Alles paletti, oder?

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Ich bin nur ein einfacher Gymnasiallehrer in diesem Land. Der in vier Maturaklassen unterrichtet. Mir persönlich reicht es, ich werde so nicht weitermachen. Und meine Maturanten kann ich nur um Entschuldigung bitten.

Tatort: ZiB2-Studio, am Mittwoch, 22. April, so gegen 22.15 Uhr. Die Bildungsministerin eines kleinen mitteleuropäischen Landes lässt ihren Tausenden Maturanten des Jahres 2015 eine freudige Botschaft ausrichten. Zitat: „Die Zentralmatura bedeutet weniger Stress für Schülerinnen und Schüler.“

Im ersten Moment dachte ich, wir direkt Beteiligten an der Bildungsfront hätten diese Erleichterung wieder einmal nicht mitbekommen und ich hätte die Zustände in den achten Klassen einfach falsch interpretiert. Als Lehrer, der in vier Maturaklassen unterrichtet, kam ich aber tags darauf nicht umhin, die Schüler mit diesen magischen Sekunden des Interviews bei Armin Wolf zu konfrontieren – okay ich weiß, Telepädagogik ist verpönt, aber YouTube macht's möglich, und politische Bildung wird ja von allen Seiten gefordert.

Im Nachhinein würde ich mir wünschen, ich hätte die Reaktionen der Maturanten auf diesen einen Satz für die Verantwortlichen im Bildungsministerium gefilmt. Die Reaktionen waren – formulieren wir es möglichst positiv – äußerst imposant. Da war wirklich vieles mit dabei. Von ungläubigem Staunen bis hin zu Tränen, nicht der Rührung, sondern des Zorns. Eines sehr ehrlichen, geerdeten Zorns. Die Versuchskaninchen des Staates für ein weiteres Experiment auf dem österreichischen Bildungssektor, in dem sich offensichtlich sehr viele ungeniert austoben dürfen, haben sich im Laufe dieses Jahres ein sehr klares Bild verschafft. Die Jugendlichen haben gelernt, was sie und ihre Anliegen diesem Staat wirklich sind: offenbar völlig egal. Der Zorn der Eltern, die Ohnmacht der Schüler, die Bedenken von uns Lehrern – all das scheint ihm vor allem eines zu sein: gleichgültig!

Bevor die Premiere der Zentralmatura von den politisch Verantwortlichen dieser Tage allzu ausgiebig gefeiert wird, bedarf es aus meiner Sicht doch noch einiger Anmerkungen. Seit zwölf Jahren unterrichte ich alle Maturaklassen unserer Bregenzer Schule in Chemie. Ich empfinde es als eine Ehre, die jungen Leute mit dieser faszinierenden Materie vertraut zu machen. Jahr für Jahr hatte ich etwa 25 Maturanten in Chemie. Heuer ist das anders. Heuer habe ich 52. Der Grund ist, dass der neue Modus der Fächerwahl nicht funktioniert. Die Schüler – das ist logisch – wählen jene Fächer mit kleineren Themenpools. 52 Maturanten, das bedeutet circa 17 Stunden reine Prüfungszeit und geht sich somit „bis Dienstagnachmittag“ wahrscheinlich aus, doch aus den Rückmeldungen weiß ich, dass die Schüler und ihre Eltern nur noch darauf warten, dass dieser Irrsinn bald vorbei ist.

Kein Jahr hat bei allen Beteiligten so viel Frust erzeugt wie dieses. Die Pannen bei der Zentralmatura sind nicht die überlasteten Server oder die peinlichen Texte, die mitunter ausgewählt wurden. Das ist zwar stümperhaft, aber im Prinzip sind das kleine – eben österreichische – Fische. Die wirklichen Pannen sind der Qualitätsverlust im Unterricht und die Spuren auf den Seelen – jawohl! – der jungen Menschen, die dieses sinnlos überladene Jahr einfach nicht oder nur mit extremen Anstrengungen mehr schlecht als recht bewältigt haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so viele Maturanten hatten, die sich in ärztliche Behandlung begeben mussten. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich irgendwann so viele Eltern ratlos und kopfschüttelnd gefragt haben, was man mit ihren Kindern in diesem Schulsystem eigentlich macht.

Die Ministerin wies in ihrem Interview mit freudigem Pathos darauf hin, dass bei der ersten Säule der neuen Matura, der „vorwissenschaftlichen Arbeit“ (VWA), doch alles wunderbar geklappt habe. Ja, es stimmt, da waren tatsächlich einige beeindruckende Arbeiten und Präsentationen zu sehen. Die Bedingungen, unter denen die Maturanten die VWA erstellen mussten, könnten allerdings unterschiedlicher nicht sein und dürfen in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit zumindest hinterfragt werden. Die einen stammen aus einer Familie, die ihnen unter die Arme greift und glaubhaft vermitteln kann, dass man die eine oder andere Passage nun wirklich anders formuliert. Andere wünschen sich statt eines Smartphones eine VWA zu Weihnachten, und wieder andere haben das zweifelhafte Vergnügen, ihre Arbeit tatsächlich selbstständig zu realisieren.

Hinzu kommt, dass die Schüler bei ihren wissenschaftlichen Gehversuchen möglichst professionell von Lehrern betreut werden sollten, die ihrerseits nicht wissenschaftlich arbeiten. Meines Erachtens der größte Denkfehler bei diesem Produkt. Ein Professor an einer Universität hat einen Lehrauftrag und einen Forschungsauftrag. Publikationen zu generieren gehört zu dessen täglich Brot, und er profitiert davon, wenn er dies seinen Diplomanden so beibringt, dass sie ordentliche wissenschaftliche Arbeiten abliefern können. Wir an der Schule publizieren in der Regel nicht. Sozusagen ein Schwimmkurs im Trockenen, begleitet von vielfach sehr engagierten Betreuern, leider allesamt Nichtschwimmer. Man fühlt sich als Betreuer einer VWA ein bisschen so wie ein Veganer beim Verkosten verschiedener Leberkäsesorten – einfach ein wenig inkompetent – und verlässt sich dann eben auf sein Bauchgefühl.

Die Folgen dieses überladenen Jahres sind leider bis in jede einzelne Unterrichtsstunde zu spüren. Die Schüler sind sinnlos mit einem Produkt belastet, welches wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Jahr schwebt. Schlussendlich führt das zu unzähligen Fehlstunden (in einer achten Klasse sind es in den fünf Wochen vor der Abgabe der Arbeit bei 20 Schülern nachgezählte 645 Stunden!), weil sie ihre VWA sonst einfach nicht bewältigen können. Was wiederum zur Folge hat, dass man selten vollständige Klassen vor sich hat, sich bei vielen Schülern große Lücken auftun, die sie neben all den Schularbeiten und Tests beim besten Willen nicht mehr schließen können. So sitzen viele dann teilnahmslos im Unterricht, weil sie aufgrund der entstandenen Defizite schlicht nicht mehr folgen können. Ich habe meine Aufgabe als Lehrer bisher immer darin gesehen, den Schülern etwas beizubringen, nicht darin, sie zu benoten. Ich habe all die Jahre versucht, möglichst viele Schüler zu erreichen – in diesem Jahr war das einfach kaum mehr möglich.

Durch Standardisierung der mündlichen Maturafragen sind überdies die Lehrer aller Fächer gezwungen, um jeden Preis theoretischen Stoff zu pauken. Da wird in Musik immer seltener musiziert und gesungen und in Bildnerischer Erziehung auf praktische Arbeit vielfach verzichtet – nicht weil die Kollegen das nicht mehr wollen, sondern weil sie die Schüler in Hinblick auf die vorgeschriebenen, völlig unangemessen überfrachteten „Fragenpools“ mit Theorie vollstopfen müssen. Viele Erwachsene wissen von eigenen Fortbildungen, wie „erfrischend“ 36 Theoriestunden in einer Woche sein können. Die neue Matura hat daher vor allem eines erreicht: Sie hat die Qualität sowie die Kreativität in vielen Bereichen nachhaltig zerstört – und nebenbei noch den Humor aus den Klassenzimmern verbannt.

Ich bin nicht der Typ, der leichtsinnig von „Eiden“ spricht, aber ich habe wie alle meine Kollegen einen Eid geschworen: dass ich meine Arbeit mit den Schülern nach bestem Wissen und Gewissen verrichte. Das, was heuer in den achten Klassen abgelaufen ist, lässt sich in meinen Augen mit „bestem Wissen und Gewissen“ nicht mehr vereinbaren. So geht man mit jungen Leuten nicht um!

Die Gesetze eines Staates sollten dessen Bürger schützen. Meines Erachtens sind wir mittlerweile in der Schule in der skurrilen Situation, dass wir unsere Schüler vor den Gesetzen, Erlässen und Reformen dieses Staates schützen müssen. Ich ziehe den Hut vor jenen Schülern, die es heuer geschafft haben, sich durch dieses überladene Jahr zu kämpfen, und ich wünsche jenen, die verständlicherweise eingeknickt sind, von ganzem Herzen die Kraft, wieder aufzustehen und für ein für sie versöhnliches Ende ihrer Schulkarriere zu sorgen.

Ich bitte hiermit euch, meine Maturanten, um Entschuldigung, dass ich euch vor diesem unnötigen Wahnsinn nicht besser geschützt habe. Dass ich Stoffdurchgepresst habe, obwohl ich bemerkt habe, dass ihr in gewissen Situationen nicht mehr folgen konntet. Und ich danke euch, dass ihr für mein Handeln auch noch Verständnis aufgebracht habt. Qualitätsvoller Unterricht lebt davon, Themen wiederholen zu können, praxisorientiert zu arbeiten und möglichst viele Schüler mit den Inhalten so zu erreichen, dass sie das Gelernte als Werkzeuge für ihre Zukunft mitnehmen können. Unter den heurigen Rahmenbedingungen war das vielfach nicht mehr möglich.

Ich bin kein Bildungsexperte, ich bin einfach nur ein Lehrer in diesem Land. Aus meiner Sicht ist die Arbeit mit den jungen Menschen sehr intensiv, eine der spannendsten, die man kriegen kann. Ich bin Klassenvorstand einer genialen vierten Klasse und habe beeindruckende andere vierte und siebte Klassen, die mir immer wieder beweisen, dass der Urknall nicht ganz umsonst gewesen sein kann.

Mir persönlich reicht es, ich werde nicht noch ein Jahr so unterrichten. Ich werde mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür kämpfen – und ich weiß, dass ich da nicht alleine bin –, dass wir Qualität, Kreativität und das Lachen wieder zurück in die Klassen holen.

In der großen Politik unseres kleinen Landes ist immer wieder von der großen Verantwortung der handelnden Personen die Rede. Auch wenn ich der Ansicht bin, dass jede Schulbusfahrerin und jeder Schulbusfahrer tagtäglich mehr Verantwortung trägt, als viele Entscheidungsträger in unserer Republik sie jemals tragen werden, hätten die Zuständigen in der Bildungspolitik jetzt die Chance, sehr rasch und nachhaltig Verantwortung zu übernehmen. Oberstufenreform und Zentralmatura haben erheblichen und dringenden Reparaturbedarf, das muss sofort in Angriff genommen werden. Eventuell könnte man ja sogar auf die Rückmeldungen der direkt Betroffenen hören.

Für den Anfang wäre eine aufrichtige, öffentliche Entschuldigung für das verkorkste Jahr bei unseren heurigen Maturanten sehr angebracht. Wenn's geht, vor der großen Feier, bei der wieder mit pathetischen Worten beschönigt wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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