„Ich will, dass man hinschaut“

„Migration ist die ganz große Aufgabe. Die europäischen Regierungen stellen sich dem Thema nicht.“ Die Regisseurin Jacqueline Kornmüller über Ute Bock, dokumentarisches Theater – und über den Aufführungsort ihrer nächsten Inszenierung: das Wiener Jörgerbad.

Es riecht vertraut. Nach Chlor, Dunst und der Erinnerung anSchweiß. Die Umwälzpumpe säuselt, die Wellen plätschern, dann zerbricht ein lang gezogener Ton das gewohnte Bild. Jacqueline Kornmüller inszeniert „Die Botschaft von Kambodscha“ von Zadie Smith im Jörgerbad, Klemens Lendl von den Strottern wärmt die Stimme auf. Die Regisseurin hat nach zehn Jahren Schauspiel angefangen zu inszenieren, weil ihr, wie sie sagt „die andere Seite besser steht“, was durchaus als Zusichstehen verstanden werden kann. Sie arbeitete als Hausregisseurin am Staatstheater in Stuttgart, am Schauspielhaus in Hamburg und anderen Häusern, dann zog sie mit ihrem Mann, dem Schauspieler Peter Wolf, und ihrer Tochter Sophie nach Garmisch-Partenkirchen und ging ein Jahr spazieren.

Als die Familie nach Wien übersiedelte, fing sie „ganz frei an, um nicht wieder in diese alten Zwänge zu rutschen“. Sie inszenierte ein kleines Stück über das große „Buch der Unruhe“ von Fernando Pessoa in einer Bar und 2011 „Ganymed Boarding“, ein Projekt im Kunsthistorischen Museum, in dem Schauspieler wie Anne Bennent, Therese Affolter und Joachim Bißmeier eigens in Auftrag gegebene Bildbeschreibungen zeitgenössischer Autoren interpretierten. Ihre Arbeitsweise führte zu der restlos ausverkauften und viel gepriesenen Inszenierung zweier Stücke, „Die Reise“ 2011 und „Das Kind“ 2013, beide im Volkstheater, die sie ausschließlich mit Laiendarstellern erarbeitete.

Jacqueline Kornmüller, haben Sie in der „Reise“ zum ersten Mal mit Laienschauspielern gearbeitet?

Nein, in Hamburg habe ich ein Projekt entwickelt, das mit einer Annonce in der Zeitung anfing: „Wer über 65 hat Lust, mit mir im deutschen Schauspielhaus ein Stück zu entwickeln?“ Da haben sich über Nacht bei uns 1000 Menschen gemeldet, unglaublich. Sie kamen alle auf die Probebühne, und sechs Wochen lang habe ich mit diesen 1000 Menschen nur geredet. Ein täglicher Redemarathon von 10 bis 19 Uhr. Das war irrsinnig interessant. Ich habe dann die Texte des Castings auf die Bühne gebracht, nichts anderes. Das war eine sehr schöne Erfahrung. Das Stück hieß „Rosi, das hast du gut gemacht“.

Ein Zitat aus dem Casting?

Ja, eines Tages kam eine Frau zu uns, die war winzig klein und hatte auf der Brust eine große Rose. Sie sagte, sie sei immer allein, und weil sie niemand lobt, lobt sie sich selbst. Dann stellt sie sich einfach so in ihre Küche, legt sich die Hand auf die Schulter und sagt: „Rosi, das hast du jetzt eigentlich richtig gut gemacht.“

Was war das Thema dieses Stücks?

Ich hatte vor, mit den Alten übers Altern zu sprechen. Aber sie wollten alle nur über ihre Kindheit reden, diese Kindheit im Krieg, die sie entscheidend geprägt hat, die Toten und Verletzten, die viele von ihnen gesehen haben. Das muss man sich vorstellen, das sind ja damals in den Vierzigern alles Kinder gewesen, die dann mit wüsten Kriegserinnerungen aufgewachsen sind. Diese Zeit hat sich wie ein Schatten auf ihr ganzes Leben gebreitet. Was mich freut, ist, dass sich das „Rosi“-Ensemble immer noch trifft. Wir haben das vor sieben Jahren gemacht, und seither treffen sie sich jeden ersten Donnerstag im Monat in der Schauspielhaus-Kantine.

„Die Reise“ und „Das Kind“ handeln von unbekannten Menschen und deren teils traumatischer Geschichte. Das scheint genau das zu sein, was Sie interessiert.

Es ging darum, dorthin zu schauen, wo man normalerweise wegschaut. Ich bin ja selber zunächst ganz unvermittelt an dieses Thema gekommen, weil ich zufällig in das Haus direkt neben Ute Bock gezogen bin. Jeden Morgen bin ich auf die Straße gegangen und sah gegenüber eine kleine blaue Tür, Karmelitergasse 4. Das war damals der Sitz des Büros des Flüchtlingsvereins Ute Bock. Jeden Morgen standen dort 40 Menschen, denen es offensichtlich nicht gut ging. Da kann man ja nicht lang vorbeigehen, irgendwann muss man selber durch die blaue Tür. Und dann bin ich rein, hab Frau Bock getroffen, und sie hat mir von den Flüchtlingen erzählt, die obdachlos sind und – neben einer Unterkunft – dringend eine Meldeadresse brauchen. Frau Bock meldete sie an. Das hat mir zutiefst imponiert, und ich habe dann ein Jahr bei ihr im Postdienst gearbeitet. Die 1700 Menschen, die zwar nicht da wohnten, aber angemeldet waren, holten dort ihre Post ab. Und bei dem Austeilen der Post habe ich ihren Geschichten zugehört, und nach zwei, drei Postnachmittagen war mir klar, diese Geschichten müssen in ein Stück einfließen. Aus Hamburg kannte ich dieses Format ja schon. Dieses Mit-Menschen-Reden und Auf-die-Bühne-Bringen, was sie sagen. Das ist dokumentarisches Theater, das gibt's schon lang. Es mit Flüchtlingen zu machen, mit Menschen, die sich sehr schwertun, hier Fuß zu fassen, das hat meinen Blick auf die Dinge komplett verändert.

Warum wollen Sie gerade diese Dinge auf die Bühne bringen?

Ich will, dass man hinschaut. Es gibt so viele Vorurteile, und wenige Menschen verhalten sich empathisch oder mitfühlend. Diese Empathie fehlt oft in unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass manche Menschen, die helfen wollen, gar nicht wissen, wo sie ansetzen sollen. Sie befinden sich in einer Art Ohnmacht. So ein Projekt will natürlich aufzeigen, wo man ansetzen könnte. Das war auch bei der „Reise“ so. Nach jeder Vorstellung haben wir ein Gespräch mit dem Ensemble angeboten, und aus dieser Zeit stammen unendlich viele Querverknüpfungen und Kontakte, unglaublich viele Momente, in denen Menschen zu Menschen gefunden haben. Zum Beispiel David Jarju, der auch in der „Botschaft von Kambodscha“ mitspielt, hat so seine österreichischen Wahlgroßeltern gefunden. Er besucht sie ab und zu, sie laden ihn zum Essen ein, sie reden miteinander. Es ist einfach eine schöne, lockere Verbindung. Beide genießen dieses Verhältnis. Ich glaube, es geht genau um diese Begegnungsqualität.

Ein Versuch, die Welt zu verändern?

Ein Sensibilisierungsversuch. Man beschreibt die Welt, wie man sie wahrnimmt. Durch dieses genaue Hinschauen ergibt sich die Konzentration für einen Menschen, und darum geht es mir. Dasselbe passiert in dem Projekt „Vinzi Chance“, das ich mit Cecily Corti und ihrem Team entwickelt habe – in dem Wohnungslose aus der VinziRast schneidern, tischlern und Fahrräder reparieren. Da spürst du, mit vielen von ihnen hat schon lange keiner gesprochen. Ich meine nicht abfragen, sondern dieses tiefe Fragen, dieses sich tiefer Einlassen. Und hier, bei diesem Stück „Botschaft von Kambodscha“, geht es eben um so ein Mädchen, um ein Mädchen aus Afrika namens Fatou. Sie lebt als eine Art Haushaltshilfe und Kindermädchen in einer Familie, der Pass wurde ihr abgenommen, sie bekommt für ihre Arbeit kein Geld. Es gibt sehr viele Menschen, die so existieren müssen, weil für sie keine Räume geschaffen werden. Es geht mir darum, den Horizont zu erweitern, wieder den Menschen ins Zentrum zu rücken, zu sagen, da müssen wir alle ran an dieses Problem. Migration ist die ganz große Aufgabenstellung für alles, was zukünftig kommt. Die europäischen Regierungen machen so hilflose Aktionen wie das Frontex-Programm. Sie versuchen nur, dieses Problem in gewisser Weise einzudämmen, aber sie stellen sich dem Thema nicht, sie vertiefen nicht ihr Verständnis. Die Novelle von Zadie Smith ist sehr lakonisch erzählt, und man erfährt kaum etwas über die handelnden Figuren, man lernt ihren Charakter nicht kennen und wenig über ihren Hintergrund.

Warum haben Sie dieses Stück ausgesucht?

Ich finde es grandios, wie Zadie Smith diese Geschichte erzählt. Sie nimmt ein Beispiel, wie die Stecknadel im Heuhaufen, und erzählt gleichzeitig den ganzen Heuhaufen drumherum. Sie erklärt einem über das Beispiel von Fatou und über die Alleingelassenheit dieser Figur in einfachen Schritten, wie die Welt zusammenhängt. Und dass Ungerechtigkeit und Einseitigkeit nichts bringen. Man muss die Dinge aus einer größeren Perspektive betrachten. Und gleichzeitig sieht man in dieser Figur der Fatou, wie ihr Denken und Fühlen miteinander verknüpft sind. Das ist ja bei vielen Menschen nicht der Fall. Da funktioniert das Gehirn ohne Gefühl. Bei Fatou gefällt mir die einfache Art, wie sie über die Welt nachdenkt. Man kann jeden Schritt mitverfolgen und kommt plötzlich drauf, dassdas eigentlich ein riesiger Skandal ist.

Interessant ist auch, dass sie sich nie wehrt.

Ja, sie nimmt die Dinge hin, aber sie ist kein willfähriges Opfer. Sie lässt die Dinge mit sich geschehen, aber ihre Gedanken kann man ihr nicht nehmen. Zadie Smith hebt genau diesen Menschen aus der Anonymität. Ich habe das Buch von meiner Tochter geschenkt bekommen, und als ich es gelesen hatte, wusste ich, ich muss diesen Stoff erzählen.

Sie arbeiten diesmal mit Profischauspielern?

Gemischt, das ist eine ganz bunt gemischte Truppe. Die Strottern sind die Strottern, in Wien ist völlig klar, wer sie sind: Klemens Lendl und David Müller, zwei wunderbare Musiker, die hier erst einmal improvisieren und dann aus der Improvisation ihr Werk entwickeln. Der Schauspieler Peter Wolf ist dabei, mit dem ich häufig zusammenarbeite. Er erzählt Fatous Gedanken. Und es spielt Mimi Grünwald mit. Sie spielt die Rolle der Fatou und schwimmt. Mimi hat als Kind und als junge Frau durchaus ähnliche Erfahrungen gemacht wie Fatou. Man spürt auch in jeder Sekunde, dass sie diese Welt kennt, die Welt der Unterdrückung und des Rassismus. Ich habe sehr viele Frauen gecastet, und als ich Mimi kennenlernte, war mir sofort klar, dass sie diese Rolle spielen muss. Sie ist keine ausgebildete Schauspielerin, aber in ihrem Herzen ist sie eine Performerin. Mimi hat als ganz junges Mädchen gesungen, war schon im Showbusiness und hat sich davon gelöst, als sie Anfang 20 war. David Jarju kommt aus Gambia und hat in einigen meiner Inszenierungen mitgespielt. Dann gibt es noch Yoshi Maruoka, die auch bei der „Reise“ mitgespielt hat. Sie spielt diese Kambodschanerin, die nur ein einziges Mal auftritt. Das ist eine schöne stumme Rolle.

War es für Sie gleich klar, dass dieses Stück Musik braucht?

Es ist ja kein Stück, es ist eine Novelle, vollkommen angewiesen auf die Fantasie des Lesers. Hier in diesem Schwimmbad, das ja auch etwas von einer Kathedrale hat, bringt die Musik unglaublich viel Atmosphäre, ganz eigene Welten mit. Wenn Fatou anfängt zu schwimmen, dann hört man die Strottern eine Art afrikanische Musik spielen. Diese Vision taucht vielleicht nur für Sekunden auf. Die Musik hat die Möglichkeit, alles zu erzeugen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2015)

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