Die Omas von Kischinau

„Expedition Europa“: Teufelszeug Pass-Nummern – ein Besuch in Moldawien.

Eigentlich wollte ich mich mit jenen moldawischen Omas verbrüdern. Ich hörte vor Jahren von ihnen, als mir vor einer Kirche in der nächtlichen Hauptstadt Kischinau ein Zeltlager auffiel. Meine progressiven moldawischen Freunde erklärten kichernd: „Da schlafen Omas drin, die protestieren gegen die satanischen Nummern in den neuen Pässen.“ Später hörte ich von einem Teilsieg der christlich-orthodoxen Gläubigen, sie wurden von der neuen, 13-stelligen Identifizierungsnummer befreit. Ohne die Omas zu kennen, schaute ich sie spontan für Heldinnen an.

Endlich klopfte ich an ihrer farblosen Baracke im Zentrum. In der zum Moskauer Patriarchat gehörenden Gemeinde „Toaca“ sind auch ein paar Jüngere aktiv, doch öffnete mir ein moldawisches Großmütterchen wie aus dem Bilderbuch. Sie gab mir Exemplare ihrer Zeitschrift auf Rumänisch und auf Russisch. Die Tendenz der Artikel war, höflich gesagt, voraufklärerisch, Juden, Papisten, Freimaurer und Amerikaner kamen ganz schlecht weg. Die braunhaarig-braunäugige Alte war bei den Protesten vorneweg marschiert, langsam löste sich ihre Zunge.

Ich fragte sie, wie sie ohne einen EU-konformen Pass reisen kann. „Ich kann nirgendwohin reisen, aber wozu auch? Wenn es hier so schön ist!“ Ihre Kinder und Enkel hatten sich biometrische Pässe ausstellen lassen. „Gut ist das nicht“, sagtesie, „aber die kommen auch noch drauf.“ Da ich schon da war, ließ ich sie meinen österreichischen Pass anschauen. Schweigend versenkte sie sich in das vollgestempelte Dokument, misstrauisch strich sie über alte Visa. Sie überprüfte, ob mein Pass keinen Strichcode hatte. Sie überprüfte, ob mein Pass keine 13-stellige Nummer aufwies. Sie überprüfte, ob in meinen Pass kein Chip eingeschweißt war, mit dem ich rund um den Globus zu orten wäre. Patriotische Gefühle schwollen in meiner Brust – mein Pass ist clean.

Herrschaft des Tieres

Nach endlosem Zögern kramte sie unter der Budel die Broschüre hervor, welche die Ablehnung solcher ID-Nummern aus der Offenbarung des Johannes begründete. Die Broschüre musste mehrmals eingeweicht worden sein, vielleicht bei der 40 Tage und 1200 Kilometer langen Wallfahrt der Omas entlang der moldawischen Grenze. Man muss nicht religiös sein, um sich vor der lebenslangen Verwaltung eines Menschen mit Hilfe einer einzigen Nummer zu gruseln. Vor Entfremdung und Verdinglichung warnend, zitierte die Broschüre Bibelstellen, laut denen die Namen der Geretteten „im Himmel geschrieben sind“. Der Verlust des Namens bedeute „die Herrschaft des Tieres, unter der sich die Menschen in eine entpersönlichte, kybernetisierte Biomasse verwandeln“. So hatte ich das noch nicht gesehen.

Bei all meiner Sympathie war mit der Oma nicht gut Kirschen essen. Jedes Mal, wenn ich den Orthodoxen ein Kompliment machte, blickte die Frau ihren braunen, formlosen Mantel hinunter und wiegte ungläubig den Kopf. Sie warf mir den gregorianischen Kalender und das katholische Kreuzzeichen vor: „Das ist doch falsch.“ Als ich die Schönheit ihres Kruzifixes lobte, zeigte sie auf die nebeneinander angenagelten Füße: „Und warum stellen ihn die Katholiken mit überkreuzten Füßen dar? So war das doch nicht!“ Ich hätte sagen sollen, dass Velázquez eh zum Viernagelkreuz zurückgekehrt war; leider wusste ich das noch nicht.

Einmal fragte ich sie, was sie von den jetzigen Protestlagern hielt, ausgelöst durch den Diebstahl einer Milliarde durch die Machthaber Moldawiens. Sie winkte ab: „Wenn die Menschen hier reicher wären, würden sie dann nicht weniger beten?“ Als ich ging, wünschte ich ihr ehrlich alles Gute. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, sind die Omas ohne Strichcode cool. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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