Mit dem Skoda in den Luxus

27. Dezember 1989: Wir sehen erstaunt, wie die tschechoslowakischen Zöllner ein Auto nach dem anderen ins Freie winken. Es war wie in einem Traum: keine Kontrolle, einfach rüberfahren. Und schon bummelte ich durch Wiens Gassen. Vor 25 Jahren: mein erster Wien-Besuch. Eine Pragerin erinnert sich.


Als ich am Freitag, den 17. November 1989, nach Hause kam, waren die Fernsehnachrichten schon vorbei. Ich war zwar erst 14 Jahre alt, die frühen Abende durfte ich aber schon selbstständig mit meinen Freunden von unserer Neubausiedlung in Prag vier verbringen: meistens bummelnd und plaudernd beim einzigen „Einkaufszentrum“ in der Gegend, wo man nach 16 Uhr kein Brot mehr bekam und das den treffenden Namen Centrum trug.
Ich warf mich aufs Sofa im Wohnzimmer und fragte meine Mutter, was es zu essen gebe. Im Fernsehen lief ein Dokumentarfilm über amerikanische Eichhörnchen. Ein Programm, das offensichtlich keine Gefahr für die Meinungsbildung der tschechoslowakischen Öffentlichkeit darstellte.
Mein Vater, der normalerweise die Naturdokus mit mir anzuschauen pflegte, saß diesmal in der Küche, mit dem quietschenden Radio und einem Glas Bier vor sich auf dem Tisch. Er hörte Radio Free Europe oder Voice of America, einen der verbotenen Sender, die von der kommunistischen Regierung so gefürchtet waren, dass man sie nur stark gestört hören konnte. Ihr Quietschen und Knirschen war das Geräusch meiner Kindheit.
„Auf der Národní třída“ – der Nationalstraße – „wurde wahrscheinlich ein Student ermordet“, sagte er zu mir, als ich meine Suppe abholte.
Es würde pathetisch klingen, würde ich behaupten, dass mit diesen Worten meine Kindheit zu Ende war, und doch ist es nicht weit von der Wahrheit entfernt. Bis dahin hatte mich die Politik nur wenig angesprochen. Im September hatte ich mit dem Gymnasium begonnen und war hauptsächlich an den neuen Mitschülern interessiert.
Die kommunistischen Politiker hatten mein Leben höchstens in Witzen betreten, die auch schon unter Kindern meines Alters zirkulierten. Die Welt war zwischen „ihnen“ und „uns“ aufgeteilt. Nun war einer von „uns“ angeblich tot. Wir fühlten uns persönlich betroffen, und ich erinnere mich, wie mein Vater sagte: „Damit werden sie nicht mehr so leicht davonkommen.“ Es änderte nichts daran, als wir später mit Erleichterung erfuhren, dass es sich um ein Irrtum gehandelt und dass der Student Martin ?míd die Demonstration noch vor dem Polizeieinsatz verlassen hatte.
In den folgenden Tagen wurde ich von einem völlig unpolitischen Wesen zu einer jungen Aktivistin: Ich diskutierte vehement mit den Professoren, von denen einige schon vor der Revolution so tapfer waren, dass sie uns baten, sie nicht mit „Genosse“ anzusprechen, sondern mit „Herr“ oder „Frau“. Etwas, was in den Siebzigerjahren noch nicht infrage gekommen wäre.

Geheimpolizei im Haus

Leute wurden frecher, Politiker gehasst und verspottet, im Freundeskreis meiner Eltern gab es kaum jemanden, der noch an die „sozialistische Sache“ geglaubt hätte. Nicht einmal die Kommunisten.
Trotzdem war das, was in den folgenden Tagen passierte, keinesfalls selbstverständlich. Der Drachen hatte noch viele Köpfe. Ich habe zufällig zugesehen, wie ein Mitarbeiter der Geheimpolizei in unserem Haus noch im Dezember Václav-Havel-Plakate von der Wandtafel wütend herunterriss. Und als ich dann – ein naives, nervöses Mädchen voll von Idealen – an seiner Tür klingelte und ihn darauf ansprach, jagte er mich mit den Worten: „Du wirst noch sehen, wer diesen Kampf gewinnen wird, du 14-jähriges Gör!“, von der Schwelle.
Doch „wir“ waren mehr als „sie“: Als ich unter den 750.000 Menschen am 25. November auf der Letná in Prag fror, war es klar, dass die 40 Jahre kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei zu Ende gehen. Das Fernsehen fing an, die Ereignisse live zu übertragen, wir sangen „We Shall Overcome“, und von der Tribüne sprach Václav Havel. Vier Tage später beschloss die Föderalversammlung einstimmig, den Verfassungsartikel über die führende Rolle der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei zu streichen. Und am 4. Dezember öffneten sich die Grenzen zu Österreich. Tschechen (und Slowaken) durften nach mehr als 25 Jahren raus.
Wenn man nie hinter Gittern gelebt hat, kann man sich nur schwer vorstellen, wie attraktiv alles ist, was sich außerhalb befindet. Schon während des ersten Wochenendes nach der Grenzeröffnung haben 250.000 Tschechoslowaken den Grenzstreifen in die freie Welt überschritten. Die meisten fuhren natürlich nach Wien. In eine Stadt, die zwar östlich von Prag liegt, für uns aber ein Synonym des Westens, der Freiheit – und des Luxus – war.
Für meine Familie gab's aber anderes zu tun. Weihnachten stand vor der Tür, und eine gute zentraleuropäische Mama musste am Weihnachtstisch wenigstens zehn Sorten prachtvoll geschmückter Plätzchen vorlegen. Und während meine ältere Schwester Jana, die damals Medizin studierte, mit der spannenden Revolution alle Hände voll zu tun hatte, backte und schmückte ich schier unendliche Mengen von Kipferln und Ischler Törtchen (ja, die haben die fast 70 Jahre währende Trennung unserer Nationen unversehrt überlebt!) mit meiner Mutter. Erst nach Weihnachten entschlossen sich die Eltern, nach Wien zu reisen.
Als wir am 27. Dezember mit unserem gelben ?koda 120 die Grenze in Mikulov/Drasenhofen überschritten, waren wir in Sache „Westen“ eigentlich schon Profis. Wir waren nämlich auch schon im vergangenen Sommer in Österreich gewesen, nachdem meine Eltern und meine Schwester insgesamt 18 Stempel und Bewilligungen von Arbeitgebern und Universität bekommen hatten.
Der Schock über die Schönheit und den Luxus hinter der Grenze war unbeschreiblich. Die vielen Sorten Salami und Schinken beim Fleischhauer im ersten Dorf nach Wullowitz! Und dann die Alpen, die Pelargonien in jedem Fenster, und schließlich . . . Hallstatt! Die Theaterkulissenromantik dieses Städtchens habe ich nicht verarbeiten können: Es wurde mir unwohl, und ich musste mich in unser „funny car“ (wie die österreichischen Zöllner unseren ?koda nannten) zurückziehen.
Als wir dann zurück in die Tschechoslowakei wollten, ließen uns die Zöllner zweieinhalb Stunden an der Grenze warten, weil es im Fernsehen gerade ein Fußballspiel gab und es offensichtlich nicht schadete, uns ein wenig im eigenen Saft schmoren zu lassen: Wird man, oder wird man nicht, die übrig gebliebenen Schilling, die meine Mutter in die Sitzpolster eingenäht hat, finden?
Jetzt, Ende 1989, betrachteten wir erstaunt, wie die Zöllner ein Auto nach dem anderen ins Freie winkten. Es war wie in einem Traum: keine Kontrolle, einfach rüberfahren. Und schon bummelte ich, warm angezogen mit einer von einer alten Verwandten geerbten Jacke, durch Wiens Gassen. Es war die Zeit der Euphorie, die uns nicht einmal das Schild an einem Geschäft mit der Aufschrift „?eši Nekrást“ (wörtlich: Tschechen nicht stehlen) ruinieren konnte.

Besuch bei Herzmansky

Die Wiener waren freundlich zu uns: Einer zeigte uns, wo wir billig parken können, ein anderer sagte, wo man einen Stadtplan bekommt. Wien war prachtvoll, auch wenn es kalt und grau war. Und hinter den hektischen Wienern roch die Luft noch ein paar Sekunden nach erlesenem Parfum!
Sie saßen elegant angezogen in warmen, gemütlichen Cafés, über deren Geschichte uns mein Vater erzählt hatte, und schauten uns neugierig an: Wir waren in unseren alten Kleidern und einem Stadtplan in der frierenden Hand leicht zu erkennen.
Nur zweimal gingen wir in die Wärme: ins prachtvolle Kaufhaus Herzmansky, wo uns mein Vater mit leiser Stimme die tschechischen Wurzeln der Familie erläuterte und wo ich mich bemühen musste, meinen Mund geschlossen zu halten. Und dann bei McDonald's; das WC war damals wie heute kostenlos. Und dort bekamen wir auch unsere ersten „treats“: meine Schwester und ich je eine Büchse Cola (bei uns nur zu Weihnachten, dafür aber im Glas) und meine Mutter einen kleinen Cappuccino.
Wir fühlten uns wie Könige, für ein paar Momente gleich den Wienern, die um uns saßen, und nippten an unseren Getränken so langsam wie möglich. Und dachten nicht daran, dass die Erfrischung meinen Vater 18-mal so viel gekostet hatte wie die Wiener um uns.
Gut, dass wir damals nicht wussten, dass auch noch in 25 Jahren unsere Kaufkraft noch ein Drittel der Kaufkraft der Einheimischen sein und unser Präsident die Weltpresse mit einer Schimpfeskapade füllen würde. Aber das ist eine andere Geschichte. Lassen wir uns die Freude an dem wundersamen Wandel vor 25 Jahren nicht verderben! ■

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