„Nimm dir ein Beispiel am Achi“

Alles begann in einem Klassenzimmer der Salzburger Gewerbeschule 1945. In der vierten Reihe: Johannes Gsteu, Wilhelm Holzbauer, Hans Puchhammer – und Friedrich Achleitner. Und in der zweiten Reihe: ich selber. Architekt, Dichter, Architekturkritiker: Friedrich Achleitner zum 85. Geburtstag.

Sein Sternzeichen ist Zwilling. Dieses führte ihn zu einem Leben zwischen Architektur und Literatur. Wir lernten uns bald nach dem Zweiten Weltkrieg kennen. Was bis dorthin mit ihm los war, muss er selbst erzählen: Die letzten Kriegszeiten noch im oberösterreichischen Nazireich, sein Schulunterricht auf der Napola in Seckau. Er hat davon schon einiges berichtet.

Schalchen, nahe Mattighofen und dem Kobernaußerwald, im Lande ob der Enns, war sein Geburts-, Kindheits- und Jugendort. Dort haben wir, seine Freunde, ihn später einige Male besucht, im Bauernhaus seiner Eltern uns mit selbst gemachtem Ribiselwein betrunken, im Winter auf den zugefrorenen Fischteichen vor dem Haus Eisstock geschossen – mit ihm, seinem jüngeren Bruder und Ortsbewohnern von Schalchen.

Das Kennenlernen begann am ersten Tag nach der Aufnahme in die Salzburger Gewerbeschule 1945/46. Direktor Rehrl fragte jeden nach seinem Herkommen. Ich sagte: „Hintersee.“ Vater? „Maschinenschlosser und Seilbahntechniker.“ Achleitner sagte, er komme aus Schalchen aus einem Bauernhaus im Innviertel, Bauern, Müllner und Forellenzüchter. Vater?, fragte Rehrl. „Vermisst“ war die Antwort.

In der Klasse der Gewerbeschule saßen neben uns Jüngsten auch manche Kriegsheimkehrer. Diese Mischung von Ungleichaltrigen (der Unterschied betrug bis zu neun Jahre) war vermutlich ein pädagogischer Gewinn. Obwohl man dort für das Baufach ausgebildet wurde und Baumeister werden sollte, konnte man auch die spätere Laufbahn eines Architekten einschlagen. Dies war in unserer Klasse im großen Ausmaß der Fall. In der vierten Reihe saß, neben Friedrich Achleitner, Johannes Gsteu aus Ischl, neben diesem Wilhelm Holzbauer aus der Salzburger Vorstadt Itzling, neben diesem Hans Puchhammer aus Timelkam in Oberösterreich. Ich saß in der zweiten Reihe neben Otto Leitner aus Unterach am Attersee; mein zweiter Nachbar: Erich Haubner, der dann später seine väterliche Salzburger Baumeisterfirma übernahm, wo ich als Ferialpraktikant arbeitete. Praktikum als Maurer oder Zimmermann war Voraussetzung.


Der Architekt Achleitner. Der Beginn meines Architekturstudiums nach unserer Matura an der Salzburger Gewerbeschule war für mich – nach kurzem Technischen-Hochschul-Intermezzo – im Herbst 1949 an der Akademie der bildenden Künste in Wien, an der Meisterschule von Clemens Holzmeister. Dort saß schon Johannes Spalt (allerdings älter, 1920 geboren) und der mit mir gleichaltrige Josef Lackner aus Tirol. Ich konnte mein Architekturstudium bereits 1952 (kaum 21 Jahre alt) mit dem Diplom abschließen.

Achleitner, Gsteu und Holzbauer hatten nach der Salzburger Matura ein Jahr Baupraxis absolviert, kamen also erst 1950 in die Meisterschule Holzmeister und diplomierten dort 1953.

Während des Studiums war es die Regel, dass man sich durch Zeichenhilfe in Architekturbüros Stundengeld verdiente. So arbeitete ich beim Behrens-Schüler Willi Kattus in der Neustiftgasse (später auch Achleitner). Architekten seiner Art waren mit Wohnhauswiederaufbauten in Kriegsbaulücken betraut. Noch in der Akademiezeit, bereits 1950, schlossen sich Spalt, Holzbauer, Leitner und ich zur „arbeitsgruppe 4“ zusammen. Unter dieser Bezeichnung nahmen wir an Wettbewerben teil. Vermutlich nahmen sich dies Achleitner und Gsteu zum Vorbild und gründeten nach dem Diplom ihre Arbeitsgemeinschaft. Unser erstes Werk war die Kirche Parsch in Salzburg (1953 bis 1956). Achleitner-Gsteus erstes Werk war die bauliche und liturgische Erneuerung der pseudogotischen Rosenkranzkirche in Wien-Hetzendorf (1956 bis 1957).

Achleitner wollte sich damals schon von der Architektur befreien. Um leben zu können, arbeitete er stundenweise (ohne Engagement, wie er meinte) als Zeichner bei Architekten, so bei Ferdinand Kitt. Erwähnt werden soll die Salzburger Sommerakademie auf der Festung Hohensalzburg, deren Architekturklasse 1953 vom Schweizer Architekten Hans Hofmann geleitet wurde. Vor allem waren es dann die Sommerseminare dieser Institution von Konrad Wachsmann der Jahre 1956 und 1957, an denen wir teilnahmen und die für eine ganze Architektengeneration grundlegend wurden. Auch für Achleitner. Schon in der Salzburger Gewerbeschule wurde Achleitner sprachlich und philosophisch wahrgenommen. In den Wachsmann-Seminaren war er eine wichtige Stimme.


Der Dichter Achleitner. Friedrich Achleitner schenkte mir in der Akademiezeit den unveröffentlichten Lyrikband „Lot und Waage“ – eine Herausgabe wäre ihm vielleicht nicht recht. Dies war vor der Zeit der später so genannten Wiener Gruppe. Im Jänner 1956 erschien eine winzige Schrift, „alpha“, neue Dichtung, Wienerlieder von H. C. Artmann (wossarsawaa, kindafazara, sche blau und scho grau) und Dialektgedichte von Gerhard Rühm in ebenso phonetischer Schreibweise. Inspirierend für Achleitner.

Am 17. Mai 1955 unterzeichneten wir,etwa 25 Künstler verschiedener Berufsgruppen, im Zusammenhang mit dem Österreichischen Staatsvertrag Artmanns Manifest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs. Achleitner war dabei. Artmann und Spalt hatte man im Krieg noch in Wehrmachtsuniformen gesteckt. Wir von der „weißen Generation“, in der NS-Zeit zu jung, nach 1955 zu alt, entkamen dem Militär.

Einschub: Als ich Achleitner nach Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags im Café „3/4“ in der Neubaugasse traf und ihn nach Neuigkeiten fragte, griff er nach seinen Hosenträgern und ließ sie schnalzen: „Der Vater ist heimkommen.“

Weiter mit Dialektdichtung. Bekanntlich hat Artmanns Buch „med ana schwoazzn dintn“ voll eingeschlagen. Daraufhin erschien 1959 „hosn rosn baa“ mit Dialektgedichten von Achleitner, Artmann, Rühm – am Titel Porträts der drei Dichter in Scherenschnitten von Achleitner. Achleitner nannte seine Dialektgedichte „Obdaennsa“. „Die Dichter entdecken den Dialekt“, schrieb Heimito Doderer im Vorwort. Am 20. Juni 1957 fand im „Intimen Theater“ in der Wiener Liliengasse die Lesung „dichtung“ mit Achleitner, Artmann, Conrad Bayer, Oswald Wiener statt (Gerhard Bronner stellte das Lokal zur Verfügung). Dies war eine Veranstaltung, die der Öffentlichkeit eine neue Literatursprache bekannt machte. Ich half beim Projizieren von Lichtbildern, der Apparat fiel bald aus, Artmanns Dia von Erzherzog Johann blieb stecken. Das Erste Literarische Cabaret fand am 6.Dezember 1958 in der Wiener Windmühlgasse (ohne H. C. Artmann) statt. Achleitner trat als „Biertrinker“ auf. Er folgte den Regieworten. Zum Schluss hieß es: „friedrich wird scheißschwechater sagen.“ Diese Szene war auf die Ablehnung eines Werbefilms unseres Freundes Peter Kubelka durch die Schwechater Brauerei gemünzt. Ein weiterer „Fachbeitrag“ bleibt in Erinnerung: Ossi Wiener schneidet auf offener Bühne Achleitner die Haare, dieser schaut dabei in den „Spiegel“ – die Wochenzeitschrift.

Das Programm des Literarischen Cabarets war zu umfangreich, nach drei Stunden wurde aufgehört. Als Fortsetzung fand am 15. April 1959 im Wiener Porrhaus am Karlsplatz das Zweite Literarische Cabaret statt. Höhepunkt war die Einfahrt Achleitners in den Saal auf seinem Motorroller, auf dem Sozius Gerhard Rühm, beide mit Hacken bewaffnet und durch Gesichtsmasken geschützt; dann stürzten sie auf die Bühne und zertrümmerten das Klavier.

Auch in unserem Architekturatelier im Dachgeschoß der Fuhrmanngasse ereignete sich einiges. So entstand dort 1957 nachts die Gemeinschaftsarbeit „schwurfinger“ (angeregt durch eine dort befindliche Plastik von Karl Prantl). Als Verfasser galten Achleitner, Bayer, Rühm, Wiener. Leider wurde vergessen, in die Autorenliste „ohne Peter Kubelka“ einzufügen. Er saß auf einem Korbstuhl mit dabei.

Wiederholt kam es zu sogenanntenMontagen, die Achleitner aus vorhandenen Texten konstruierte („montage mit weiß“, „montage mit himmel und hammer“). 1957 habe ich ihm das in einem Antiquariat erworbene „k.k. Exerzierreglement“ gegeben. Achleitner montierte daraus „vorbereitungen für eine hinrichtung“. (In meinem Exemplar finde ich in seiner Handschrift den Satz: „diese montage gehört friedrich kurrent.“). Doderer war von dieser Hinrichtung hellauf begeistert.

Als letzte Zusammenfassung der Wiener Gruppe wurde am 10. April 1964 im „Chattanooga“ die „kinderoper“ aufgeführt (didadadadoderer). Bald darauf ging Conrad Bayer in den Tod. Artmann war überall unterwegs. Rühm verließ Wien Richtung Berlin. Wiener auch, gründete dort das Gasthaus „Exil“. Nur Achleitner hielt die Wiener Stellung – bis auch er 1973 mit einem Berlin-Stidpendium ein Jahr nach Berlin übersiedelte. Dort verfasste er seinen „quadratroman“ (fast quadratisch).

Noch eine Erinnerung: 1961 fand in meiner Wohnung am Spittelberg das Hochzeitsfest für Achleitner statt, er hatte in erster Ehe Karin Mack geheiratet, ich war Beistand. Dieser Ehe entsprossen ein Sohn und eine Tochter. Zum Fest kamen alle Freunde. Doderer und die Dichterfreunde verfolgten gespannt die raffinierten Erzählungen meiner Wohnungsnachbarin Hermine Koci. Auf der Pawlatsche stehend, fidelte Andreas Urteil nachts herzzerreißend auf seiner Geige.

Der Dichter Achleitner konnte von der Dichtung nicht leben, nachdem er 1958 seine Architektenarbeit aufgegeben hatte. In unserem Atelier versteigerten wir Achleitners Architekturbibliothek. Wir, besonders Spalt und ich, forderten vehement Architekturkritik. Schon 1954 hatte uns, die „arbeitsgruppe 4“, Hans Weigel aufgefordert, in seinen „Stimmen der Gegenwart“ über Architektur zu schreiben. Das gemeinsame Schreiben ist eine Tortur. Den Artikel „Vom Bauen“ hat eigentlich Achleitner geschrieben.

Der Architekturkritiker Achleitner. Ab 1961schrieb Achleitner über „Bausünden“ in der „Abendzeitung“ – unter dem Pseudonym Christon (dem Mädchennamen seiner Mutter). Ab 1962 bis 1972 schrieb er im Alleingang wöchentlich (zehn Jahre wöchentlich!) in der„Presse“ Architekturkritik. 1963 wurde er von Roland Rainer an die Akademie am Schillerplatz geholt. Er unterrichtete dort zehn Jahre die Architekturstudenten und -studentinnen in einem Kellerkammerl – voll mit Heizröhrln – in der Vorlesung „Geschichte der Baukonstruktion“. Von dort wurde er an den Stubenring (heute Universität) geholt, wo er das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1995 leitete.

1980 durfte ich auf ihn die Laudatio anlässlich der Verleihung des „Österreichischen Preises für Architekturpublizistik“ halten. Dieser Preis ging auf eine Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGfA) zurück, weil amtlich für dieses Gebiet nichts vorgesehen war. Achleitner war zusammen mit Maria Biljan-Bilger, Sokratis Dimitriou, Wolfgang Gleißner (später Johannes Poigenfürst), Viktor Hufnagl, Wolfgang und Traudl Windbrechtinger und mir im Jahre 1965 Gründungsmitglied der Architekturgesellschaft. Heuer kann sie ihr 50-Jahr-Jubiläum feiern.


Der Bautenführer Achleitner. Im Auftrag des Salzburger Residenz Verlages unter der Leitung von Wolfgang Schaffler kam es zur jahrzehntelangen Arbeit an seinem Bautenführer zur „Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“. Alle Bundesländer sollten behandelt werden. Wie leicht nachzuprüfen ist, fehlt Niederösterreich.

Achleitner dosierte die jeweilige Bedeutung der Bauwerke sehr genau. Manche bekamen nur eine kurze schriftliche Erwähnung, andere eine stärkere Hervorhebung mit einer kleinen Abbildung, die bedeutendsten Werke erfuhren genaue Analysen und große Bebilderung. Achleitners Unterlagen zum Bautenführer und auch seine Diathek der Vorlesungen erwarb das unter der Leitung von Dietmar Steiner stehende Architekturzentrum Wien – dort gibt es Zugang für Wissenschaftler und Architekturforscher.

„Der Achleitner“, schrieb der bedeutende deutsche Architekturkritiker Manfred Sack in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“, ist der Beste – „es gibt keinen Besseren auf der Welt“.

Achleitner stand auch mit dem unvergleichlichen Berliner Architekturinterpreten Julius Posener in dauerndem fachlichem und persönlichem Kontakt. Die beiden waren durch gegenseitigen Respekt und gegenseitige Freundschaft verbunden. So tauften Friedrich und Barbara Achleitner, seine zweite Frau, ihren Enkel, den Sohn ihrer Tochter, Julius. Als ich fragte: „Nach wem? Nach Julius Raab? Nach Julius Cäsar?“, war die Antwort: „Nach Julius Posener.“

Friedrich Achleitner hat sich mit seiner Frau Barbara und Freunden um die Errichtung der „Maria-Biljan-Bilger Ausstellungshalle“ in Sommerein am Leithagebirge verdient gemacht und auch profund darüber geschrieben. Dafür möchte ich mich hier bedanken! Auch für seinen Artikel über mein Synagogenprojekt an der Ringstraße. Meine spätere Frau Maria Biljan-Bilger, die Keramikerin, Bildhauerin und Textilkünstlerin, sagte des Öfteren – wenn ich eine übertriebene Handlung setzte: „Nimm dir ein Beispiel am Achi, wie der diszipliniert ist.“


Der Publizist Achleitner. Ein frühes Buch (gemeinsam mit Ottokar Uhl) erschien in den Sechzigerjahren über den genialen Architekten Lois Welzenbacher im Salzburger Residenz Verlag. In den Siebzigerjahren folgte Achleitners „Ware Landschaft“ – der Band brachte Klärungen heikler Fragen, aber auch Verunsicherungen.

Typisch für Achleitner ist dieses Abwägen. Eine von ihm oft gehörte Erkenntnis heißt: Die Wahrheit liegt sicher in der Mitte. Zu den jüngsten Büchern zählt, 2013 im Zsolnay Verlag erschienen, „Den Toten eine Blume“, den etwa 20 Denkmälern gewidmet, die unser Freund Bogdan Bogdanović in allen Landesteilen des ehemaligen Jugoslawien errichtet hatte.

Viele Schätze liegen noch ungehoben, vielleicht 200 Architektenporträts, Vorlesungstexte, die spätesten an der Kunstuniversität Linz gehaltenen.

Friedrich Achleitner ist in allen österreichischen Bundesländern als Architekturfachmann, gleichermaßen als Dichter bekannt. Man sucht seinen Rat. Auch in unseren Nachbarländern, angeführt von Deutschland und der Schweiz, hat sein Name Gewicht.

Erst sehr verspätet, im vorigen Jahr, am 21. November, erhielt er aus denHänden von Kulturminister Josef Ostermayer das „Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst“.

Ein zweites Leben wäre notwendig, um alles zum Ende zu bringen. Für einenZwilling kein Problem. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.