Frauen, riskiert mehr!

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Wo Frauen im öffentlichen Feld mitmischen, steigt die Lebenserwartung – für Männer wie für Frauen. Die Wirklichkeit allerdings, die sieht nach wie vor ganz anders aus.

Frauen leisten weltweit zwei Drittel der Arbeit, erhalten ein Zehntel der Löhne und besitzen ein Hundertstel des Vermögens. In Österreich arbeiten Frauen jährlich zwei Milliarden Stunden mehr als Männer. Zwei Drittel ihrer Arbeit leisten sie unbezahlt. Ihr Einkommen liegt seit den 1970er-Jahren konstant 24 Prozent unter dem der Männer. Dazu zieht sich eine Spur männlicher Gewalt gegen Frauen durch die gesamte Geschichte.

All das hat Frauen offenbar zäh gemacht. Die Härten des ihnen aufgezwungenen Lebens scheinen vornehmlich den Stärksten Überleben und Fortpflanzung gewährt zu haben. So hat das Patriarchat dieses nachhaltige Modell Frau hervorgebracht. Sie verbrauchen zehn Prozent weniger Energie pro Kilogramm Körpergewicht und leben länger als Männer, in Österreich etwa fünfeinhalb Jahre. Richtig zu leben beginnen sie erst spät – dann, wenn der Mann aus dem Haus ist.

Frauen profitieren von den Wonnen herkömmlicher Partnerschaften weit weniger als Männer. Schon Nestroy bemerkte: „Mit der Heirat tauschen Frauendie Aufmerksamkeit vieler gegen die Unaufmerksamkeit eines Einzigen.“ Weitgehend unbemerkt und unbedankt nehmen Frauen im Rahmen der Familie in aller Regel die aushöhlende nährende Position ein. Nur verheiratete Frauen sind doppelt so häufig depressiv wie Männer, ganz besonders als Hausfrauen oder wenn sie arbeitslos sind. Ledige Frauen verüben praktisch keine Selbstmorde. Bei Männern ist es umgekehrt. Männer erweisen sich als relativ hilflos ohne Frauen, ihre Lebenserwartung sinkt deutlich mit einer Scheidung und noch mehr, wenn sie verwitwen.

Bösartig könnte man meinen, es füge sich für Frauen wie für Männer gar nicht schlecht, wenn Männer früher abtreten. Frauen leben länger, weil Männer kürzer leben. Dort, wo Männer Frauen nicht behelligen, leben auch sie länger. Im Kloster etwa. Männer (in großer Zahl) stecken sehr viel Energie in die Kontrolle weiblicher Sexualität. Sie scheuen den Vergleich mit anderen Männern, wollen dominieren, und es liegt ihnen viel daran, ihr Vermögen nur an leibliche Nachfolger zu vererben. Anders als bei den übrigen Primaten ist der Fruchtbarkeitsstatus einer Frau für Männer nicht erkennbar. Sie müssen, um sicher zu gehen, ihre Frauen praktisch rund um die Uhr belauern oder gewaltsam disziplinieren.

An monogamen Partnerschaften sind zunächst einmal Männer interessiert. Frauen erst insofern, als sie im Patriarchat vom unmittelbaren Zugang zu den ökonomischen Ressourcen gewaltsam abgetrennt wurden. Was es übrigens bei keiner anderen Spezies in der Natur gibt. „Kuckucksei“-Quoten zwischen fünf und 30 Prozent deuten angesichts einer geringen Befruchtungswahrscheinlichkeit auf eine hohe Seitensprungbereitschaft bei Frauen hin. Um ihre Chancen auf Vaterschaftsgewissheit oder gar auf die Monopolisierung weiblicher Sexualität zu steigern, sind Männer auf exklusive emotionale und materielle Bindungen angewiesen. Die Blockierung einer sexuell permanent potenten und jederzeit möglicherweise fruchtbaren Partnerin schmälert zudem ihre Muße, selbstnach Seitensprunggelegenheiten zu suchen. So haben patriarchale Imperative und die Evolution des weiblichen Körpers gerade Männer auf langfristige Selbstverpflichtungen konditioniert. Frauen habenandere Sorgen. Ihre Potenz steht außer Frage, und es gibt keine Zweifel an ihrer Mutterschaft. Frauen erweisen sich umfassend zur Polyandrie disponiert. Das hat bereits Darwin betont. Die Vorteile weiblicher Vielmännerei liegen auf der Hand. Frauen sind zunächst einmal sexuell potenter als Männer, brauchen keine Regenerationsphasen. Dazu kommt: Wenn mehrere Männer als Väter infrage kommen, investieren alle in ihren potenziellen Nachwuchs. Ethnologische Befunde belegen dies. In vielen Regionen der Erde helfen Bräuche den Müttern, Unterstützung von Männernzu erhalten, die nur vielleicht mit ihren Kindern verwandt sind. Wo Deklassierte mit unzuverlässig verfügbaren Ressourcen zurechtkommen müssen, wo Männer ihre Familien nicht versorgen, voraussichtlich jung sterben oder einfach verschwinden, gehen Mütter von Afrika und der Karibik über die Banlieues Europas bis zu den Innenstädten der USA polyandrische Beziehungen ein.

Männer kranken am Patriarchat. Männlichkeit ist weder etwas Naturwüchsiges, noch ist sie selbstbestimmt. Sie ist das Produkt psychosomatischer Sozialisationsarbeit und als Artefakt so prekär, dass sie ständig bekundet und erwiesen werden muss.

Bereits in der Adoleszenz bahnt sich das frühere Sterben an. In der Zeit des Aufrichtens ihrer Männlichkeit verunsichern sexuelle Erregungen die Buben, gehen sie doch mit Kontrollverlust einher. Diese setzen sich mit den bedrohlichen Gefühlen ihres Begehrens nicht auseinander, sondern schreiben etwa Angst und Abhängigkeit den Mädchen zu und verachten sie in diesen. Als Container für die eigenen abgewehrten Affekte und Eigenschaften dienen Frauen auch weiterhin der Validierung männlicher Selbstbilder – als Vexierbild zwischen allmächtiger Göttin und dummer Gans, Heiliger und Hure, Leben und Tod, je nach Bedarf. Während Mädchen das Experimentieren mit ihrem Begehren tendenziell nach innen richten, etwa über exzentrisches Essverhalten, wählen Buben den Weg nach außen, „in die Welt, manchmal auch direkt in den Himmel hinein, wie Ikarus es vorgemacht hat“, berichtet Kliniker Bernd Hontschik. Narzisstische Höhenflüge führen männliche Adoleszente als Unfallpatienten in die Chirurgie. Im „Risikohandeln“ eignen sich Knaben die Regeln für die „ernsten Spiele“ im öffentlichen Feld an, die der Herausforderung, des Wettbewerbs, des Kampfes und der Flucht.

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schildern eine Schlüsselszene aus Homers „Odyssee“ als bezeichnend für die Disziplinierung von Männern in der Patriarchatsgeschichte. Als Odysseus Gefahr läuft, samt seinen Gefährten Opfer des tödlichen Gesangs der Sirenen zu werden, gibt es für ihn nur zwei Möglichkeiten des Entrinnens. „Die eine schreibt er den Gefährten vor. Er verstopft ihnen die Ohren mit Wachs, und sie müssen mit Leibeskräften rudern. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren. Die andere Möglichkeit wählt Odysseus selber. Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, umso stärker lässt er sich fesseln. Das Gehörte blieb für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Lieds, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Die Bande, mit denen er sich unwiderruflich an die Praxis gefesselt hat, halten zugleich die Sirenen aus der Praxis fern . . .“

Entgegen der Jahrzehnte währenden Rhetorik der Veränderung bewegt sich an den stereotyp angestrebten „männlichen“ Tugenden kaum etwas. Das belegen zahlreiche Studien. Männer haben – im Gegensatz zu Frauen – keine neuen, variantenreicheren Selbstkonzepte entwickelt. Die (unbedachte) patriarchale Gleichsetzung von Mann und Mensch immunisiert Männer gegen eine Infragestellung ihres Selbstverständnisses. Frauen als untergeordneter Spezies liegt nicht so viel an ihrer Weiblichkeit, die zudem selten in Frage steht. Deshalb sind Frauen in ihrem Selbstkonzept beweglicher und können auch „männliche“ Attribute integrieren. Männern erscheint ihre Männlichkeit indes stets gefährdet. In Experimenten zeigt sich, dass ihr Selbstwertgefühl bereits sinkt, wenn ihnen eine Türe aufgehalten wird. Ernst zu nehmende Männer gestanden mir, sie fühlten sich kastriert, wenn sie Müll entsorgen sollen, ebenso wenn sie das Binnen-I in amtlichen Texten verwenden müssen. Männern, denen in Versuchen vorgeschützt worden war, ihre „männliche Identität“ scheine nicht ganz gefestigt, bevorzugten plötzlich SUVs, befürworteten die Todesstrafe sowie kriegerische Interventionen und verurteilten Homosexualität.

Ihre Angst vor Emotionen hält Männer davon ab, sich mit eigenen oder fremden Gefühlen auseinanderzusetzen. Männer wähnen sich in ihrer Coolness auf der rationalen Seite. Wissenschaftlich war diese Zuordnung indes stets unhaltbar. Heute deckt die neurobiologische Forschung die engen Verflechtungen von Emotionen, Wahrnehmung, Denken und Verhalten immer genauer auf. Ohne Emotion gibt es keine Motion, keine Bewegung. Ohne Emotion gibt es kein Motiv, keinen Beweggrund – ohne Emotionen also kein Handeln. Gefühle sind die Grundlagen unserer Bewertungen, Bewertungen die Motive unseres Handelns. Ohne Bewertung sind Sachverhalte gleich gültig, veranlassen zu keiner Tat.

Mit ihrer Immunisierung gegen Gefühle handeln sich Männer eine Blindheit für eigene wie für fremde Motive ein, eine massive mentale und soziale Beeinträchtigung. Männer erkennen etwa Gefühlsausdrücke in der menschlichen Mimik schlechter als Frauen. Besonders taub sind sie für traurige Frauengesichter. So bewahren sie einen kühlen Kopf für die „harten“ Fakten der Realität, können sich auf ihre angestammten Spiele in der Gesellschaft konzentrieren – wie Odysseus oder seine Ruderer, je nach Klassenlage. Mentale Engführung und Gefühlsblindheit, auf die viele Männer stolz sind, bringt diese oft in Turbulenzen. Unaufgeklärte Strebungen und Ängste erschweren rationales Handeln. Besonders, wenn es nicht gelingt, Mitspielerinnen im sozialen Feld richtig einzuschätzen.

Und schließlich: Wer Frauen nicht versteht, dem fällt es auch schwer, sie zu kontrollieren! Dann erweist sich Gewalt als probates Mittel. An ihrer mangelnden Virtuosität, soziale Signale zu entschlüsseln, drohen Männer stets zu scheitern. Ihre Seelenblindheit als Defizit einzusehen, würde sie in Widerspruch zu patriarchalen Imperativen bringen – also tappen sie weiter im Dunkeln. Das alles verursacht Frustration und Angst – Stress! Dieser spezifische Stress hat einen diagnostischenNamen: „Masculine Gender Role Stress“ (MGRS). Er basiert auf dem Gefühl körperlicher Unzulänglichkeit, der Furcht vor gefühlsbesetzten Situationen, vor Unterlegenheit gegenüber Frauen, vor intellektueller Unterlegenheit und Leistungsversagen generell. Berechtigte Ängste! Wer Selbstwert aus Überlegenheit speist, muss sich fürchten, wenn Frauen in den Hierarchien näherrücken und in ihrer Qualifikation Männer bereits überflügeln. Männer setzen zudem mit ihrer oft recht pathetischen Kraftmeierei in vielen Feldern bereits aufs falsche Pferd. Privilegien lassen sich damit nicht mehr legitimieren. So sehen sie ihre Felle davonschwimmen.

Stress versuchen Männer nun wieder mit männlichen Strategien abzufedern. Gewalt und Drogen bringen Entspannung. Gefährden allerdings die Gesundheit. In einer meiner Studien hat von allen erhobenen Faktoren der Antreiber „Sei stark!“ am stärksten mit Burn-out korreliert, besonders mit dem Aspekt, unglücklich zu sein. Stärke demonstrieren zu müssen heißt auch, dass Mann nicht einmal über seine Zores sprechen darf. In Studien erweist sich allerdings: Selbst härteste Schicksalsschläge können verkraftet werden, wenn Menschen darüber reden können. Männer haben selten intime Freunde, mit denen sie sich über Ängste und Niederlagen austauschen. Am ehesten noch leben sie ihren Frauen gegenüber eine gewisse Hypochondrie aus. Männer machen sich also unter ihrem eigenen Diktat fertig und können einander nicht trösten. Der männliche Habitus der Selbsterhöhung treibt Männer an ihre Grenzen. Das ist nicht nur ruinös! Ihr Streben nach Grandiosität beschert ihnen oft ein spannendes, inspirierendes Leben und vor allem auch Triumphe. Ohne Größenwahn hätte nie jemand ein Schiff bestiegen, um irrtümlich Amerika zu entdecken. Ohne Unverwundbarkeitsillusion hätte es viele Aufbrüche nicht gegeben.

Risikoverhalten bringt Lebensqualität. Optimales Erleben entsteht an der Grenze zur Überforderung. Mihály Csíkszentmihályi hat dieses Phänomen unter dem Titel „Flow“ beschrieben. Die neue Hirnforschung bestätigt: Wenn ein Wagnis besser ausgeht als erwartet, kommt es zu den stärksten Ausschüttungen körpereigener Opioide.

Frauen verpflichtet das Patriarchat zu Selbstbeschränkung und Vorsicht und damit auf ein langes, aber auch subalternes und unbedankt erschöpfendes Leben – ohne Kapriolen und mit geringen Opioidausschüttungen. Frauen würden Größenfantasien allerdings gut anstehen. Diese würden sie hinaus in die Welt treiben, auf dass sie all ihre Potenziale realisieren. Nicht nur ihr eigenes Leben würde dadurch bereichert. Wo Frauen im öffentlichen Feld mitmischen, steigt die Lebenserwartung für Männer wie für Frauen und Kinder. Das weist Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in weltweiten Studien nach und resümiert: „Nichts ist inder politischen Ökonomie der Entwicklung heute wichtiger als eine adäquate Würdigung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Teilhabe und Führungsrolle der Frau.“

Nicht alle Männer streben nach hegemonialer Männlichkeit. Die Abkehr von traditionellen Imperativen wird dadurch erleichtert, dass die Cross-Gender-Forschung zeigt, wie es sich für Frauen und Männer lohnt, stereotype Geschlechterrollen zurückzuweisen. Männer gewinnen an Lebenserwartung, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit, wenn sie Anteil nehmend sich selbst und andere verstehen. Frauen profitieren, wenn sie stärker auf Individualität und Unabhängigkeit setzen. Wie wäre es, wenn aufgeklärte Frauen und Männer mit Zivilcourage der Erotisierung von Dominanz und Unterwerfung ein Ende setzten? Wenn sie gemeinsam andere gesellschaftlich relevante Widersprüche in Angriff nähmen, zum Beispiel den von Arm und Reich?

In Wien ist die Lebenserwartung der Bewohner und Bewohnerinnen des ersten Bezirks um fünf Jahre höher als jener im 15. Bezirk. Das größte Nettohaushaltsvermögen der zehn Prozent ärmsten Haushalte und das kleinste der zehn Prozent reichsten Haushalte stehen in Österreich im Verhältnis 1: 581. ■


Daten zu den Ausführungen im Text können via evanovo@aon.at bezogen werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2015)

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