Zwischen Markt und Mission

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In jeder Medikamentenpackung steckt ein Beipackzettel zu den Nebenwirkungen. Und in der Wirtschaftspolitik? Wie sich Ökonomie seriös erklären lässt.

Was sagt man jemandem, der behauptet, der Mond besteht aus Emmentaler? Ein Physiker, eine Astronomin könnten vielleicht den Proponenten dieser Aussage in einen sokratischen Dialog verwickeln, der ihn von der Unrichtigkeit seiner Behauptung überzeugt. Und die anderen, die Fachfremden? Sie können nichts anderes sagen, als dass diese Behauptung der anerkannten Wissenschaft widerspricht. Deren Autorität wird angerufen. Und wenn dieser merkwürdige Proponent dann sagt: „Das ist eben die herrschende Lehre, aber sie ist falsch“, so wird man ihn als Spinner verabschieden. Diese Person hat sich als Gesprächspartner für einen Diskurs über Fragen der Physik disqualifiziert.

Die etablierten Aussagen der Physik sind nicht nur herrschende Lehre. Sie werden von allen bis eben auf wenige Spinner als Wahrheit akzeptiert, auch von jenen, denen die Qualifikation zu einem sachkundigen Urteil mangels Vorbildung fehlt. Natürlich gibt es viele innerhalb der Physik umstrittene Aussagen, und es gibt dabei auch Schulen. Aber die Naturwissenschaften bieten einen theoretischen Rahmen, um allseits anerkannte Entscheidungen bei strittigen Fragen zu treffen. Für die Wissenschaft von der Wirtschaft, der Ökonomie, gilt das nicht. Es gibt bei grundsätzlichen Fragen der Wirtschaftspolitik keine allgemein akzeptierte Theorie, die als Grundlage für zu treffende Entscheidungen dienen kann. Auch Aussagen vergleichbar der vom Mond aus Emmentaler werden in der Öffentlichkeit ausgiebig diskutiert und von Politikern verwendet – etwa dass durch eine Rückkehr zur Goldwährung die Wirtschaft stabiler wird, ohne dass dabei Verluste eintreten; dass uns wegen technischen Fortschritts die Arbeit ausgeht; dass Staaten genauso wie die schwäbische Hausfrau ihre Schulden zurückzahlen müssen.

Aber selbst wenn man den Kreis der ernst zu nehmenden Theorien enger zieht, etwa indem man sich beschränkt auf die an guten Universitäten unterrichteten und in entsprechenden Forschungsinstituten angewandten Konzepte, sieht man erhebliche Meinungsdifferenzen über die richtige Theorie. Wer mehr Umverteilung wünscht, kann sich auf wissenschaftliche Expertise stützen. Aber auch wer Umverteilung als großes Übel sieht, findet Wissenschaftler, die die entsprechenden Aussagen mit Fachkenntnis begründen.

Für fast alle relevanten wirtschaftspolitischen Überzeugungen findet man in der Profession anerkannte Ökonomen, die sie theoretisch vertreten. Die Wirtschaftsforschung kann offensichtlich politisch grundlegende Fragen nicht entscheiden. Das betrifft nicht nur spezielle Probleme aktueller Forschung – das gibt es in jeder Wissenschaft –, sondern die grundlegenden Frage: Welches Wirtschaftssystem wollen wir? Soll der Staat das Wirtschaftsleben regulieren? Und wenn ja, wie? Die Ökonomie hat nicht die Autorität, politische Gegner einer Maßnahme von der Richtigkeit ihrer Durchführung zu überzeugen.

Manchmal werden die Widersprüche der Empfehlungen mit unterschiedlichen Werten erklärt. Die einen sind mehr für Gleichheit, für geringere Arbeitslosigkeit und ähnlich nette Dinge. Für die anderen sind hingegen Freiheit und Wirtschaftswachstum zentral. Das spielt eine geringe Rolle. Ich kenne keine Aussagen von Ökonomen, nach denen Arbeitslosigkeit wünschenswert, Ungleichheit ein Ziel, eine hohe Inflation, geringes Wirtschaftswachstum, hohe Staatsschulden oder weniger Freiheit etwas Gutes sind. Da sind sich alle Ökonomen einig. Sie unterscheiden sich vielleicht bei der Gewichtung dieser anstrebenswerten Ziele. Uneinigkeit besteht aber vor allem darüber, ob und wie sehr die verschiedenen Zielsetzungen miteinander vereinbar sind. Ist ein hohes Maß an Gleichheit vereinbar mit steigendem Reichtum? Können die Schulden der Staaten reduziert werden, ohne die Arbeitslosigkeit stark zu erhöhen? Stehen genug Ersparnisse für Investitionen zur Verfügung, wenn Finanzmärkte reguliert werden? Da einschlägig ausgebildete Ökonomen sich nicht darauf verständigen können, was richtig ist, wie sollen es Personen ohne entsprechende Vorbildung können? Deren Verlangen, von Entscheidungen über Wirtschaftspolitik mit Argumenten überzeugt zu werden, ist nur zu verständlich. Schließlich hängt von den mit wirtschaftswissenschaftlichen Expertisen begründeten Entscheidungen viel für die Lebenssituation der Menschen ab – wie hoch die Einkommen sind, ob man arbeitslos wird, ob Vermögen erhalten bleiben. Es geht nicht nur um ein Ordnung bildendes Weltbild.

Das ist das zentrale Dilemma der Ökonomie. Jede Vorstellung von Demokratie wäre kompromittiert, würde man Entscheidungen zur Wirtschaftspolitik so den Fachleuten überlassen, wie es selbstverständlich ist, dass über die Wirksamkeit eines neuen Medikamentes oder die Gefährlichkeit eines neuen Kunststoffs von Fachleuten entschieden wird. Die Politik kann nur entscheiden, welche Risiken akzeptabel sind, aber nicht darüber, ob ein Medikament wirksam ist oder nicht oder wie gefährlich ein neuer Kunststoff ist. Das können nur Fachleute mit entsprechender Ausbildung. Bei Problemen der Wirtschaftspolitik hingegen muss über die Wahrheit von Aussagen der Ökonomie in einer breiten Diskussion entschieden werden.

Dass dabei oft Falsches oder auch Dummes gesagt wird, ist zwar unerfreulich, aber es ist schließlich die politische Diskussion, die Fragen an die Ökonomie richtet: Was kann man gegen Arbeitslosigkeit, Armut, hohe Inflation, Ungleichheit und andere Übel machen? Es ist keine Anmaßung, wenn Überzeugungen ohne Sachkenntnis vorgebracht werden, so wie es doch akzeptiert ist, dass mangelnde Kenntnis der Medizin gebietet, keine Aussagen zu machen, wie eine Operation durchzuführen ist. Es ist das Verlangen, in der Politik mitzureden.

Es gibt für die breite politische Diskussion der Wirtschaftspolitik eine entsprechende Flut von Publikationen. Bücher, Stellungnahmen und Kommentare von Fachleuten und Laien. Sie sagen, was zu tun ist. Bei den besseren ist das Argument wichtiger als die Parteinahme. Bei anderen wird in erster Linie die politische Zielsetzung als etwas Gutes angepriesen. Manche beruhen auf Aussagen mit der Qualität des Emmentaler-Monds. Nicht immer sind Erklärungen von guten Theoretikern besser als die von wissenschaftlichen Amateuren. Auch manche Nobelpreisträger sind eher Missionare für eine bestimmte Politik, als dass sie Zusammenhänge erklären.

Fast jede dieser Publikationen widerspricht den anderen. Man kann es sich aussuchen. Wer eine Abneigung gegen zu freie Märkte hat, wird prominente Autoren finden, die diese Abneigung mit Argumenten untermauern. Wessen Abneigung eher den staatlichen Eingriffen gilt, wird mit Argumenten für diese Position versorgt. Und wer auf eine andere Wirtschaftsordnung hofft, wird ebenfalls reichlich bedient. Die ohnehin Überzeugten werden bestärkt. Was sie auch immer sich zur Wirtschaft gedacht haben, wird durch Wissenschaftler gestützt.

Für die institutionalisierte Politik gilt dasselbe. Politiker suchen sich Fachleute nach ihrem Weltbild – man spricht von Ideologie. In dieses Weltbild passen bestimmte Resultate der Ökonomie besser als andere. Es gibt eben keinen Konsens wie in der Physik, auf den man sich berufen kann.

Dennoch, die wissenschaftliche Ökonomie ist kein Glaubensbekenntnis. Ihre Aussagen müssen Sätze sein, die in nachvollziehbarer Weise wahr oder falsch sind. Ein sokratischer Dialog ist prinzipiell möglich. Andernfalls wäre Ökonomie keine Wissenschaft, die bei zu treffenden Entscheidungen hilft. Sie wäre bestenfalls ein Schema zur Deutung der Welt ohne Bedeutung für Politik. Tatsächlich, es gibt ein von (fast) allen Ökonomen akzeptiertes theoretisches System. Man findet es in den Lehrbüchern, und es wird unterrichtet. Es besteht weitgehend aus Aussagen über Methoden zur Analyse konkreter Fragen. Aussagen, dass Marktwirtschaft das Beste ist oder dass bestimmte Eingriffe unerlässlich sind, sind sicher nicht Bestandteil dieses Systems. Jedenfalls genügt dieses theoretische System sehr oft nicht für die Begründung einer spezifischen Politik. So ist es etwa in der Ökonomie unumstritten, dass Steuern auf Einkommen das Arbeitsangebot beeinflussen, meist negativ. Nicht gesichert ist, ob der mit einer Erhöhung des Spitzensteuersatz um fünf Prozentpunkte verbundene Rückgang des Arbeitsangebots der entsprechenden Arbeitskräfte eine beachtenswerte Größe ist.

Ebenso wenig gibt es wissenschaftlich eindeutige Befunde darüber, was in einer bestimmten Situation anstelle einer solchen Erhöhung gemacht werden soll. Andere Steuererhöhungen? Ausgabenkürzungen? Keine Aussage in die eine oder die andere Richtung kann sich allein auf weitgehend akzeptierte Theorien stützen. Letztlich wird entschieden auf Grund eines unspezifischen Weltbildes: Im Zweifelsfall sind Ausgaben zu reduzieren oder Abgaben zu erhöhen. Entsprechend werden Berater ausgesucht und Gutachten angefordert.

Von der Ökonomie erwartet man klare Antworten auf Fragen der Politik. Einerseits-andrerseits-Aussagen werden verständlicherweise nicht geschätzt. Politiker müssen handeln. Es können nicht alle möglichen Folgen von Maßnahmen vor deren Implementierung genau wissenschaftlich analysiert werden. Wenn Arbeitslosigkeit droht, will man das verhindern. Wenn dem Finanzsystem ein Zusammenbruch droht, muss sehr rasch gehandelt werden. Aber die gesicherten Erkenntnisse der Ökonomie liefern das nicht.

Man hilft sich mit Vermutungen, die auch auf fundamentalen Weltbildern beruhen. Diejenigen, die an der Planung mitarbeiten, sind nicht nur Fachleute. Sie haben auch politische Überzeugungen, die sie mit allgemeinen Weltbildern begründen können. Das gilt im Besonderen für diejenigen, die bereit sind, in politischen Diskussionen mit Expertenwissen einzugreifen. Diese Bereitschaft kann man ihnen nicht vorwerfen.

Verwischt aber wird dabei oft die Unterscheidung zwischen wissenschaftlich weitgehend anerkannten Aussagen und den für die Begründung einer spezifischen Maßnahme sicher notwendigen, wenn auch strittigen Spezifikationen. In der rein akademischen Forschung werden wirtschaftspolitische Vorschläge viel vorsichtiger bewertet. Die Validität von Argumenten für oder gegen eine Politik wird sehr genau geprüft. Kaum einer wagt, mit der in der öffentlichen Politikbegründung üblichen Vehemenz für oder gegen eine bestimmte Maßnahme aufzutreten. Man weiß eben sehr genau zu trennen zwischen durch systematische Analysen fundierte Aussagen und solchen, für die man vielleicht vernünftige Argumente hat, für die es aber auch vernünftige Gegenargumente gibt.

Sobald der enge akademische Kreis verlassen wird, sind einige bereit, alle im engeren Forschungskreis akzeptierten Gegenargumente zu vergessen und mit missionarischem Eifer für eine bestimmte Politik zu werben. Man findet damit leicht Gehör, denn für das politische System ist es angenehm, mit Ökonomen zu arbeiten, die keinen Zweifel an geplanten Maßnahmen äußern. Sie sollen nicht bei der Entscheidungsfindung helfen, sondern die Entscheidungsbegründung mit dem Ruf des wissenschaftlich Gesicherten versehen.

Es sind nicht lässliche Sünden. Vielmehr können die Folgen katastrophal sein. Ein extremer Fall. Die alten Regulierungen der Finanzmärkte in den USA erwiesen sich ab den 1970er-Jahren zunehmend als problematisch. Manche schlossen daraus, dass jegliche Regulierung dieser Märkte mehr Probleme bringt, als sie löst. Diese Sichtweise hat sich politisch durchgesetzt. Die dafür gebrachten Argumente waren oft vernünftig. Sie stützten sich darauf, dass Regulierungen nur dann eine Situation verbessern, wenn erstens die Regulatoren mehr wissen als die Marktteilnehmer und wenn sie zweitens keine Eigeninteressen vertreten. Beide Aspekte müssen sehr ernst genommen werden. Über 20 Jahre hindurch hat das System recht gut funktioniert. Die Wirtschaft der USA hat sich stabil entwickelt. Aber letztlich führte es zu einer weltweisen Krise, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist.

Kein seriöses Fachjournal würde einen Artikel veröffentlichen, der mit der Aussage beginnt, dass jegliche Regulierung der Finanzmärkte von Übel ist, oder mit so einer Aussage endet. Tatsächlich gibt es viele Analysen über die Risiken, die von Finanzmärkten ausgehen. Manche Autoren entsprechender Studien sind in der Profession sehr anerkannt. Sie haben Lehrstühle an den besten Universitäten und publizieren ihre Arbeiten in sehr guten Journalen. Von der Politik wurden sie nicht angenommen. Es haben sich jene durchgesetzt, die diese Risiken nicht sehen wollten. Man stelle sich vor, es gibt plausible, durch Forschung gewonnene Hinweise, dass durch eine bestimmte Substanz eine Krankheit geheilt werden kann. Ohne weitere Analysen der Wirksamkeit, ohne Untersuchung der dabei auftretenden Gefahren wird diese Substanz breit verschrieben. Begründete Vermutungen über schädliche Nebenwirkungen werden verschwiegen. So haben Ökonomen gehandelt, die in den wirtschaftspolitischen Diskussionen missionarisch für freie Märkte eingetreten sind.

Notwendig ist ein Ethos, das zwingt, auf die durch eine befürwortete Politik entstehenden Probleme hinzuweisen. Der in jeder Medikamentenpackung steckende Beipackzettel muss in jedem Gutachten, in jeder Beratung mitgeliefert und veröffentlicht werden. Das nicht zu tun, soll ebenso in der Profession geahndet werden, wie ein Schwindel bei den Daten. Nur so kann erreicht werden, dass wirtschaftswissenschaftliche Begründungen für oder gegen eine Politik auch dem Inhalt nach akzeptiert werden und nicht nur, weil sie dem eigenen Vorurteil entsprechen. Nur so kann Ökonomie auch von Menschen ohne entsprechende Ausbildung akzeptiert werden als eine Wissenschaft, die bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen helfen kann. Wenn sich diese Haltung nicht durchsetzt, werden auch gut begründete Aussagen weiterhin wie Wahlplakate wahrgenommen – meine Weltsicht hat die besseren Ökonomen als jede andere Weltsicht. Aussagen wie die vom Emmentaler-Mond werden weiterhin vertreten. Manchmal sind sie sehr gefährlich. Dagegen hilft nur Aufklärung. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2012)

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