Brenner unser

Cars drive along a street with a sign reading ´Brenner-Brennero´ in the Italian village of Brenner on the Italian-Austrian border
Cars drive along a street with a sign reading ´Brenner-Brennero´ in the Italian village of Brenner on the Italian-Austrian border(c) REUTERS (DOMINIC EBENBICHLER)
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Der Brenner als heißer Ort der Geschichte schien abgekühlt. Nun, angesichts der Idee neuer Grenzzäune, leben die Geister der Vergangenheit wieder auf. Von der Natur der Grenze: Hinweise eines Südtirolers.

Es muss wohl Ende der 1960er-Jahre gewesen sein, als ich zum ersten Mal von Österreich habe reden hören. Ich war damals etwa fünf Jahre alt. Irgendein Verwandter aus dem Südtiroler Pustertal, in dem ich aufgewachsen bin, ist etliche Kilometer bis nach Osttirol gefahren und hat von der anderen Seite der Grenze herrliche Köstlichkeiten mitgebracht: Bananen und Schokolade. Beides war in Österreich viel billiger als in Italien.

Österreich war für mich als Kind also zuallererst das Schlaraffenland, das wunderbare Geschenke bereithält. Obwohl die Grenze nur 25 Kilometer von meinem Heimatort entfernt ist, lag Österreich damals für mich weit, weit weg. Österreichische Zeitungen wurden in den Jahren meiner Kindheit in Südtirol nicht gelesen (für die bundesdeutschen Touristen lag beim lokalen Greißler die „Bild“-Zeitung bereit), Fernsehapparat hatten wir zu Hause lange Zeit keinen. Und als viel später Abend für Abend die „Zeit im Bild“ über den Bildschirm flimmerte, sahen meineEltern die Sendung nicht, weil sie sonderlich an Österreich interessiert gewesen wären, sondern weil es damals keine ernst zu nehmende deutschsprachige TV-Alternative gab.

Auch in der Schule war Österreich kaum einThema, kein Wunder, hatten wir doch Schulbücher aus Bayern und nicht aus Österreich. Obwohl ich so nahe an der Grenze aufgewachsen bin, war für mich die andere Seite Tirols also zunächst ein fremdes Territorium. Irgendwann aber, inzwischen war ich wohl zehn Jahre alt geworden, überquerte ich selbst ab und zu die Grenze. Diese kleinen Ausflüge ins Nachbarland dürften freilich nur mäßig aufregend gewesen sein, denn ich erinnere mich nur daran, dass mein Vater in seinem kleinen Fiat 850 bald hinter dem Grenzbalken Stopp machte, an einer Tankstelle. Schon damals war das Benzin in Österreich billiger. Dann tuckerten wir zurück, nicht einmal ins Gasthaus gingen wir, und auch Schokolade gab es keine, von Bananen ganz zu schweigen. Wären wir in einemWirtshaus in Sillian eingekehrt, hätte ich bestimmt meine geliebte „Aranciata“ bestellt, die es in Österreich freilich nicht gab. Und hätte mich dann wohl zwangsläufig mit einem „Obi“ zufrieden gegeben, das ichnicht kannte. Nach Nordtirol bin ich erst als Jugendlicher gekommen, während eines Schulausflugs im Gymnasium. Unser Ziel damals: der Alpenzoo in Innsbruck. An den Brenner, den wir damals überquerten, kann ich mich nicht mehr erinnern.


Wenn ich heute über den Brenner fahre oder von Osttirol nach Südtirol wechsle, ist nichts mehr so, wie es damals war. Denn ich lebe nun schon seit mehr als drei Jahrzehnten auf der anderen Seite der Grenze, in Österreich. Meine Aufenthalte in Südtirol beschränken sich auf Ferienzeiten und Familienbesuche. Auch die Grenze selbst hat sich verändert. Die Zeiten, da der Grenzübertritt zwangsläufig über ein kleines, militärisch anmutendes Reich von Uniformierten führte, gehören seit dem 1. April 1998 der Vergangenheit an. Seit damals ist Österreich Teil des Schengen-Raums, und ab da entfielen die Grenzkontrollen.Das ist nun knapp 20 Jahre her. Meinen Kindern, die wie selbstverständlich in ein Europa ohne Grenzen hineingewachsen sind, schilderte ich das alte Regime des Grenzübertritts mit Schlagbalken und Passkontrolle oft als Relikt der Vergangenheit. Ich sollte mich aber irren. Wer hätte schließlich vor zwei Jahren geahnt, dass die Grenzen mitten in Europa wieder dichtgemacht werden könnten, dass an den europäischen Binnengrenzen die Passkontrollen wieder eingeführt werden?

Noch viel weniger vorstellbar war, dass an den ehemals aufgelassenen Grenzübergängen nicht nur Schlagbäume, sondern Maschendrahtzäune errichtet würden, um Fluchtrouten zu unterbrechen.

In der Sprache der Bürokratie ist 2015 ein neuer Begriff aufgetaucht: Grenzmanagement. Was ist darunter zu verstehen? Wohl nur die Quadratur des Kreises: Wieschafft man es, zuallererst den binneneuropäischen Warenverkehr nicht zu stören. Sodann EU-Bürger und Touristen möglichst unbehelligt durch Europa zu befördern. Und schließlich zielsicher jene Personengruppen an den reaktivierten nationalstaatlichenGrenzübergängen herauszufiltern, die draußen bleiben sollen: Flüchtlinge, die aus unterschiedlichen Gründen im reichen Europa Zuflucht suchen.


Was ist der Brenner? Beginnen wir mit den dürren Fakten. Der Grenzübergang ist mit seinen 1370 Meter Höhe über dem Meeresspiegel der niedrigste, aber bei Weitem meistbefahrene Alpenübergang in Nord-Süd-Richtung, ein gewaltiges Nadelöhr des Verkehrs: Knapp zwei Millionen Sattelschlepper und Lkw-Züge donnerten 2015 über den Brenner, vom privaten Verkehr gar nicht zu reden. Am Brenner hält man sich nicht auf, es sei denn, um auf der Durchreise eine kurze Rast einzulegen und einen Cappuccino zu trinken. Konsumbegeisterte parken ihr Auto vielleicht vor dem neuen Outlet Center, das von Hosen und Schuhen bis hin zu Dessous und Schokolade alles bietet, was das Shoppingherz begehrt. Aber sonst?

Am Brenner gibt es wenig zu sehen. Das stenografische Protokoll des Ortes in Reiseführern ist entsprechend kurz und bündig. Wir erfahren etwa, dass im Mittelalter „66-mal deutsche Kaiser über den Pass gezogen“ seien, dass die Brenner-Eisenbahnstrecke – eine „Großleistung der Technik“ – 1867 in Betrieb gesetzt wurde und dass seit 1919 der Brenner die Staatsgrenze zwischen Österreich und Italien sei. „Das heutige Dorf Brenner“, so der leicht angejahrte Reiseführer weiter, „ist eine Großsiedlung mit Kasernen für die Grenzpolizei und Zollwache, Bürogebäude und Anlagen, die der Abfertigung des Güterverkehrs dienen. Eine Reihe von Gastbetrieben und Verkaufsständen tragen dem kleinen Grenzverkehr und dem Durchgangsverkehr Rechnung. Von den früheren Bauernhöfen, die sichum die Sankt-Valentins-Kirche gruppierten, ist nur noch wenig zu sehen.“

Nun: Die Grenzpolizei- und die Zollwachebeamten, das sollte berichtigt werden, die sind vor einigen Jahren weggezogen.Aber der Rest stimmt noch. Der Brenner ist also trotz jüngster ökonomischer Wiederbelebungsversuche ein typischer Nichtort, eine Art gigantische Durchgangsschleuse zu „wirklichen“ Orten, den eigentlichen Reisezielen, im Süden wie im Norden. Der Brenner ist ein riesiger Verschiebebahnhof im Gebirge, eine Stauzone des Transitverkehrs, ein permanenter Wartesaal für Durchreisende, eine windige Wetterscheide, ein atmosphärischer Vorhof zwischen Italien und Österreich. Und nun, wenn das „Grenzmanagement“ umgesetzt ist, vermutlich auch eine Sackgasse für Flüchtlinge.

Im Unterschied zu anderen österreichischen Grenzorten, etwa Walserberg, Spielfeld oder Nickelsdorf, ist der Brenner jedoch ein hochgradig symbolischer, ein von der Geschichte geprägter Ort. Wie sonst wäre es erklärbar, dass die Debatten um die Errichtung eines Zauns in Spielberg weniger Aufregung verursachten als in Sachen Brenner, wo beim gleichen Thema die emotionalen Wogen hochgehen, und zwar dies- und jenseits der Grenze?

Die 1919 gezogene Brennergrenze schnitt, so wollte es die eine Sichtweise, das alte, historische Tirol entzwei. Sie wurde von vielen jahrzehntelang als „Unrechtsgrenze“ angeprangert. Die andere Sichtweise, die im italienischen Nationalismus seine Wurzel hat und im Faschismus zur offiziellen Staatsdoktrin ausgebaut wurde, sprach vom „Brennero“ als heiligem Eckpfeiler der „Italianità“. Bild geworden ist diese Ideologie in der Schullandkarte meiner Mutter, die in einem kleinen Südtiroler Dorfwährend der Zeit des Faschismus die italienischsprachige Volksschule besuchte. Auf dieser Landkarte aus dem Jahr 1939,die sich bis vor Kurzem neben Schnittmustern, Stricknadeln und Bleistiften in der Esstischschublade meiner Eltern befand, findet der territoriale Wunschtraum des italienischen Faschismus seinen bildlichen Ausdruck. Im Süden endet die Italianità im eroberten Libyen und in Abessinien, im Norden am Brenner. Das Mittelmeer heißt auf dieser Landkarte „Mare nostrum“.

Wenn wir uns heute am Brenner umsehen, stoßen wir auf die baulichen Reste dieser nationalstaatlichen Symbolik, die in den befestigten Grenzen geradezu heilige Umrandungen staatlicher Territorien sah. Da ist der alte Grenzstein aus Marmor, der im Jahr 1920 am Brenner die neue Grenze zwischen Österreich und Italien demonstrativ verankerte. Kurz zuvor waren den Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs territoriale Opfer abverlangt worden: Unter anderem ging Südtirol an Italien. Da ist aber auch die faschistische Inschrift aus dem Jahre 1938 auf einem der Häuser direkt am Grenzübergang Brenner, die einen gewissen „Giovanni Volfgango Goethe“ zum Kronzeugen der angeblich „natürlichen Grenze“ an der Schwelle zur römischen Zivilisation aufruft. In der jüngeren Vergangenheit sind diese Relikte einer (je nach Perspektive) schmerzhaften oder triumphalen Vergangenheit verblasst. Der Brenner als heißer Ort der Geschichte ist abgekühlt. Nun, angesichts der Idee neuer Grenzzäune am Brenner, leben die Geister der Geschichte wieder auf.


Hunderte Male bin ich schon über den Brenner gereist. Früher, vor 1998, war das, egal ob man mit dem Zug oder dem Auto unterwegs war, stets mit Warten verbunden. Am trostlosen Grenzhäuschen auf der österreichischen Seite hieß es: „Passkontrolle!“ Und dann, etliche Meter weiter, am trostlosen italienischen Hüttchen, hieß es neuerlich: „Passaporto, per favore!“ Auch der Zug machte am Brenner meist längere Zeit halt, entweder weil man umsteigen musste oder weil zwischen Italien und Österreich auch eine andere Grenze lag, jene zwischen Gleichstrom-Lokomotiven und Loks, die mit Wechselstrom betrieben werden.

Unzählige Male besuchte ich, um die Wartezeit an diesem windigen Unort zu verkürzen, die kleine Bar am Gleis sechs, neben dem Zeitungskiosk. Musste ich mich länger am Brenner aufhalten, ging ich stets in die Bahnhofsbar am Rande der Gleisanlagen. Der kalte, nüchterne Gastraum war, so erinnere ich mich, immer schon ein wenig zu groß für die Anzahl der Reisenden und Wartenden. Aber die Ästhetik dieses Zwischenraumes widerstand jahrelang standhaft den Veränderungen, die sich vor der Tür abzeichneten. Da war etwa die Kollektion der riesigen Segelflugzeugbilder an der Wand, die wie aus der Zeit gefallen schienen. Und da waren die Flipperautomaten an den Wänden, deren Geräuschpegel, wie mir scheint, von Jahr zu Jahr ein wenig abnahm. Bis sie irgendwann verschwanden: die Bar, die Segelflugbilder, die Automaten.


Vor etlichen Jahren, als ich wieder einmal im Niemandsland Brenner ankam, packte mich aneinem sonnigen Sommertag die Neugierde. Gleich nach dem Grenzübergang, direkt hinter der Carabinieri-Kaserne, schlugich zu Fuß den kleinen, unscheinbaren Pfad ins Gebirge ein. Der Weg führt in engen Kehren steil hinauf. Schon nach wenigen Minuten tut sich eine ganz und gar ungewohnte Perspektive auf: der Brenner von oben. Ein riesiges Transitareal breitet sich uns zu Füßen aus, auf dem der Verschiebebahnhof mit Dutzenden von Gleislinien bei Weitem den größten Raum einnimmt, daneben die Stränge der Autobahn und fast senkrecht unter uns die Bundesstraße, die durch den Ort selbst führt. Ebenso ungewohnt: die Brennerarchitektur von oben. Sozialer Wohnbau in vier bis sechs Stockwerken, schmale, hohe Häuser, metallene, ganz und gar nicht alpine Balkone, enge, betonierte Innenhöfe. Eine Eisenbahnersiedlung, wie sie eigentlich auchin Bologna stehen könnte, rasch hochgezogen in den Jahren des italienischen Faschismus. Aus dieser Perspektive offenbart der Ort seinen eigentlichen Charakter: Er ist eine phantomhafte Industriesiedlung des Verkehrs, erbaut auf 1300 Meter Meereshöhe. Ein Ort, der zur Gänze an der Nabelschnur des Transits hängt, oder besser: seiner temporären Stockungen.

Demnächst werde ich wieder über den Brenner reisen. Vor einigen Jahren noch hatte ich geglaubt, dass die trostlose und gottverlassene Anmutung der alten Brennergrenze ein gutes Zeichen für Europa ist. Je unwichtiger der Brenner wurde, desto stärker, so hoffte ich, wächst Europa zusammen. Nun wird am Brenner wieder gebaut. Die Symbolik der Grenze wird reaktiviert. Keine guten Vorzeichen für Europa. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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