„Erst mit Tinte, dann mit Blei“

(c) Die Presse (Thomas Northoff)
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Humorvoll sind sie ja nur in den seltensten Fällen, die Graffiti der Fußballfans. Meist werden Schmähungen an die Wände geschmiert – allzu oft rassistische Parolen. Einblicke eines Graffiti-Sammlers.

"Nur wir vertreten Wien!" – Man wird sich irritiert fühlen, schreitet man im Alltag an einer dieser meterlangen Aufschriften vorbei. Der Wahlkampf ist längst vorüber, die Lettern der Ausrufung sind zwar plakativ, jedoch nicht auf Plakat gedruckt, sondern an eine Hauswand gesprüht. Durch den weißen Untergrund, der sich von der übrigen Hausfarbe abhebt, schimmern einzelne Buchstaben älterer Graffiti durch. Hier wurde bereits öfter geweißt, inoffiziell Angeschriebenes gelöscht.

Wer aber verkündet den Wienern da seinen Anspruch, Wien und damit letztlich auch sie zu vertreten, ohne sich zu deklarieren, fragt man sich. Dann bemerkt man, dass sich das UR im Wort „Nur“ in Farbe und Schriftdesign von den anderen Buchstaben abhebt. Den Aha-Moment verschafft ein Graffito auf dem Nachbarhaus: „Austria ist Wien, Rapid ist Hütteldorf.“ UR: Das steht für „Ultras Rapid“, die wahrscheinlich fanatischste Fangruppe des Landes. Conclusio: Hier bekämpfen einander tief verfeindete Fangruppen der zwei bekanntesten Fußballvereine Wiens.

Fußballfan-Graffiti stellen zahlenmäßig einen Hauptteil aller inoffiziellen inschriftlichen Botschaften. Die Fans der meisten Fußballvereine schreiben Graffiti, jedoch halten in dieser Konkurrenz jene von Rapid (kurz SCR) unangefochten den ersten und jene von Austria Wien (kurz FAK) den zweiten Platz inne. Sie tun dies raumgreifend in ganz Österreich, um vor Augen einer größtmöglichen Öffentlichkeit sich selbst zu preisen und den Gegner zu erniedrigen. Wer Wort-Graffiti schreibt, schreibt für die Augen der Öffentlichkeit und erhofft sich mehr oder weniger Mitgestaltung der öffentlichen Meinung.

Zwei Hauptgruppen von Schreibenden lassen sich erkennen. Die eine krakelt mit rührender Liebe und Bewunderung immer wieder den Namen „ihres“ Vereins. In oft kindlicher Schrift wird zuweilen argumentiert, beispielsweise im Holzhüttchen eines Spielplatzes: „SK Rapid wir würden Austria zu 200 zu 0 schlagen. Austrianer sind so begrifstützig.“ Die zweite Gruppe scheint aus tendenziell aggressiveren Menschen zu bestehen. Ihr Schriftduktus ist erwachsener. Die beschriebenen Flächen finden sich in exponierteren Lagen. Es fallen das dichte Vorkommen komplexerer Botschaften und deren subtilere Bezogenheiten auf. Da wird das Logo auf einer Hundeverbotstafel zu einem Bild gegen den FAK gestaltet, FAK-Fans werden als Loser von Wien verspottet und mit Zuschreibungen wie „Feiglinge“ oder „Huren Europas“ bedacht. Die Frage „FAK Hooligans – Woher?“ beantwortet man gleich selbst: „Baumschule, Besserungsanstalt, ...“ Der Aufforderung zur Fortsetzung der Reihe wurde in diesem Fall noch am selben Tag von anonymer Hand mit der Wendung „Aus dem Gefängnis“ nachgekommen.

Umgekehrt setzen Gegner der Rapid-Fans unter den würdig verfertigten Schriftzug „Commando Rapid Wien“ lapidar „Sucht den Ball!“ oder arbeiten das Akronym SCR zu „Scheiß Club Rapid“ aus.

Den Namen des jeweils verschmähten Vereins an einem stilisierten Galgen baumeln zu lassen ist allgemein bei graffitierenden Fußballfans eine beliebte Übung, gleichwie das Anschreiben der Schwurformel „Tod und Hass dem ...“. Zusätzliche Bedeutungsaufladung provoziert der Gebrauch von Runen-S im Wort Hass oder, in Abwandlung des Keltenkreuzes, das Fadenkreuz im Buchstaben O. Rechtstum und Gewalt vermittelnde Fußballfan-Graffiti schienen in Österreich seit den 1980er-Jahren immer häufiger auf. Geradezu eine Akkumulation solcher Wandschriften „verantworteten“ Rapid-Fans, insbesondere die erstarkenden Szene-Hooligans. Mit ihren Markierungen an stark von Migrantenjugendlichen frequentierten Stellen erhoben sie Territorial- und Vormachtansprüche. Über Graffiti mit den Namen ausländischer Vereine schrieben sie „Rapid“ oder „SCR“ und stellten Parolen wie „Raus Kanaken“ oder „Scheiß Tschuschen“ bei. Öfter zeichneten oder sprühten sie dazu ein Hakenkreuz. Obwohl dieses Phänomen seit der Jahrtausendwende stark zurückging, kann die fortgesetzte Platzierung nicht weniger UR-Graffiti in der Nähe rechtsextremer respektive rassistischer Niederbringungen anderer Urheberschaft kaum als belangloser Zufall gewertet werden. Selbst das Fanclub-Logo UR'88, zurückgehend auf das Gründungsjahr der Ultras, 1988, wird den Passanten durch die oftmalige Auslassung des Apostrophs zum Menetekel. In der allzu präsenten Graffiti-Symbolik der Rechten bedeutet die Zahl 88 den Hitlergruß.

Dem Skandal der „Judenschweine“-Sprechchöre gegen die Austria, der im Vorjahr auch von den Medien breit thematisiert wurde, gingen jahrelang synonyme Graffiti voraus. Mit den veränderten Techniken und Flächen treten seit Jahren die Sticker in den Vordergrund. Die Lawine aus „Judasschitz“-Stickern gegen den als Verräter betrachteten ehemaligen Rapid-Spieler Ivanschitz, welche vor wenigen Monaten für Medienempörung sorgte, rollte in Wahrheit bereits 2006. Von Rapid-Fans wurde noch 2004 das sogenannte Umwelt-Bahn-Lied angestimmt: „Wir bauen eine Umwelt-Bahn von hier bis nach Auschwitz.“ Und an eine Umfriedungswand des Horr-Stadions, des Heimatplatzes der Austria, sprühten sie „Stronach-Synagoge“.

Die Anonymität, ein Typicum von verbalen Graffiti, fördert die Möglichkeit zu völlig unzensurierten Äußerungen. Dies berechtigt zur Annahme, es handle sich um unverfälschte Meinungen, die, der Vermeidung sozialer Sanktionen wegen, von Angesicht zu Angesicht kaum geäußert würden. Für verfeindete Gruppen bildet der Mannschaftssport Fußball eine ideale Projektionsfläche, bilden Graffiti das ideale Transportmittel der Projektionen nach außen. Dienen sie den Schreibenden als Ventil, können die Lesenden sie als Indikatoren für Stimmungslagen in Volkssegmenten analysieren. Individuelle und kollektive Identität sind eng aufeinander bezogen. Feindbilder werden offensichtlich und zugleich Eigeneinordnungen der Schreibenden. Ideologien der Macht und Gewalt finden Anklang, da sie radikalen Fans das Rückgrat stärken.

In den seltensten Fällen sind es Mannschaftsmitglieder selbst, welche ihre Fans in dieser Hinsicht aufgeilen. Eine Sonderstellung nimmt der italienische Verein Lazio Roma ein. Sein Kapitän, Paolo Di Canio, expliziter Mussolini-Fan, ist der Ansicht, man verlasse das Spielfeld mit dem Kopf des Feindes oder ohne den eigenen. Mehrmals ging er mit zum Faschistengruß erhobenem Arm vom Feld. Lazio-Anhänger ahmen diesen „saluto romano“ auch bei Auswärtsspielen nach. Körperliche Auseinandersetzungen sind die Regel. Einem der Kritiker sprayten sie die Warnung „Erst mit Tinte, dann mit Blei“ an die Hauswand.

Feindselige Reaktionsweisen zwischen Zuschauern bei Mannschaftskämpfen sind kein erst in der heutigen Zeit auftretendes Phänomen. Schon eines der Kratz-Graffiti aus dem alten Pompeji erinnert an brutale Kämpfe zwischen Anhängern gegnerischer Gladiatorenschulen im Jahr 59 nach Christus. Es gab Tote. Der Senat von Rom sperrte das Amphitheater für zehn Jahre. Ein reflektiertes Graffito dazu drückte aus, dass somit beide Mannschaften besiegt worden seien.

Nur selten motiviert Humor oder Selbstironie zu Fußballfan-Graffiti. Mitunter schlägt die den Jugendlichen eignende Neigung zu Neologismen durch. Da hieß es beispielsweise zur WM: „Italien isst Wurstmeister.“ Einer der mehr als 100 Fanclubs von Dynamo Dresden gab sich den Namen „Elbkaida“ und sorgt damit an den Wänden der Elbe-Stadt für ängstliche Irritationen unbedarfter Bürger.

Dem verstorbenen US-Kulturanthropologen Ralph Cintron zufolge stellen Graffiti zwischen zerkriegten Banden hochkomplexe Zeichen dar, eine Art den Status quo abbildenden Disputs. Er versteht sie als Indikatoren interkultureller Spannungen. Das Übermalen gegnerischer Zeichen sowie das Setzen neuer sei für die Gangs von höchster Wichtigkeit. Nicht anders scheint es sich bei den Graffiti extremer Fußballfans zu verhalten. Das Muster bis aufs Blut verfeindeter Fanclub-Zweiheiten, die einander bedürfen und bedingen, zieht sich mit leicht differierend-ideologischem Unterfutter durch die meisten Länder Europas. Was in Österreich SCR versus FAK ist für Serbien Roter Stern Belgrad versus Partizan Belgrad, für die Niederlande Ajax Amsterdam versus Feyenoord, sind Fenerbahce und Galatasaray in der Westtürkei, der Celtic Football Club und die Glasgow Rangers in Schottland oder Panathinaikos und Olympiakos für die griechischen Fußballfans. In Chören und Graffiti wird Ajax, ähnlich der Wiener Austria, mit verächtlichmachender Absicht von gegnerischen Fans „Judenverein“ gerufen. Durch bewusste Integration des Davidsterns in ihre Sympathie-Graffiti jedoch nehmen die Ajax-Anhänger den Rassismus vorweg, um ihn derart zu entwerten.

Die symbolische Aufladung von Fußballfan-Graffiti und ihrer Anbringung als soziopolitische und zusätzlich religiös motivierte Tatsetzung erweist sich besonders drastisch in Nordirland, wo die überwiegend republikanisch empfindenden Katholiken ihre uralte Feindschaft mit den britisch orientierten protestantischen Loyalisten und vice versa ungewöhnlich intensiv über Graffiti und ungewöhnlich oft unter Rückgriff auf Fußballfan-Graffiti artikulieren. Die einen verknüpfen inschriftliche Nennungen ihres Klubs mit Symbolen der IRA oder paramilitärischer Splittergruppen ebenso, wie die anderen ihre Sympathie-Graffiti in die Symbolik der UDA (Ulster Defence Association) und deren paramilitärischen Arm einbetten.

Was für Vereine gilt, bricht zuweilen auch beim Aufeinandertreffen von Nationalmannschaften durch. Ein sprechendes Beispiel der Anpassung von Bedeutungskonnexen in Gegnerschaften führte uns 2003 der Länderkampf Österreich–Tschechien vor Augen. Tschechische Fans entrollten im Wiener Happel-Stadion ein Transparent mit der Aufschrift: „Österreichischer Fußball nein – Temelin ja!“ Wie viele tschechische Schlachtenbummler den 3:2-Sieg ihrer Mannschaft als Stärkung ihrer Anschauung interpretierten, kann nur spekuliert werden.

Ob sich dies über eingeschwindelte Spruchbänder oder an Stadionwänden verfasste Graffiti manifestiert: Stets dringen bei jedem Match, wie der Kulturwissenschaftler Roman Horak schreibt, Gegner in die jeweiligen Gebiete der Anhänger der jeweiligen Heimmannschaft ein, welche verteidigt werden müssen. Während meiner Dokumentationszüge bestätigte sich dies für ganze Viertel nordirischer Städte gleichwie für das Stammstadion einer Fußballmannschaft beispielsweise in Wien. Dabei steht oft die inhaltliche Überzeugungskraft der Graffiti, welche auf andere Menschen wirken soll, hinter der Symbolkraft des Eingedrungenseins in das Gebiet des „Feindes“ zurück. Ihm macht die inschriftlich hinterlassene Schmähung klar, vor den Eindringlingen nicht lückenlos geschützt zu sein.

Jene Orte, an denen sich die Abgrenzung voneinander und zugleich die Zugehörigkeit zu Gruppen am offensichtlichsten zeigen, sind die vielen kleinen Parks in Wien und in den Landeshauptstädten. Ihr Mobiliar ist teils übersät mit Graffiti ballesternder Kids und Jugendlicher mit vorwiegend migrantischem Hintergrund. Die türkischstämmigen Burschen neigen zur Pathetisierung, indem sie Bänke und Tische, Streben der Fußballkäfige und Planken der Streetsoccer-Einrichtungen groß und auffällig mit ihren Namen und den beigefügten Nummern der Herkunftsregionen markieren. Einige verewigen sich als „beste Fußballer“ oder setzen sich mit Spitzenfußballern gleich. Manche Plätze werden kurzerhand in „Türkenplatz“ umbenannt.

Durchstreichungen und Überschreibungen zeugen von Mannschaftspräferenzen und Gegnerschaften, die auffallend oft mit Sympathie und Aversion unter den ethnischen Minderheiten übereinstimmen. Bei allen Volksgruppen weist diese Art der Graffiti über ihre vordergründige Bedeutung der Sympathiekundgebung für eine Mannschaft weit hinaus. Unterschwellig oder offen sind sie politisch aufgeladen und mit nationalistischen Gefühlen verbunden. Als ich jüngst die vertikal an einer Käfigstrebe aufsteigende Reihe eines serbischen Symbols fotografierte, unterbrachen zwei etwa zwölfjährige Burschen ihr Torschießen, sagten stolz, dass dies „ihr“ Zeichen sei und zogen mich am Arm überall hin, wo sie das Zeichen noch aufgetragen hatten. Als ich mich anschickte, ein eher klein und flüchtig hingekritzeltes kroatisches Symbol zu dokumentieren, sprangen die beiden gestikulierend dazwischen. Sie dürften das Zeichen selbst erstmals bemerkt haben. Einer verdeckte es mit den Händen und rief: „Das nicht, das nicht, das ist böse!“ Auf meine Frage, ob sie „Rapid“ hinschreiben würden oder „Austria“, antwortete der Zweite ohne nachzudenken: „Ich schreibe Austria, Rapid ist Rassist.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2008)

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