Venezuela: Was bleibt?

Jeder gegen jeden: Ohne Chavez fehlt eine Überfigur.

Nach dem Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez lärmen die theoretischen Ergüsse der Auguren des chavistischen Experiments. Was bleibt? Alles, prognostiziert Atilio A. Borón, argentinischer Intellektueller und loyaler Berater für Caracas, der eine irreversible Entwicklung des venezolanischen Wegs auszumachen glaubt. Nichts, rufen die bürgerlichen Oppositionellen, die vor allem das Versiegen der „misiones“, der zahlreichen, mit dem Erdölgeld finanzierten Sozialprogramme für die unteren Einkommensschichten erhoffen. Ernüchterung, predigt der gebürtige, aber längst in Mexiko domizilierte Deutsche Heinz Dieterich, der für Hugo Chávez den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ erdachte, eine Formel für ein alternatives gesellschaftliches System, das auf demokratischer Planung und partizipativer Demokratie beruht und Marktpreise durch „Arbeitswerte“ ersetzen will. Dieterich hat sich von Chávez viel erhofft, stellt aber inzwischen ernüchtert fest, diesem sei nicht mehr als konventionelle sozialdemokratische Politik (für Dieterich fast schon ein Schimpfwort) gelungen.

Außerdem, wie soll es weitergehen? Nach 14 turbulenten Regierungsjahren gibt es zwar eine chavistische Einheitspartei (PSUV – Partido Socialista Unido de Venezuela), die jedoch derart heterogene und ambivalente Elemente aufweist, dass nur das Charisma des Hugo Chávez alles zusammenhielt. Ohne Überfigur mag die „bolivarische Revolution“ zerfallen. Wie sieht es in ihr im Detail aus?Den Kern verdichten die bedingungslosen Anhänger um Nicolás Maduro, derzeit Quasi-Präsident, der sich auf die zahlreichen kubanischen Sicherheitsberater verlassen kann.

Misstrauen in Staatsbürokratie

Eine andere Fraktion rotiert um den retirierten Offizier Diosdado Cabello, den Schwarm der neureichen „Boli-Bourgeoisie“(Revolutionsgewinnler mit Taschen voller Bolivares, der Landeswährung), weswegen chavistische Basisgruppen ihn als Korrupten anprangern. Eine dritte Strömung wird von Rafael Ramírez, dem Chef des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA – und damit Kontrolleur des Erdölreichtums –, repräsentiert. Zahlreiche zersplitterte Fraktionen wurzeln in den slumartigen Vorstädten, deren Anarchos, inzwischen als Milizionäre mit Kalaschnikows ausgerüstet, zwar Chávez und der „bolivarischen Revolution“ die Treue halten wollen, aber der immer undurchsichtigeren Staatsbürokratie misstrauen. Sie verstehen sich als eigentliche Verteidiger der sozialen Errungenschaften der Revolution, die im gegebenen Fall gegen „bürgerliche Konterrevolutionäre“ zu verteidigen wären.

Somit leidet der Chavismo am Übel der ungeklärten Nachfolge, was die Kontinuität infrage stellt. Darauf hat in einer inner-venezolanischen Debatte bereits 1919 der Historiker Laureano Vallenilla Lanz mit der These vom „Cesarismo Democrático“ hingewiesen. (In Europa hat sich dafür lediglich der italienische Faschismus interessiert.) In schwierigen Zeiten, so der in Lateinamerika oft diskutierte Autor, sei eine charismatische Persönlichkeit „zur Rettung des Vaterlandes“ berechtigt, die Ebene der Formaldemokratie zugunsten einer vom Volk über Plebiszite approbierten „zäsarischen“ Autorität auszusetzen. Passt das nicht genau auf Hugo Chávez? Nur hätte er die Warnung von Vallenilla Lanz bezüglich zeitlicher Limitierung beherzigen sollen. Chávez hingegen dachte in Dekaden und wollte ursprünglich bis 2030, dem 200. Todesjahr seines Idols Simón Bolívar, „zäsaristisch“ regieren. Sein Krebs machte einen Strich durch dieses Kalkül. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2013)

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