Der Klang der Stille

„Es war ein bisschen laut!“ Wird das dereinst unsere Bilanz am Ende eines Lebens zwischen Verkehrslärm und Zwangsbeschallung sein? Öffentliche Stätten der Ruhe: ein Blick nach Dresden, Linz und Wien.

Ein bisschen leiser!“, genauer: „A bissl stada!“, soll man einst Ludwig van Beethoven zugerufen haben, der auf seinen Spaziergängen gerne laut vor sich hin sang; und „A bissl stada!“ möchten wir auch heute so manchen Handytelefonierern und iPod-Hörern zurufen, deren akustische Emanationen uns beinahe überallhin begleiten. Zwar ist eine gewisse akustische Grundstimulanz insbesondere in den Städten unabdingbar, als ureigenster Ausdruck von Verdichtung und Dynamik, doch die Vielfalt der Reize zu bewältigen wird – so scheint es – immer schwieriger. Zunehmend weniger Freiräume bleiben erhalten, die es uns erlauben, der akustischen Zwangsbeglückung zu entgehen. Denn so wie in der Musik die Pause eine zentrales Element darstellt, braucht es auch in der Stadt ausreichend Ruhezonen, in denen sich die Ohren vom Bombardement der Signale erholen können. Eine Einsicht und Forderung, die – genau genommen – gar nicht so neu ist.

Dresden, königlicher Garten, 1911. Zur Eröffnung der großen „Hygiene-Ausstellung“ wurde in einem ruhigen Winkel der Parkanlage ein besonderes Gebäude errichtet: eine „öffentliche Ruhehalle“, initiiert und konzipiert von Robert Sommer, Medizinalrat in Gießen. Er wollte den Ausstellungsbesuchern erstmals einen ausschließlich der Ruhe gewidmeten Erholungsraum zur Verfügung stellen: „Die sozial-prophylaktische Aufgabe besteht darin, in der Hast und Unruhe des modernen Lebens Ruhegelegenheiten zu schaffen, die eine Gelegenheit zu kurz dauerndem Ausruhen und zur Erholung der Nervenkraft bieten.“

Das relativ einfach konstruierte, streng nach Geschlechtern getrennte Gebäude bestand aus zwei großen Höfen, um die jeweils fünf Einzelkabinen angeordnet waren – plus Toiletteanlagen und Räumen für das Wartungspersonal. Durch Bezahlung einer geringen Eintrittsgebühr kamen die Besucher in den Genuss von „Ruhe“. Eine Stunde lang konnten sie sich auf bequemen Liegen erholen – je nach Vorliebe und Wetter im Freien oder drinnen –, oder die Zeit mit Lektüre verbringen. Anders formuliert: Ausgestellt wurde in diesem Pavillon erstmals nichts anderes als – die Stille.

Der Erfolg sprach für sich; oft war der Andrang weit größer als die vorhandenen Plätze: „Vorzügliche Einrichtung“, „ausgezeichnete Idee“ versicherten die Benützer. „Man staunt, dass Derartiges erst so spät zur Einführung gelangt. Sollte überall anzutreffen sein zum Wohle der Menscheit.“ Angesichts des positiven Feedbacks erweiterte Sommer sein ursprüngliches Konzept. Im folgenden Jahr, auf der Städteausstellung in Düsseldorf, ließ er bereits einen weit größeren Pavillon errichten. Dessen repräsentative Architektur symbolisierte nicht zuletzt die gestiegene gesellschaftliche Bedeutung, die die Sehnsucht nach Stille um 1900 erlangt hatte. Die in alle Richtungen expandierenden Großstädte erlebten den ersten Höhepunkt eines anhaltenden Diskurses über die Beschaffenheit ihrer akustischen Umwelt.

Gründung von Antilärmvereinen

Wirtschaftliche und vor allem verkehrstechnische Neuerungen hatten die traditionellen urbanen Klanglandschaften radikal verändert, heftige mediale Diskussionen über die davon ausgehende „Überreizung der Nerven“ waren die Folge. In Zeitungen und Zeitschriften erschienen zahlreiche Artikel zur allerorts beklagten Lärmproblematik, „Antilärmvereine“ wurden gegründet, auf wissenschaftlichen Enqueten und Symposien diskutierte man Lösungsansätze im Kampf gegen den Lärm.

Auch Robert Sommer propagierte unermüdlich sein Konzept der „öffentlichen Ruhehallen“. Er hatte eine gleichnamige Schrift verfasst, die als Grundlage für die Stadtverwaltungen dienen sollte, denen er seine neue Einrichtung anbot. Denn seiner Überzeugung nach hatten nicht nur die Besucher von Großausstellungen, sondern letztlich alle durch Lärm, Hektik und Nervosität belasteten Großstädter ein Recht auf derartige Erholungsorte. Die Stadtverwaltungen reagierten jedoch mit Vorbehalt. Zu gering erschien ihnen die Nachfrage, und an die neuen akustischen Verhältnisse werde man sich schon gewöhnen. Der Traum des Arztes Robert Sommer, „öffentliche Ruhehallen“ in sämtlichen Großstädten Deutschlands zu errichten, blieb Utopie.

Linz, Fußgängerzone. Ende November 2008, als „Preview“ zum Kulturhauptstadtjahr, wurde in einem ehemaligen Lichtspieltheater im Zentrum der Stadt erneut ein öffentlicher Ruheort installiert: „Ruhepol Centralkino“. Drei Architekturstudenten von der Kunstuniversität Linz, Richard Steger, Tobias Hagleitner und Gunar Wilhelm, realisierten unter der Obhut von Professor Roland Gnaiger einen einfach und klug konzipierten, ausschließlich der Stille gewidmeten Raum. Knapp hundert Jahre nach Sommers Erstversuch entstand so erneut ein architektonisches Statement für einen bewussteren Umgang mit unserer akustischen Umgebung.

Dass dieser Ruheraum ausgerechnet in einem ehemaligen Kino eingerichtet wurde, erscheint als paradigmatische Weichenstellung. Der „Schau-Platz“ avancierte zum „Hör-Platz“. War das 20. Jahrhundert durch die Popularisierung der Massenmedien Fotografie und Film geprägt, so scheint das 21. Jahrhundert sich wieder mehr der akustischen Wahrnehmung zuzuwenden. Manche Zeitdiagnostiker sprechen gar schon von einer Renaissance des Hörens. „Ruhepol Centralkino“ ist denn auch Teil des umfangreichen Projekts „Hörstadt“, mit dem Linz sich im Kulturhauptstadtjahr als Metropole des Hörens zu etablieren versucht. Eine Politisierung des akustischen Raumes sei, so der zuständige Projektleiter, Peter Androsch, dringend erforderlich, insbesondere wenn man an die allerorts anzutreffende Zwangsbeschallung denke. Das Centralkino stellte für dieses Anliegen ein ideales Gebäude dar, nicht nur weil es zuletzt leer stand, sondern weil es durch seine Lage in der wichtigsten Linzer Geschäftsstraße einen wertvollen Kontrast zwischen lärmender Einkaufszone und stillem Rückzugsraum ermöglicht.

Unmittelbar nach Durchquerung eines Innenhofes gelangt man in das ehemalige Kinofoyer und von dort in den eigentlichen Ruheraum. Hier, im früheren Kinosaal, laden Sitzsäcke zum Lümmeln, Liegen und In-Den-Raum-Lauschen ein. Von oben strömt dezent Tageslicht herab, das zusammen mit der zurückgenommenen künstlichen Beleuchtung eine beruhigende Atmosphäre erzeugt. An den Wänden wurde ein lockeres Gewebe aus Sperrholzplatten abgehängt, ein Holzboden ersetzte den ehemaligen PVC-Boden. Holz, so die Architekten, bot sich als ideales Material an, da uns seine akustischen Eigenschaften, ebenso wie seine übrigen sinnlichen Qualitäten, seit Jahrhunderten zutiefst vertraut seien. So wurde der ehemals völlig schalltote Raum, der noch das geringste Geräusch verstärkte, durch geschickt aufeinander abgestimmte Einzelmaßnahmen akustisch aufgebrochen und „belebt“.

Das Ergebnis ist ein modern designter Raum mit asiatischem Flair und durchaus spirituellen Qualitäten. Wenngleich es von Anfang an darum ging, Stille in einem nichtreligiösen Kontext erfahrbar zu machen, so fühlt man sich als Besucher doch unwillkürlich in eine meditative Stimmung versetzt.

Im Unterschied zu Sommers Projekt ist für den Eintritt in den Linzer Ruheraum keine Gebühr zu entrichten. Betreut von zwei Aufsichtspersonen, soll der Genuss der Stille demokratisch frei zugänglich sein. Ein knappes und immer wertvoller werdendes Gut, auf das letztlich alle ein Anrecht haben.

Und in Wien? Auch hier hat die akustische Intensität allein schon im öffentlichen Raum deutlich zugenommen. Als europäische Großstadt ist Wien in besonderer Weise vom internationalen Trend zur Eventisierung und Festivalisierung betroffen. Weitreichende Transformationen, die die Soziologin und Kulturkritikerin Anette Baldauf in ihrer lesenswerten Publikation „Entertainment Cities“ analysiert. Auf den Bühnen der westlichen Städte werden, so ihre Diagnose, „groß angelegte Shows inszeniert, das Städtische auf hyperbolische Weise aufgeblasen und Urbanität in ihrem Exzess ausgestellt. Alles Inszenierungen, die Superlative einfordern – die Stadt ist lauter, größer, mehr.“

Parks, akustisch aufgemöbelt

In Wien waren Donauinselfest und Stadtfest in den 1980er-Jahren die Vorreiter, es folgten Großereignisse wie Love Parade, Vienna City Marathon und Silvesterpfad, Weihnachtsmärkte breiteten sich auf immer mehr Plätzen der Stadt aus, der Rathausplatz wurde gleich ganzjährig zum Festivalplatz erklärt. Öffentliche Grünflächen wie Prater, Augarten und Stadtpark werden mittlerweile regelmäßig „bespielt“, die Ufer von Donau und nun auch Donaukanal werden akustisch aufgemöbelt.

Nur zaghaft zeigen sich erste Ansätze zur Trendumkehr, zur Besinnung auf die essenzielle Notwendigkeit der Verankerung von Ruhe im Klangbild von Wien. Diskussionen wie in Linz oder Graz über ein Handyverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es bei den „Wiener Linien“ zwar noch nicht, doch immerhin wurde bereits 2006 in Wien-Margareten ein kleiner „Ruhe- und Sinnesgarten“ eingerichtet. Und in einem eigenen Stadtführer werden seit Kurzem jene „Wiener Orte der Stille“ beschrieben, an denen sich besonders gut innehalten lässt, von Kirchen (mittlerweile die wahren Hüter der Stille) über Klöster bis hin zu Friedhöfen und Parkanlagen.

Stellt sich abschließend die Frage, ob es vergleichbare zivilisationshistorische Konstellationen gibt, die – vor hundert Jahren genauso wie heute – ein steigendes Bedürfnis nach Ruhe hervorrufen. An erster Stelle sind hier wohl grundlegende ökonomisch-technologische Veränderungsprozesse zu nennen. Waren es zu Robert Sommers Zeiten Industrialisierung und Mechanisierung, die zu einer völligen Neuordnung der akustischen Umgebung führten, so sind es heute die Freizeitgesellschaft und die Verbreitung der computergesteuerten Mikroelektronik, die unseren Alltag akustisch neu zu strukturieren beginnen. Damals wie heute eine Herausforderung für unsere Ohren. Ob diese sich auch diesmal erfolgreich anzupassen vermögen, bleibt abzuwarten. Auf dass wir nicht einmal, wie Kurt Tucholsky befürchtete, am Ende unseres Lebens sagen müssen: „Es war ein bisschen laut!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2009)

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