche der alten Unterhaltungsmusik abwechslungsreich wirkt. Den andern Künsten widerfährt das Gleiche. Die Botschaft lautet: Wir haben nichts zu bieten, und das ist nicht nur gut so, dieser Zustand soll auch unaufhörlich gefeiert werden. Da das Leben außer der Arbeitsmühsal wenig bereithält, soll das in der Kunst nicht anders sein. Das zustande gebracht zu haben ist ein historisches Verdienst der Kunstgewerbler.

Das neue Kunstgewerbe wäre nichts ohne das neue Publikum, das ihm zuläuft. Frustriert durch Großkaufhäuser zu latschen, um in der Freizeit die Dumpfheit des Arbeitslebens ohne Bruch fortzusetzen, das ist nur Beginn städtischer Vergnüglichkeit. Sie setzt sich fort, abermals ohne Bruch, im Bummeln oder im Verweilen in den Museen, Galerien, Theatern, Kunsthäusern, Literaturhäusern, Alternativhäusern. Fehlen nur noch die Scheißhäuser. Stemann bedient dieses neue Publikum. Er tut, als mache er im Theater, was er will, in Wahrheit macht er, was das neue Publikum will.

Der Kapitalismus hat nicht nur die Arbeiterklasse aufgerieben, er hat auch das Bürgertum, diejenige Klasse, die ihn einst getragen hatte, abserviert und durch Rackets, organisiertes Gangstertum, ersetzt. Hören Rackets das Wort Gesellschaft oder gesellschaftliche Interessen, brechen sie in Gelächter aus. So wie Stemann, wenn Turrini von einem Theaterstück spricht, mit dem man nicht nach Belieben umspringen sollte.

Ein Teil der Arbeiterklasse ist ins Kleinbürgertum aufgestiegen und bangt nun, in der Finanzkrise, um seinen Status. Ein anderer Teil sank ins Lumpenproletariat ab und füllt – nichts Neues – die Reihen der Faschisten. Ein Teil des Bürgertums rutschte hinunter ins Kleinbürgertum, formiert sich als Lumpenbourgeoisie und sucht sein Heil ebenfalls bei der extremen Rechten.

Dieses neue lumpenbourgeoise Kleinbürgertum bildet zusammen mit dem Kleinbürgertum der Arbeiter, das um sein Überleben zittert, jenes neue Publikum, das für die Kunstgewerbler wie geschaffen ist. Die Angst der einen und die Hoffnungslosigkeit der anderen erzeugen die Erwartung, es dürfe keineSphäre mehr geben, die nicht von Angst und Hoffnungslosigkeit bestimmt ist.

Die Kunst, der Menschlichkeit verpflichtet, unbeirrt an der Herausbildung des autonomen Individuums arbeitend, wird von diesem Publikum nicht als Bundesgenosse begrüßt. Stemann schon. Verunstaltet er ein Theaterstück, fühlen die von der GesellschaftVerunstalteten sich verstanden und gewürdigt. Das gibt Stemann Zuversicht und Kraft. Als Mann der Stunde ruft er Turrini zu: „Man reihe sich ein oder man lasse es bleiben.“ Dieses Goebbelssche Staccato ist legitim. Die Diktatur des Kapitals und die mit ihr verschwisterte Herrschaft der Kunstgewerbler hat faschistische Züge. In dieser Entwicklung reitet aber nicht das Kapital voran, sondern der schöngeistige Helfershelfer. Wäre esnicht so, es lohnte sich nicht, ein Wort über Stemann zu verlieren.

Die Ästhetisierung des Politischen war und ist die Wegbereitung für den Faschismus. Die Höllenfahrt beginnt mit der Ächtung der Kunst, sie gewinnt an Geschwindigkeit mit dem willkürlichen Eingriff ins Kunstwerk und setzt sich fort mit dessen Einebnung zum Amüsement. Und ist die Kunst heruntergebracht zum Freizeiterlebnis, ist sieauch schon Propaganda. Und das stets im Namen der reinen Kunst, dem ästhetischen Ideal des Kunstgewerbes. Denn Kunst ist alles Mögliche, nur nicht rein. Sie lebt von der Wechselwirkung von Form und Inhalt. Nimmt man ihr den Inhalt, verkommt die Form zur Dekoration. Nimmt man ihr die Form, bleibt als Inhalt eine Information, die man ohnedies aus der Zeitung kennt.

„Ich hoffe, wir haben das jetzt ein für alle Mal geklärt“, schreibt Stemann. Diesen Eindruck habe ich auch. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Stemann seinen Satz, der einiges Gewicht hat, auch zu heben vermag. Ein für alle Mal geklärt ist nur, dass Stemann wegen seiner schlechten Deutschkenntnisse nur Arbeit an einem österreichischen Theater fand. Sollte er einen Deutschkurs absolvieren, stünde ihm eine Karriere in der Gastronomie offen. Servierte er aber in seiner Selbstherrlichkeit jemandem, der einen Tafelspitz bestellt hat, einen Kaiserschmarrn, wäre abermals ein für alle Mal alles geklärt. Stemann müsste zurück ans Theater. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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