Wie weit darf eine Stadt wachsen?

Arbeits- und Schulwege von drei, vier Stunden täglich. Eltern, die ihre Kinder nicht mehr sehen. Der Kollaps jeder Infrastruktur. Los Angeles, Mexico City, Bangkok: wenn Städte zerfließen – der Architekt Richard Burdett im Gespräch.

Richard Burdett, Sie haben einmal betont, dass „jeder, der bei Sinnen ist, zugibt, dass kein Weg an Verdichtung vorbeiführt. Wir können uns keine Städte mehr leisten, die nach allen Seiten ausfransen.“ Laut UN-Erhebungen leben in absehbarer Zeit rund 75 Prozent der Weltbevölkerung in Städten. Derzeit sind es 50 Prozent. Wie kann da Zersiedelung verhindert werden?

Zuerst muss verständlich gemacht werden, warum Zersiedelung – „urban sprawl“ – ein Problem darstellt. Die Entwicklung bewegt sich im Spannungsfeld Zersiedelung versus Kompaktheit, urbanes Ausufern versus Geschlossenheit. Einerseits gibt es das „sprawl“-Modell wachsender Städte wie Los Angeles, Mexico City, São Paulo, Städte, die nicht enden. Andererseits kann man Wachstum aber mit sozialem und ökologischem Verantwortungsbewusstsein steuern. Dann kann eine Stadt entsprechend wachsen, was aber keinesfalls bedeutet, eine Dichte wie in Hongkong zu erreichen. Hongkong ist ein extremes Beispiel. Tokio ist ein anderes Extrem.

Mit rund 35 Millionen Menschen . . .
Genau. Stellen Sie sich die Lebensqualität in einem 35-stöckigen Apartmentblock in Hongkong oder Tokio ohne Tageslicht vor, das Ihnen durch das gegenüberliegende Gebäudegenommen wird. Sieschauen aus dem Fenster und haben kein Tageslicht! Das ist problematisch, spiegelt aberdie aktuelle Situation indiesen Städten wider.

Generell kann beobachtet werden, dass sich ethnische Minderheiten konzentrieren. Die Armut ist mehr oder weniger im Zentrum, Reichtum in den Randzonen angesiedelt. Die Situation in London ist anders: Die sozial benachteiligte Bevölkerung ist über die ganze Stadt verteilt. Das verhindert das Konfliktpotenzial, das man aus Paris und seinen Vorstädten kennt.

Wie kann das Konfliktpotenzial einer Pariser Banlieue vermieden werden?

Wichtig ist, dass Reiche, Arme und Minderheiten vermischt in Städten mit- und nebeneinander leben. Aber kommen wir auf „sprawl“ versus „compact“ zurück. Hongkong oder Tokio stellen einen Höhepunkt der Entwicklung in Richtung Dichte dar. Eine weitere Stadt mit einer hohen Bevölkerungszahl, zwischen 18 und 22 Millionen Einwohnern, ist Mexico City. Hier ist die Suburbanisierung unendlich: Nennen wir sie „Favela“ oder „Township“. Dann gibt es auch ein kompaktes Modell wie New York. Ein europäisches Beispiel wäre in diesem Zusammenhang Berlin. Wichtig ist, dass es Mechanismen in der Planung gibt, die darüber entscheiden, welchen Weg man geht. New York ist ein interessantes Beispiel in Bezug auf Dichte und Internationalität. Die Einwohner sind zu einem Großteil Zuwanderer, Mehr- und Minderheiten gleichen sich aus. Die Fülle an Geld und Kultur bedeutet aber auch, dass sie leicht und effektiv in den Arbeitsmarkt einsteigen können.

Was bedeutet eine hohe Dichte für den städtischen Alltag?

Durchschnittliche Wegzeiten betragen in London, New York oder Tokio rund eine Stunde. Das ist nicht viel. In Los Angeles oder Bangkok aber können sie für eine Strecke bis zu zwei Stunden betragen. Menschen verbringen dort ihr Leben im Auto. In Bangkok werden Kinder auf dem Weg zur Schule schlafend ins Auto verfrachtet, und auf dem Nachhauseweg wird ihnen der Pyjama schon im Auto angezogen. So kann Alltag aussehen – ganz abgesehen von einer Debatte über Umwelt, Energie und Ressourcen. Ihre Mutter arbeitet und verbringt täglich vier Stunden im Auto und sieht ihre Familie nicht mehr. Kinder wachsen ohne Eltern auf. Dieser Zyklus steht in direkter Verbindung mit urbaner Zersiedelung und wachsenden Städten. Die Frage Dichte versus Zersiedelung wird also auch auf sozialer Ebene zu verhandeln und zu lösen sein. Umweltfragen müssen zusätzlich gelöst werden.

Welche Mechanismen wirken positiv auf Städte?

Der wichtigste Mechanismus etwa für die rund acht Millionen Einwohner in London ist der „green belt“. In anderen Städten wird er „urban containment“ oder „urban growth boundary“, urbane Grenzlinie, genannt. Diese Eingrenzung ist sehr wichtig. Entscheidend ist, zu wissen, wie weit eine Stadt wachsen kann.

Wie kann Wachstum innerhalb dieser Grenzen zukünftig erfolgen? Welche Dichte wirkt sich positiv aus?

Der Druck liegt innerhalb dieser Grenzen. Was aber positiv ist, weil die entsprechende Infrastruktur in der Stadt bleibt und ausgebaut werden muss: Schulen, Krankenhäuser, Geschäfte und das Verkehrsnetz. Statt diese Infrastruktur zu verlagern, wird sie ausgebaut. Denken Sie an einen Bus, der drei Häuser versorgt: Das hat finanziell keinen Sinn.

Eine Situation wie in Los Angeles, wo Metros gebaut werden, um das öffentliche Verkehrsnetz wieder auszubauen, das in den Fünfzigerjahren – von Detroit ausgehend – von der Autoindustrie gekauft und aufgelassen wurde.

Das wird in Los Angeles so lange nicht funktionieren, solange die entsprechende Dichte nicht gegeben ist. Über 80 Prozent fahren mit Autos.

Und die schrumpfenden Städte Osteuropas?

Wichtig ist zu wissen, dass Menschen aus zweierlei Gründen zusammenkommen. Der eine ist, den anderen sozial und kulturell zu unterstützen – das seit der antiken griechischen Stadt; der andere ist mächtiger ökonomischer Natur: Man findet sich zusammen, weil man Arbeit sucht. Wenn man in der Situation wie in Gdansk oder in ostdeutschen Städten ist, muss man gehen, weil es keine Arbeit gibt. In England, beispielsweise in Leeds, Birmingham oder Liverpool, haben wir dasselbe Problem. Vor rund 20 Jahren hat die britische Regierung Maßnahmen gesetzt, um das zu ändern. Im Zentrum von Manchester hat sich die Einwohnerzahl um 10.000 Menschen erhöht. Auch Liverpool ist substanziell gewachsen. Eine solche Entscheidung liegt in den Händen der Politik.

Wie kann Abwanderung, aber auch Segregation vermieden werden?

Ich denke, dass Kultur als Seele einer Stadt wesentlich ist: Der öffentliche Raum muss durchlässig für soziale Integration, eine Stadt muss demokratisch sein! Ein wichtiger Punkt aber ist, dass viele Politiker die Kunst der Architektur wiederentdeckt haben. Denken Sie beispielsweise an Barcelona.

In der Gestaltung öffentlichen Raumes?

Ja, genau. Der öffentliche Raum ist der Leim, der eine Stadt zusammenhält. Er schafft Kontinuität und die Möglichkeit, dass ich mich bewegen kann, dass sich da Geschäfte befinden und es eine Bar an der Ecke gibt. Das können Planer und Designer steuern.

Wann wird öffentlicher Raum von Menschen angenommen und „gelebt“?

Er ist entweder sozial eingliedernd oder ausgrenzend. Alles, was ich in der urbanen Landschaft in China, Indien, Südamerika und Teilen Europas gesehen habe, nimmt seit rund 20 Jahren nicht unbedingt eine positive Entwicklung. Als Beispiel in Europa gilt Canary Wharf in London. Die Gebäude und der öffentliche Raum sind nicht per se minderwertig, aber monofunktional. Es gibt keine Geschäfte für Hunderttausende von Menschen, die dort arbeiten. Die Erdgeschoßzone ist nicht zugänglich. Menschen halten sich nicht im öffentlichen Raum auf, und der Stadtteil ist nach Ladenschluss entvölkert. Das in London bei gemäßigtem Klima: Warum passiert das?

Johannesburg zählt weltweit zu den gefährlichsten Städten. Der Alltag ist von Gewalt und bewaffneten Überfällen durchsetzt, es gibt Seminare, in denen man lernt, sich bei solchen Angriffen richtig zu verhalten. Was können Planung und Architektur beitragen, diese Situation zu ändern?

Gewalt und die Tatsache, Gefahr ausgesetzt zu sein, sind sehr mit räumlichen Strukturen und sozialen Bedingungen verbunden. Die französische Soziologin Sophie Body-Gendrot hat sehr ausführlich darüber geschrieben, wie sozialer Zusammenhalt über gesellschaftliche Grenzen hinweg gefördert werden kann.

Das ist in Johannesburg besonders problematisch: Der Bevölkerung steht im Verhältnis zu ihrer Vielfalt und Dichte wenig öffentlicher Raum zur Verfügung. Es gibt viermal so viele private Wachleute wie Polizisten. Wohnsiedlungen werden zu Festungen, eine öffentliche Diskussion darüber gibt es bislang nicht. Gewalt in Städten wird oft als Vorwand dafür verwendet, sich gegen ein Zusammenleben zu stellen. Die Absonderung wird damit nur verstärkt.

Was bedeutet das in Bezug auf Johannesburg und das Thema Dichte?

Johannesburg ist im Zentrum leer, was die extrem hohe Kriminalitätsrate, Drogenprobleme und den schrecklichen Zyklus von Gewalt erklärt. Im Zentrum leben viele Afrikaner, insbesondere Nigerianer, in illegalen Wohnblöcken. Es gibt viele 30- bis 40-stöckige Gebäude ohne Strom. Man kann beobachten, wie sie mit Kerzen von Stockwerk zu Stockwerk wandern. Eine vergleichende Studie über Transport und Mobilität zeigt, dass Johannesburg mit vier Millionen Einwohnern nur über ein äußerst unzureichendes öffentliches Verkehrsnetz verfügt.

Was ist Ziel Ihrer „Urban Age Series“?

Die „Urban Age Series“ sind in Zusammenarbeit mit der London School of Economics und der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft der Deutschen Bank entstanden. Die Ziele sind einfach: Es handelt sich um weltweite Forschung und Konferenzen über die Zukunft unserer Städte. Die „Urban Age Series“ sind international und interdisziplinär ausgerichtet. Sieben Konferenzen wurden bereits organisiert: in New York, Shanghai, London, Mexico City, Johannesburg, Berlin und zuletzt in Mumbai, Indien. Für 2008 sind Konferenzen in São Paulo und Istanbul geplant. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.