Sex, Semmeln und der Heilige Geist

Semmel
Semmel(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ohne besonderen Grund kommt niemand in die Herbststraße. Sie gehört nicht zu den schicken Einkaufsmeilen, wie wir sie unweit, innerhalb des Gürtels, finden. Ich allerdings habe sie ins Herz geschlossen. Eine Einladung ins tiefe Ottakring.

Ich wohne in der Herbststraße, Wien Ottakring. Nie gehört? Kein Wunder, die Straße ist nicht sonderlich bekannt,und auch ihr Namensgeber, Eduard Herbst, ein liberaler Politiker, der Endeder 1860er-Jahre drei Jahre lang österreichischer Justizminister war, ist längst vergessen. Sind Sie in Wien mit dem Auto unterwegs? Wenn Sie die westlichen Bezirkebefahren, kennen Sie vermutlich die Koppstraße, die den Verkehr stadtauswärts führt, und die Gablenzgasse, die Sie zurück ins Zentrum bringt. Genau dazwischen liegt die Herbststraße.

Es ist eine unscheinbare Straße, die am Gürtel, einen Wohnblock von der Lugner City entfernt, beginnt und hinein ins tiefe Ottakring führt. 1,7 Kilometer ist meine Straße lang. Ich wohne ziemlich genau in der Mitte der Herbststraße. Von hier aus kann man am Horizont bereits den Wienerwald erkennen. Wenn ich zum Küchenfenster hinausschaue, blicke ich auf die endlos lange, sich über einen ganzen Straßenblock erstreckende Fassade der Radetzkykaserne, in der das Militärkommando Wien untergebracht ist.

„Arbeiten die Soldaten schon?“, fragten unsere Kinder früher, als sie noch sehr klein waren,kaum hatten sie frühmorgens einen Blick auf die erleuchteten Fenster der Kaserne gegenüber geworfen. Ja, spätestens um sechs geht's dort los. Dafür ist nach 15 Uhr niemand mehr hinter den Kasernenfenstern zu sehen. „Und wenn der Krieg in der Nacht ist?“, fragte mich einmal mein kleiner Sohn. Ich wusste auch keine Antwort.

Ohne Grund kommt niemand in die Herbststraße. Sie gehört nicht zu den schicken Einkaufsstraßen, wie wir sie nicht weit entfernt, innerhalb des Gürtels, im siebten oder achten Bezirk, finden. Die Herbststraße mutet, wie ähnliche Vorstadtstraßen, etwas trostlos an. Sie führt durch dicht bebaute Zinshausviertel ohne viel Grün dazwischen. Die Bauten entlang der Straße wurden um 1900 für die rasch wachsende Arbeiterschaft errichtet, und zwar in halsbrecherischem Tempo. Denn das eingesetzte Kapital sollte möglichst rasch Rendite bringen. Die oft billigst hochgezogenenBauten wurden rasch vollgepfercht, die Wohnungen waren meist überbelegt, der Lebensstandard niedrig.

Dieses Ottakringer Wohnungselend der Jahrhundertwende gehört zwar längst der Vergangenheit an. Aber immer noch zählt der Bezirk zu den ärmsten im Wiener Vergleich. Die Nahversorgung ist der niedrigen Kaufkraft angepasst, Lidl, Penny, Hofer. Gourmetabteilungen gibt es in den Supermärkten keine, die Feinkostvitrinen könnte man fast übersehen.

Früher gab es hier, man erkennt es noch an den Ladenschildern, deutlich mehr Einzelhandelsgeschäfte sowie etliche Milch- und Brotläden. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Das Elektrogeschäft ein paar Meter stadteinwärts hat vor Kurzem für immer zugesperrt, die Trafik ebenfalls. Leerstand beherrscht das Straßenbild zu ebener Erde, dazwischen haben einige Änderungsschneidereien aufgemacht, auch drei Friseurläden, ein paar türkische, serbische und kroatische Lokale und eine Pizzeria gibt es in meiner Straße. Die Apotheke am Gürtel hat sich längst auf die serbisch-kroatisch-türkische Klientel eingestellt. Unter dem Schriftzug „Apotheke“ steht zu lesen: „Ljekarna – Eczane“. Vor sechs Jahren sind wir von der Josefstadt hierhergezogen, weil wir uns die größere Wohnung nur in der billigen Vorstadt leisten konnten. Es war vor allem in den düsteren Wintermonaten des ersten Jahres ein Schock. Hie die reiche Josefstadt, dort das arme Ottakring. Plötzlich ging mir in unserer neuen Straße sogar die Weihnachtsbeleuchtung ab, die ich in der Josefstadt nie gewürdigt hatte.

Inzwischen sind wir hier in Ottakring halbwegs heimisch geworden. Die Kinder gehen gleich um die Ecke in den Kindergarten respektive in die Schule. Ich habe die raue Herbststraße, in der ich fast täglich zu Fuß unterwegs bin, sogar ein wenig ins Herz geschlossen. Vor Kurzem hat der Bezirk 21 Bäume pflanzen lassen, sodass das Grau der Straße ein paar grüne Tupfer bekommen hat. Und so will ich nun, da ich nach längerem Zögern hier angekommen bin, eine Einladung aussprechen: Kommen Sie, ich zeige Ihnen meine Straße. Genau 21 Minuten sind wir zu Fuß unterwegs, ich hab's ausprobiert.

Für mich beginnt meine Straße im Café Weidinger am Lerchenfelder Gürtel 1, gleich gegenüber der U6-Station Burggasse. Natürlich, streng genommen steht das Café in der Parallelstraße, aber das macht nichts, für mich markiert es den Beginn meiner Straße. Fast täglich bin ich hier zum Kaffeetrinken und Zeitunglesen. Am Wochenende frühstücke ich mit der Familie im Kaffeehaus, Samstag ist daher für uns Weidinger-Tag.

Im Sommer sitzen wir im lauschigen Gastgarten, im Winter ganz hinten bei den Billardtischen, hier haben die Kinder genug Platz, mit ihren Rollern ein paarmal herumzukurven, bevor der Kellner zur Aufnahme der Bestellung naht. Anfangs war es der pfiffige Kellner Herr Franz, der gern mit den Kinder geschäkert hat. Er ist ist inzwischen in Pension. Dann, bevor wir aufbrechen, dringen die Kinder noch kurz in die Kaffeehausküche vor, zur liebenswürdigen Frau Jadwiga, die ihnen als Wegzehrung eine Süßigkeit zusteckt.

Wenn ich am Morgen im unteren Teil der Herbststraße unterwegs bin, treffe ich täglich, auch sonntags, auf Männer, die stundenlang am Straßenrand stehen. Viele von ihnen stammen aus Polen. Sie suchen Arbeit. Die Herbststraße, ist neben der Brünner und der Triester Straße, seit vielen Jahren für ihren Arbeiterstrich bekannt. Hier, an der Ecke Herbststraße 6–10/Ludo- Hartmann-Platz, war jahrzehntelang, seit 1927, das Arbeitsamt Ottakring untergebracht. 1975 wich das alte, einstöckige Gebäude einem Neubau.

Das Arbeitsamt ist inzwischen seit vielen Jahren nicht mehr hier, und dennoch ist die Herbststraße für manche die Straße der Arbeitssuchenden geblieben. Und dies trotz regelmäßiger Kontrollen und baulicher Maßnahmen. So wurde etwa die Durchfahrt vom Gürtel her mit Pollern gesperrt. Die Männer vom Arbeiterstrich haben diese Maßnahmen nicht verdrängt.

Einkaufsparadies ist die Herbststraße keines. Aber die eine oder andere Ware ist hier doch erhältlich. Ich will Ihnen drei Läden vorstellen, einen Fleischhauer, einen Schuster und einen Bäcker.

Die Fleischhauerei Landl in der Herbststraße 11 ist ein ordentlicher, alteingesessener, ursprünglich im Burgenland beheimatet gewesener Fleischereibetrieb, der seinen Sitz seit 1970 in der Herbststraße hat. Ein paar Straßen weiter, gleich nach dem Studio „Tattoo 4 you by Alfred“ in der Herbststraße 27, das ich nur von außen kenne, gibt es eine Schusterwerkstatt der besonderen Art. Daniel Malayev ist nicht irgendein Sohlenflicker, sondern ein ausgezeichneter Schuster der alten Art, der nicht nur Schuhe repariert, sondern sogar neue produziert. Seine Spezialität: Cowboystiefel. „Gringo Boots“, so steht's auf dem Ladenschild vor seiner Eingangstür. Da mein Bedarf in diesem Bereich gering ist, bringe ich ihm nur regelmäßig meine Schuhe und jene der Kinder zur Reparatur vorbei. Nun heißt es Ausschreiten. Denn die Bäckerei Schwarz in der Herbststraße 91, die wirklichesBrot und nicht nur stündlich frisch aufgebackene Ware aus dem modischen Backshop anbietet, liegt schon im letzten Drittel der Straße.

Ach ja, fast hätte ich's vergessen: Noch etwas gibt es in der Herbststraße zu kaufen: Sex.Im Nachbarhaus, das die Hausnummer 66 trägt, befindet sich, hinter roten Scheiben, ein kleines Bordell. Passenderweise heißt es „66“. Gelegentlich, vor allem, wenn es heiß ist, steht die Eingangstür ein wenig offen, und auf einem schäbigen Sofa sitzen, plaudernd, lachend und essend, einige junge Frauen. Das Etablissement 66 liegt an unserem Weg in den Kindergarten und in die Schule. Bisher haben mich die Kinder (vier und sechs Jahre alt) nicht gefragt, warum die Frauen in diesem Haus so leicht bekleidet sind. Langsam werde ich mir eine Antwort überlegen müssen.

Die Dichte an Bordellen ist in derHerbststraße genauso groß wie jene der Lebensmittelläden. Drei zu drei. Und weil wir schon bei der Statistik sind: Die – gefühlte – BMW-Dichte (ich habe das nie exakt erhoben), flotte silbergraue Wagen, die vorzugsweise von jungen Burschen im Kurzhaarschnitt gelenkt werden, ist hier in Ottakring besonders hoch. Ja, und noch etwas ist mir in der Herbststraße aufgefallen: Hier gibt es noch zwei Telefonzellen, deren Nutzen ich kürzlich meinen Kindern erklären musste.

Fast jeden Tag spaziere ich, wenn ich auf dem Weg zu Kindergarten oder Schule bin, an einem architektonischen Kleinod vorbei, das mich immer wieder von Neuem fasziniert: die Heiliggeistkirche in der Herbststraße 82. Mich wundert, dass vor diesem mehr als 100 Jahre alten und dennoch radikal modernen Bau nicht pausenlos Busse stehen, die Architekturbegeisterte herankarren. Die 1911 bis 1913 nach Plänen des slowenischen Architekten Josef Plečnik erbaute Kirche war seinerzeit eine Kampfansage an den historistischen Mainstream. Die bewusst einfach gehaltene, unverputzte Eisenbetonfassade mutet wie eine Mischung aus Tempel und Industriebau an. Innen herrscht dezente Eleganz im Geist des Jugendstils. Inmitten der vielen unscheinbaren Zinshauszeilen und der gesichtslosen Gemeindebauten mutet dieser Bau wie ein kleines Wunder an. Und tatsächlich hat die noch halbfertige Kirche für heftige Kontroversen gesorgt. Aber das liegt nun hundert Jahre zurück.

Hinter der Kirche – es geht nun nach stetem leichten Anstieg eben dahin – ist die geballte Zinshausarchitektur, die so typisch ist für den Arbeiterstadtteil Ottakring, mit einem Mal zu Ende. Hier hat in der Bebauung die öffentliche Hand die sichtbarsten Spuren hinterlassen. Links und rechts der Straße liegen nun vor allem Gemeindebauten und Schulen. Als nach 1900 die Bevölkerung im Bezirk explodierte, wurden in der Herbststraße, aber auch in der angrenzenden Koppstraße und in der Brüßlgasse, mehrere große Schulbauten hochgezogen. Die bekannteste ist die nach der österreichischen Soziologin benannte Marie-Jahoda-Schule (Herbststraße 86), in der unter anderem die „Vienna Bilingual School“ untergebracht ist. Nicht weit entfernt, in der Herbststraße 104, wurde Anfang der 1920er-Jahre eine „böhmische“ Schule errichtet. Immerhin waren viele der Zuzügler im boomenden Ottakring der Jahrhundertwende tschechische Arbeiter, deren Kinder nun Schulen brauchten. Der Bau wurde von 1923 bis 1927 vom tschechischen Schulverein Komensky errichtet. 1966 ging er in Bundesbesitz über. Heute ist darin die Bundeslehranstalt für Mode und Bekleidungsgewerbe, die sogenannte Modeschule, untergebracht.

Wir steuern auf das Ende der Herbststraße zu. Vor uns liegt die verkehrsmäßig pulsierende Possingergasse. Schnell drüber hinweg und hinein in eine kurze Allee, die ebenfalls von Gemeindebauten gesäumt ist. Links der um 1930 errichtete Pirquet-Hof, ein stolzer Gemeindebau des Roten Wien, rechts eine Anlage ehemaliger Polizeihäuser, errichtet kurz vor dem Ersten Weltkrieg für Mitglieder der k. k. Sicherheitswache.Heute liegen die einst ideologisch deutlich getrennten Bauten friedlich nebeneinander. Mir fällt auf, dass der Wiener Krippenbauverein im Block der ehemaligen Polizeihäuser untergebracht ist und nicht gegenüber, im roten Bauwerk. Aber das ist gewiss nur Zufall.

So, das wäre sie, die Herbststraße. Sie sind nun, nach dem Marsch durch halb Ottakring, erschöpft und hungrig? Einen letzten Tipp habe ich in diesem Fall noch, zwar nicht in der Herbststraße, aber nur wenige Schritte davon entfernt. Spazieren wir zum Abschluss unserer kleinen Wanderung durchdie nahe gelegene Sport- und Kleingartenanlage Schmelz. Dort gibt es, mitten im Grünen und unter Kastanienbäumen, das legendäre Gasthaus „Schutzhaus zur Zukunft“. Wenn wir bei Spareribs und Bier – das vegetarische Angebot auf der Karte ist weniger ausgeprägt – den Blick über die Tische schweifen lassen, merken wir: Hier sitzt in seiner breiten Vielfalt fast ganz Ottakring. Prost Mahlzeit! Und kommen Sie wieder! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2016)

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