Japans Wunde, Japans Lüge

Der Atombombenabwurf auf Hiroshima ist in Museen, Filmen, Büchern ausführlich dokumentiert. Über die Zeit danach wird bis heute wenig geredet. Schon gar nicht in Japan. Der Fotograf Kikujiro Fukushima hat diese Zeit in Bilder gefasst.

Eine magere Gestalt, von der nur der Rücken und der nach vorne gebeugte Hinterkopf zu sehen sind, hockt vor einer Holzwand. Der rechte Arm, kraftlos abgesunken, ruht auf dem Holz, auf dem seine Fingernägel tiefe Kratzspuren hinterlassen haben. An den Narben lässt sich die Intensität des Schmerzes ablesen.

Der Mann ist Sugimatsu Nakamura, Atombombenopfer, Hibakusha. Festgehalten hat die Szene der japanische Fotograf Kikujiro Fukushima, der Nakamura über Jahre hinweg mit der Kamera begleitet hat, bis zu dessen Tod 1967. Manchmal waren seine Schmerzen so unerträglich, dass er sich selbst mit dem Messer in den Oberschenkel schnitt oder seine Nägel ins eigene Fleisch bohrte. Auch das hat Fukushima fotografiert.

„Wir sprechen über den Abwurf der Atombombe und das Inferno, das sie hinterlassen hat, doch kaum jemand fragt, wie die Menschen zwischen 1945 und 1955 und bis in die 1960er-Jahre gelebt und überlebt haben“, sagt der Historiker Yuki Tanaka. „Diese zehn Jahre sind Vakuumjahre, über die kaum etwas bekannt ist. Aufgrund der amerikanischen Zensur waren Berichte und Publikationen über die Atombombe verboten. Zum anderen waren die Menschen vollauf mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Es fehlte an Zeit und Ressourcen, diese Gegenwart zu dokumentieren.“

Die Hiroshima-Fotografien von Kikujiro Fukushima aus der Zeit zwischen 1946 und 1978 sind ein Missing Link, das auch die Vakuumjahre illustriert. Fukushima gibt dem menschenleeren Ort der atomaren Zerstörung ein Gesicht, fügt dem Konstrukt Hiroshima eine für das offizielle Japan wohl unerträglich realistische Perspektive hinzu. Seine Bilder lassen erahnen, was es geheißen haben mag, nach der Bombe weiterzuleben. Er zeigt den Schmerz, die Agonie; Armut und soziales Elend; seine Reportagen decken auf und legen bloß. Er legt mit der Kamera seinen Finger in diese Wunde Japans, von der viele nichts mehr wissen wollen.

Sugimatsu Nakamura war Fischer und lebte mit seiner Frau und vier Kindern im Süden Hiroshimas, am Meer. Am 6. August 1945 war er in die Stadt beordert worden. Als die Bombe einschlug, war er 1,6 Kilometer vom Epizentrum entfernt. Er wurde von Trümmern verschüttet, konnte sich befreien und irrte stundenlang in der verseuchten Umgebung umher, ehe er mit schweren Verbrennungen in sein acht Kilometer entferntes Haus zurückkehrte.

Damit begann sein Leidensweg als Hibakusha. Sein körperlicher Zustand machte es ihm unmöglich zu arbeiten. Krampfartige Anfälle mit extremen Magenschmerzen, Erbrechen, hohem Fieber, Kopfschmerzattacken und enormem Hitzegefühl im Körper suchten ihn wieder und wieder heim; danach konnte er tagelang nur lethargisch auf seiner Matte liegen und dahindämmern. Seine Frau starb kurz nach der Geburt des sechsten Kindes an den Folgen der Verstrahlung.

1952 besuchte ihn der Fotograf Kikujiro Fukushima zum ersten Mal in seiner Hütte. Er brachte Essen und Kleidung für die Kinder und riet ihm, medizinische Unterstützung zu beantragen, die er bis dahin nicht bekommen hatte. Rund ein Jahr später bat Nakamura selbst darum, fotografiert zu werden: Die Welt solle erfahren, wie qualvoll das Leben der Hibakusha ist.

Erst 1965 machte das damalige Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt auf Ersuchen der Hibakusha eine Umfrage unter den Opfern, erzählt Tanaka: „Die Fragen waren jedoch so formuliert, dass so gut wie keine Unterschiede zwischen dem Leben der Hibakusha und dem der anderen herauskamen, was deren finanzielle Situation, Heiratsmöglichkeiten oder Bildung betrifft.“ Das sei eine klare Lüge, ärgert er sich. Auf den Punkt gebracht: Zum Verbrechen der Atombombe kam in der Nachkriegszeit ein zweites hinzu: die Ignoranz, Vernachlässigung, Diskriminierung und Nichtbehandlung der Opfer.

Der 1921 geborene Fukushima wuchs in ärmlicher, ländlicher Umgebung auf. Sein Vater starb, als er zwei Jahre alt war. Seine Schulzeit war geprägt vom Tenno-Nationalismus. Sich für den Kaiser und das Vaterland zu opfern galt auch ihm als erstrebenswertes Ziel. Aufgrund seiner schlechten Gesundheit wurde er erst 1944 eingezogen. Nach der Kapitulation am 15. August 1945 kehrte er in sein Heimatdorf zurück. Er wurde Uhrmacher, heiratete und wurde Vater dreier Kinder. Daneben kümmerte er sich als freiwilliger Sozialarbeiter um Kriegswaisen, Witwen mit Kindern und alte Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg verloren hatten, und begann, in diesem Umfeld zu fotografieren.

Die Begegnungen mit den Vernachlässigten der Gesellschaft öffneten ihm die Augen. Sein Interesse für die Atombombenopfer kam durch seine regelmäßigen Besuche in Hiroshima, wo er am Schwarzmarkt Ersatzteile und Werkzeuge für Uhren kaufte. Manchmal habe er im Zentrum von Hiroshima fotografiert, erzählt Tanaka. Wegen der amerikanischen Pressezensur konnte er aber nichts publizieren.

Aus dieser Zeit stammt eine Fotografie, die Obdachlose vor der Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelskammer mit ihrer skelettartigen Kuppel zeigt, heute Weltkulturerbe und das Symbol Hiroshimas. Doch keine ausländischen Besucher sind zu sehen, wie heute, keine Warnhinweise „Betreten verboten“, keine Bäume, keine fein säuberlich gestutzte Hecke, nur Schutt und Trümmer. Und die Obdachlosen, die um ein Feuer hocken.

Bis Ende der 1970er-Jahre erstreckte sich am Ufer des Flusses Ota ein Slum aus rund 1000 schäbigen Hütten. „Die Schamgegend Hiroshimas“ wurde dieser Ort genannt. Es war der „Atombombenslum“, denn rund ein Drittel der 3000 Bewohner war Hibakusha, darunter viele Koreaner, die während des Krieges als Zwangsarbeiter nach Japan verschleppt worden waren.

„Die meisten Slumbewohner waren Tagelöhner. Alle hatten ihre Häuser und nahe Verwandte verloren. Sie bekamen so gut wie keine Unterstützung von der Stadt“, erzählt Tanaka und: „Wir müssen der Welt endlich mitteilen, in welch bitterer Armut die Überlebenden ihr Dasein gefristet haben, unter welch extrem schwierigen Bedingungen sie lebten! Es gab auch viele Mütter im Slum, die selbst Hibakusha waren, und Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen zur Welt gebracht hatten.“

Kikujiro Fukushima hatte durch seine Arbeit als Sozialhelfer das Vertrauen der Menschen; das ermöglichte es ihm, im Slum zu fotografieren: Vor den Holzbaracken ist Wäsche zum Trocknen aufgehängt. An dem Kind am rechten Bildrand bleibt der Blick hängen. Ein kleines Mädchen in Strumpfhose und Lätzchen, mit nach innen geknickten Beinen, nackten Füßen in zu großen Schlapfen, das Gesicht dem Fotografen zugewandt. Doch sein Blick geht ins Leere. Ganz alleine steht es da, mit heruntergezogenen Mundwinkeln, als habe es noch nie im Leben gelacht.

1949 wurde Hiroshima per Gesetz zur „Stadt des Friedens“ erklärt. Möge die Stadt Hiroshima als Stadt des Friedens wieder auferstehen. Das Budget für die Realisierung kam von der Zentralregierung. Der Slum musste weichen, die Leute wurden gezwungen wegzuziehen. Ein Slum passte nicht in die Friedensstadt Hiroshima und zum architektonischen Konzept von Kenzo Tange – mit dem Friedenspark, dem Friedensmuseum, dem Friedensmonument für die Seelen der Opfer.

Doch die Menschen wussten nicht, wohin, und siedelten sich in einem neuen Slum weiter nördlich am Flussufer an. Bis auch dieser Ende der 1970er-Jahre geschleift wurde. Heute sind längst alle Spuren getilgt. „Als es vor einigen Jahren im Friedensmuseum eine Sonderausstellung über dessen Entstehungsgeschichte gab, wurde der Slum mit keinem Wort erwähnt“, berichtet Tanaka.

Das Totschweigen des Slums gehöre auch zu den Lügen Hiroshimas, meint Kikujiro Fukushima. „Hiroshimas Lügen“ heißt auch sein autobiografisches Buch. Ein Dokumentarfilm von Regisseur Saburo Hasegawa aus dem Vorjahr über Fukushimas Leben und Werk wiederum trägt den Titel „Japans Lügen“. Die Dokumentation hat in Japan drei renommierte Filmpreise gewonnen. Bei einer Preisverleihung sagte Fukushima, er freue sich über die Ehre, fühle aber gleichzeitig Scham darüber, dass er glücklich sein dürfe, nicht aber die vielen Menschen, deren Unglück er fotografiert habe. Und: „Unsere Zeit bewegt sich rückwärts, in Richtung Krieg.“

Alljährlich zum Gedenktag am 6. August senden die Stadtväter von Hiroshima und Nagasaki (Mütter gab es bislang nicht) eine Friedensbotschaft an die Welt. Nie wieder Hiroshima, nie wieder Nagasaki. Und: Wir sind für die weltweite Abschaffung aller Atomwaffen. Nie sind diese schönen Worte in konkrete Politik eingeflossen, sagt der Historiker Tanaka und spricht von hohlen Phrasen: „Heuer wurde US-Präsident Obama nach Hiroshima eingeladen, aber wieder nicht aufgefordert, sich für dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu entschuldigen!“ Es sei hoch an der Zeit, denn die Atombombenopfer sind im Schnitt über 78 Jahre alt.

Weil es keine Entschuldigung für die Atombomben gegeben hat, sei es auch für Japan ein leichtes, sich nicht bei den Opfern seiner Kriegsführung zu entschuldigen, ist Tanaka überzeugt. Er befasst sich seit vielen Jahren mit der Aufarbeitung japanischer Kriegsverbrechen während der Zeit des 15-jährigen Krieges (1931 bis 1945), über die das offizielle Japan lieber schweigt. Bis heute sitzen Männer in hohen Funktionen, die infrage stellen, was historisch belegte Fakten sind.

„Hiroshima ist zwar ein Wallfahrtsort, tatsächlich aber keine Stadt des Friedens, sondern in Wahrheit ein großes Pandämonium, in dem die politischen Verbrechen der Nachkriegszeit verborgen werden“, schreibt Kikujiro Fukushima. Ein Aufenthaltsort der bösen Geister. In der Friedensstadt Hiroshima können auch die Vertreter jener Partei, die gerade erst den Friedensparagrafen der japanischen Nachkriegsverfassung uminterpretiert (und damit nach Ansicht vieler den Weg in einen neuen Krieg freigemacht hat), für den Frieden beten.

Vor einigen Jahren, erzählt Yuki Tanaka, habe er Fukushima in seiner kleinen Wohnung besucht und gesehen, dass sich dort Tausende Negative ungeordnet stapelten. Daraufhin habe er beschlossen, die Negative zu retten. Doch das Friedensmuseum von Hiroshima zeigte kein Interesse: „Fukushima ist ein Unbequemer, ein politisch Unliebsamer, der die Studentenunruhen in den 1970er-Jahren ebenso dokumentiert hat wie die Proteste gegen den Bau des Flughafens Narita oder gegen das AKW Kaminoseki nahe Hiroshima.“ Als einzige öffentliche Einrichtung beherbergt das Kunstmuseum von Fukushimas Heimatpräfektur, Yamaguchi, eine Sammlung seiner Bilder.

Kikujiro Fukushima ist einer, der die staatliche Rente ablehnt, weil er „von diesem Staat“ kein Geld nehmen will. Und er lebt von umgerechnet etwa 300 Euro im Monat, gemeinsam mit seinem Hund. Er bräuchte einen neuen Hörapparat, doch den kann er sich nicht leisten. Im Herbst 2011 packte der damals 90-jährige seine Kamera und fuhr nach Minamisoma in der Präfektur Fukushima, bis an die Sperrzone zum havarierten AKW. Er stellte sich direkt vor die Polizisten an der Absperrung und drückte auf den Auslöser mit den Worten: „Entschuldigen Sie bitte, aber das ist meine Arbeit als Fotograf!“ Und dann interviewte er die Bauern zu ihrem Leben mit der Radioaktivität.

Nein, im Friedensmuseum von Hiroshima sind seine Bilder nicht zu sehen. Das Museum wird gerade von Grund auf renoviert. „Das Gebäude entspricht nicht mehr den Bauvorschriften in Sachen Erdbebensicherheit“, sagt der Direktor beim Interview in seinem Büro. „Bei dieser Gelegenheit erneuern wir auch die Ausstellung. Wir wollen uns mehr noch als bisher auf den 6. August 1945 konzentrieren.“ Und er zeigt auf den Bildschirm, der direkt hinter meinem Rücken angebracht ist, und startet eine Power-Point-Präsentation in 3D.

Auf seinem Schreibtisch liegen drei verbrannte Dachziegel von damals. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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