„Wir haben nichts zu fürchten“

Österreichische NSDAP-Mit-glieder wurden hier genauso festgehalten wie Sozialdemo-kraten und Kommunisten: im ständestaatlichen Anhaltelager Wöllersdorf. Am 2. April 1938 wurde die Schließung gefeiert: mit einem pathetischen Nazi-Spektakel.

Wöllersdorf liegt günstig, nahe der Südbahn, unweit von Wiener Neustadt, aus ganz Österreich gut erreichbar. Auch ohne Auto kann man von Wien, wenn der Bahnanschluss passt, in einer Stunde dort sein. Station Feuerwerksanstalt. Eine prosaische Gegend: Einfamilienhäuser, Einkaufszentren, Lagerhallen. Keine Spur davon, dass sich hier einst der größte Betrieb der österreichisch-ungarischen Monarchie befand.

Ab 1815 erprobte die kaiserliche Armee auf der steinigen Heide nordwestlich von Wiener Neustadt den Einsatz von Raketen. Später stieg man auf die Erzeugung von Munition um, die auf der von Besiedelung freigehaltenen Ebene gleich getestet werden konnte. 1895 nannte sich der rasch wachsende Betrieb schließlich „k. u. k. Munitionsfabrik in Wöllersdorf“, im Volksmund „Feuerwerksanstalt“. Rund um Wiener Neustadt entstand ein militärisch-industrieller Komplex, der im Ersten Weltkrieg gigantische Ausmaße erreichte. Allein in der Wöllersdorfer Fabrik waren um 1917 mehr als 40.000 Arbeiter und Arbeiterinnen unter gefährlichsten Bedingungen tätig.

Szenenwechsel. Anfang 1933: Hitler wurde in Deutschland an die Macht gehievt. In Österreich frettete sich eine Rechtskoalition unter Engelbert Dollfuß mit einer stets gefährdeten Mehrheit von einer Stimme dahin. Anfang März gab eine Geschäftsordnungskrise Dollfuß Gelegenheit, das lästige Parlament auszuschalten. Zuerst wollte er zur Stärkung seines „antimarxistischen Kurses“ die österreichischen Nationalsozialisten in seine wackelige Koalition einbinden, lehnte sich dann aber mehr und mehr an Mussolini an. Während die Sozialdemokraten Schritt um Schritt zurückwichen, setzten die Nazis im Kampf um die Macht in Österreich zunehmend auf Sabotage- und Terroraktionen. Schließlich, am 19.Juni 1933, kam das Verbot der NSDAP.

Bald gingen die Arreste über von politischen Häftlingen. Es war naheliegend, sich für Auswege aus dieser Misere von den neuen deutschen Machthabern inspirieren zu lassen, die angesichts ähnlicher Probleme im März 1933 in Dachau bei München ein erstes großes Konzentrationslager eingerichtet hatten. Sicherheitsminister Emil Fey griff entsprechende Anregungen aus Heimwehrkreisen auf und unterbreitete dem Ministerrat schließlich Anfang September den Entwurf einer Verordnung. Allerdings stieß er auf heftigen Widerstand des Landbundes, einer deutschnationalen antiklerikalen Bauernpartei, die den autoritären Kurs bislang loyal, aber mit zunehmendem Unbehagen mitgetragen hatte.

Ohne richterlichen Beschluss

Um es kurz zu machen: Christlichsoziale und Heimwehr warteten den in der ersten Septemberhälfte stattfindenden großen Katholikentag ab, entließen dann die Landbund-Minister und beschlossen schließlich in der Sitzung vom 21.September 1933 die „Verordnung des Bundeskanzlers betreffend die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete“. Personen im „begründeten Verdacht“, staatsfeindliche Handlungen vorzubereiten oder zu begünstigen, konnten ohne richterlichen Beschluss auf unbestimmte Zeit angehalten werden. Damit war jeder behördlichen Willkür Tür und Tor geöffnet. Der Begriff „Lager“ wurde in der Verordnung tunlichst vermieden. Wie man auch später beleidigt die Bezeichnung „Konzentrationslager“ von sich wies und ihre Verwendung der österreichischen Presse strikt untersagte.

Einen geeigneten Anhalteort hatten Feys Beamte bereits vor Erlass der Verordnung ausgekundschaftet: ein Objekt in gutem baulichem Zustand in den brachliegenden Wöllersdorfer Werken. Am 17.Oktober 1933 rückten die ersten Häftlinge ein, zehn Nazis aus Schladming und Umgebung, darunter eine Frau, die erste und einzige, eine 34-jährige Lehrerin. Rasch waren die vorbereiteten Plätze besetzt, es musste umgebaut und ausgeweitet werden. Im Jänner 1934 begann eine gewaltige Terrorwelle der illegalen Nationalsozialisten, und die Einweisungen aus allen Teilen Österreichs nahmen sprunghaft zu. In Kaisersteinbruch, Burgenland, richtete man in Baracken des Bundesheeres ein zweites Lager ein, das aber nach einigen Monaten wieder aufgelöst wurde. Dazu kamen später weitere temporäre Lager an verschiedenen Orten. Wöllersdorf war das mit Abstand größte Lager und als einziges von 1933 bis 1938 durchgehend in Betrieb.

Nach dem 12. Februar 1934 füllte sich Wöllersdorf mit Sozialdemokraten, deren einziges Vergehen zumeist eine führende Funktion in der Partei gewesen war. Am 1.Juni 1934 betrug der Lagerstand 317 Nationalsozialisten und 627 Sozialdemokraten. Mit Theodor Körner und Adolf Schärf saßen zwei spätere Bundespräsidenten im Anhaltelager. Nach dem nationalsozialistischen Juliputsch 1934 wendete sich die Verteilung wieder. Anfang Oktober 1934 belief sich der Lagerstand auf 5300 Personen, davon beinahe 90 Prozent Nazis. Danach sanken die Häftlingszahlen kontinuierlich. Zu Weihnachten 1934 zeigte sich das Regime großzügig und entließ mehr als die Hälfte der Angehaltenen. Gerade die Nationalsozialisten, aber auch Sozialdemokraten und Kommunisten waren bemüht, die Zustände im Anhaltelager propagandistisch zu verwerten und Wöllersdorf als eine Art Hölle auf Erden darzustellen. Aus geheimen Tagebuchaufzeichnungen, geschmuggelten Briefen und Erinnerungen lässt sich ein anderes Bild gewinnen. Die Internierung hinter Stacheldraht in engen, verwanzten Großraumschlafsälen und Baracken war zweifellos nicht angenehm. Die Untätigkeit – es gab keine Zwangsarbeit – und die Eintönigkeit des Lageralltags wirkten zermürbend. Die Menage wurde meist gelobt, zusätzlich konnte man sich Geld zum Kauf von Lebensmitteln, Tabakwaren und dergleichen ins Lager schicken lassen. Eine spezielle Lagerkleidung gab es nicht. Das war zu teuer.

Die angestrebte „seelische Einkehr“ (wie es hieß) im Sinne des christlich-vaterländischen Regimes blieb aus. Im Gegenteil: Gerade jüngere Nationalsozialisten erhielten in der erzwungenen Gemeinschaft mit älteren, gebildeten Parteigenossen eine weiterführende weltanschauliche Schulung und ideologische Stärkung. Ein 35-jähriger nationalsozialistischer Selchwarengroßhändler aus Wien schrieb in einem von den Lagerbehörden abgefangenen Geheimbrief im Frühjahr 1934 an seine Lieben zu Hause: „Ich habe mir von Wöllersdorf ganz andere Vorstellungen gemacht. Wir haben gar nichts zu fürchten.“

1935 übernahm der Gendarmeriemajor Stillfried die Lagerführung und bemühte sich, die Anhaltehäftlinge stärker zu disziplinieren, was ihn bei vielen verhasst machte. Aber eine von kommunistischer Seite kolportierte Anekdote über Stillfried sagt viel über die spätere Bewertung der Anhaltung durch die Betroffenen aus. Stillfried wurde von den Nazis mit dem ersten sogenannten Prominententransport wenige Wochen nach dem „Anschluss“ 1938 ins KZ Dachau eingeliefert. Dort soll er dem inspizierenden Reichsführer-SS vorgestellt worden sein. Himmler höhnisch: „Na, wie gefällt es Ihnen?“ Darauf Stillfried: „Ich wünsche den Gefangenen, dass sie einen Tag wie in Wöllersdorf hier erlebten.“

Sechs Schilling pro Kopf und Tag

Extrem belastend war für viele Anhaltehäftlinge die Ungewissheit über die Dauer ihres Zwangsaufenthaltes. Zu Hause ließen sie oft ein Geschäft zurück und mussten bei längerer Abwesenheit den Ruin befürchten, andere verloren ihren Posten oder, wenn sie arbeitslos waren, die ohnehin karge Notstandsunterstützung. Zahllose Familien standen von einem Tag auf den anderen ohne Existenzgrundlage da. Für die Anhaltung verrechneten die Sicherheitsbehörden pro Tag und Kopf sechs Schilling. Viele konnten diese Summe nicht aufbringen. Berichte über schwere Depressionen, Nervenzusammenbrüche, Haftpsychosen oder Selbstmordversuche im Lager sind häufig. Krankheiten aller Art kamen oft vor, aber viele Erkrankungen waren vorgetäuscht, etwa eine Ruhrepidemie im Frühjahr 1934.

Überhaupt nützten die Häftlinge das ganze Repertoire des passiven Widerstandes aus, das ihnen zur Verfügung stand. Hungerstreiks, die immer wieder angezettelt wurden, nahm die Lagerleitung durchwegs sehr ernst und reagierte schnell darauf. In Kaisersteinbruch brach Anfang März 1934 eine wilde Häftlingsrevolte aus, weil ein Angehöriger der Wachmannschaft auf die Hänseleien eines Angehaltenen mit einem Gewehrschuss reagiert hatte. Ähnliche spontane Tumulte und organisierte Streikaktionen als Ausdruck der angestauten Frustration gab es im Laufe der Zeit immer wieder. Auch die Flucht aus dem Lager gelang manchen, den Kommunistenführern Fürnberg und Honner etwa, dem SS-Führer Fitzthum oder einigen Juliputschisten.

Ab Ende 1936, seit immer mehr Kryptonazis sich in ständestaatlichen Machtpositionen etablieren konnten, befanden sich durchwegs mehr Sozialdemokraten und Kommunisten als Nationalsozialisten im Lager. Nach dem Berchtesgadener Diktat Hitlers im Februar 1938 gingen schließlich die letzten Häftlinge frei.

Am 2. April 1938 veranstalteten die Nationalsozialisten im ehemaligen Lager ein pathetisches Spektakel. Der Ort erhielt den Namen Wöllersdorf-Trutzdorf, Gauleiter Josef Bürckel verkündete den neu gewonnenen Volksgenossen, die deutsche Freiheit benötige keinen Stacheldraht, eine der Häftlingsbaracken ging in Flammen auf. In den folgenden Monaten wurde das Anhaltelager liquidiert, das Betriebsareal auf Geheiß Görings in einen „Luftpark“ umgewandelt. Teile des Wöllersdorfer Lagerinventars gingen an das neu einzurichtende Konzentrationslager Mauthausen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.