Inseln ohne Strom

„Expedition Europa“: das ukrainische Venedig im Donaudelta.

Diese Augusttage waren so heiß, dass sich im Donaudelta sogar die Gelsen verkrochen. Ins „ukrainische Venedig“ Wilkowo fuhr ich aus Interesse für die „Altgläubigen“, „Raskolniki“, „Lipowaner“. DieseRussen hatten sich 1654 der Kirchenreform des Moskauer Patriarchen Nikon verweigert und waren in die Fürstentümer Moldau und Walachei geflohen, unter die Oberhoheit des osmanischen Sultans. Mehr als ein Jahrhundert später mussten sie zusehen, wie sie unter die Herrschaft des expandierenden Zarenreichs gerieten. Heute sind diese russischen Anti-Kreml-Rebellen Bürger einer Ukraine, die gegen russische Pro-Kreml-Rebellen kämpft. Dies schien mir eine Nachfrage zu lohnen.

Ich stieg im „Venezia“ ab, im zubetonierten Zentrum. Speiste Froschschenkel, die wie Hendlhaxen mit einem Stich ins Fischige schmeckten. Ging auf Holzstegenan den schmalen Kanälen entlang, vorbei an den aus Schilf gemauerten Häuschen. Stieg an ihrem „Canale Grande“ in ein Holzboot. Ließ mich zu einer Insel hinausfahren, auf der noch lipanische Familien ohne Strom leben. Sah an der Donau das Touristen-Resort des Oligarchen Schmud,vor Hütten mit gelsenvernetzten Veranden räkelten sich Stadtfrauen im Gras. Sah eine alte Lipowanerin mit Kopftuch, die in ihrer Zille zu ihren Kühen ruderte, auf eine sieben Kilometer entfernte Insel. Als ich Kühe auf einem Inselchen grasen sah, hörte ich den stolzen russischen Satz: „Mehr bio kann ein Steak nicht sein.“

Sektiererisches Erbe bewahren

Es ist unbegreiflich, warum die Altgläubigen ihre größte Siedlung in den Sumpf setzten, waren doch auch damals feste Inseln verfügbar. Sie aber buddelten Jahr für Jahr den Schlamm aus den Kanälen und befestigten damit ihr Grundstück. Dass überhaupt ein so großer Tross ins Donaudelta strebte, war den Medien des 17. Jahrhunderts zuzuschreiben. Die Altgläubigen hatten die Information, dass sich die Rumänisch-Orthodoxen noch mit zwei Fingern bekreuzigten, obwohl diese früher als Moskau zum Drei-Finger-Kreuz übergegangen waren. Das Einzige, was bei ihrer Ankunft galt, war die kirchenslawische Liturgie ihrer rumänischen Gastgeber.

Diesen August waren in Wilkowo nicht alle sicher, ob die Mehrheit noch altgläubig sei. Die sowjetischen Fischfabriken sind zugesperrt, die Einwohnerzahl ist geschrumpft. Tausend Schlaglöcher führen in die Grenzgemeinde, der Kontakt zu den Lipowanern im rumänischen Delta gegenüber ist abgerissen. Über die Altgläubigen wurde gesagt, dass sie gegen die EU seien, weil sie an ihren Werten festhielten, dass sie aber auch nicht großrussisch dächten. Aus dem Russisch der Lipowaner hörte ich ihren Dialekt nicht mehr heraus. Auch wenn gemischte Ehen zwischen Raskolniki und Russisch-Orthodoxen inzwischen akzeptiert werden, ist das sektiererische Erbe noch da. Mein Bootsmann, 16, quatschte mich mit Dogmen seiner evangelikalen Gemeinde voll.

Ich fragte nach den Lipowanern im Krieg. „Es ist für alle schwer“, sagte eine altgläubige Oma, „für uns wie für die Ukrainer.“ Ihre Freundin erinnerte sich mit aufgerissenen Augen: „Die Einberufungskommission kam bei Nacht und führte wehrpflichtige Burschen in Handschellen ab.“ Es war zu heiß, um den Aspekt zu vertiefen, dass sich die Ostukraine 1654 Moskau unterstellte, dass Nikons Reform also auch ein Schritt zur russischen-ukrainischen Integration hin war. Alle in Wilkowo sprachen vom Verfall der Staatlichkeit seit Kriegsausbruch, 16 der 72 Delta-Inseln seien an reiche Ukrainer verschachert worden. Viele Ukrainer versteckten sich vor der Mobilisierung, Wilkower versteckten sich auf ihren Inseln. Ganz normale Ukrainer, diese Lipowaner. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2016)

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