Was zum Himmel stinkt

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Symbolbild(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Ich habe die an den Strand gespülten Leichen gesehen und am Kongo Kindersoldaten ins Auge geblickt. In Kibeho, einem Lager im Süden Ruandas, erlebte ich ein Massaker mit Tausenden Toten und in Haiti den Aufstieg des Diktators Duvalier. Ich weiß, wovon ich spreche. Erinnerungen an die Unterentwicklung.

Ostern 1968 habe ich zum ersten Mal Haiti besucht. Ich war 24 Jahre alt und studierte kreatives Schreiben an der University of Iowa. Mein Vater, der in Haiti geboren, aber in Deutschland aufgewachsen war, lud mich ein, ihn nach Port-au-Prince zu begleiten, um eine Erbschaftssache zu klären. Ich hatte viel von der Inselrepublik gehört: Eine Mahagonitafel mit dem Staatswappen Haitis – einer mit Jakobinermütze gekrönten Palme – hing über der Anrichte im Wohnzimmer meiner Eltern, aber ich hatte Haiti nicht mit eigenen Augen gesehen und kannte die Dritte Welt nur vom Hörensagen. Auf der Schiffsreise nach New York hatte ich Texte von Che Guevara und Mao Tse-tung gelesen, Trotzkis „Mein Leben“ und „La révolution dans la révolution“ von Régis Debray, der Lehren aus Castros Partisanenkampf zog. An der Freien Universität in Berlin hatte ich Rudi Dutschke und dem Philosophen Herbert Marcuse gelauscht, und ich glaubte zu wissen, wo es lang ging. Schon der erste Augenschein bei der Ankunft in Port-au-Prince strafte das angelesene Wissen Lügen. „Je n'ai d'ennemis que ceux de la patrie“ und „Vive l'an X de la révolution Duvaliériste“ stand auf die Straßen überspannenden Transparenten, die sich im Wind bauschten, zwischen Telefondrähten, auf denen Gras wuchs, weil es in Port-au-Prince keine Straßenbeleuchtung und kein Telefonnetz mehr gab.

Von der duvalieristischen Revolution hatte ich noch nie etwas gehört. Der Slogan bezog sich auf den Diktator François Duvalier, genannt Papa Doc, einen Landarzt, der 1957 die Wahlen gewann und Haiti mit eiserner Faust regierte: Duvalier hatte alle Feinde und Rivalen ausgetrickst, Putschversuche und bewaffnete Revolten im Blut erstickt, den US-Botschafter ausgewiesen und aus Kuba entsandte Guerilleros exekutiert, und man munkelte, er habe John F. Kennedy ermorden lassen, weil der ihm die Militär- und Wirtschaftshilfe strich. Duvalier hielt lange, wirre Reden, die das Volk nicht verstand, weil er nicht kreolisch, sondern französisch sprach, näselnd wie ein Zombie. Er bezeichnete sich als immaterielles Wesen, ließ sich von auf Lastwagen herangekarrten Bauern bejubeln und proklamierte sich selbst zum Staatschef auf Lebenszeit. Bevor er eines natürlichen Todes starb, berief er seinen Sohn Jean-Claude zum Präsidenten auf Lebenszeit. Da Baby Doc minderjährig war, musste dazu die Verfassung geändert werden.

Politisch war der Fall klar. Dieses Land ist eine Schweinerei, hatte US-Präsident Johnson gesagt: Das Elend stank zum Himmel in Amerikas schmutzigem Hinterhof, nur anderthalb Flugstunden von Miami entfernt, und schuld daran war Washington, genauer gesagt der US-Imperialismus. Was Haiti brauchte war eine gewaltsame Revolution wie der Sklavenaufstand von 1791, mit dem die Schwarzen die Freiheit und später die Unabhängigkeit von Frankreich erkämpften. Die Existenz der schwarzen Republik war ein Skandal aus Sicht der Großmächte, weil seit Spartacus kein Sklavenaufstand Erfolg gehabt hatte.

In der Folgezeit habe ich immer wieder Haiti besucht, und es dauerte lang, bis ich begriff, dass Papa Docs Schreckensherrschaft und das Marionettenregime seines Sohnes Baby Doc nicht auf tönernen Füßen standen, sondern gut vernetzt und fest verwurzelt waren. Nur so ist es zu erklären, dass der korrupte Familienclan 29 Jahre lang jede freiheitliche Regung unterdrückt hat. Abgesehen von seltenen Lichtblicken war die Geschichte Haitis eine Kette von Umstürzen, begleitet von Plünderungen und Massakern, wobei zwischen Revolution und Konterrevolution kein Unterschied bestand, solange die politische Klasse sich auf Kosten der Armen bereicherte. Jede Diktatur verfügt über in- und ausländische Komplizen, doch Haitis Elend war und ist hausgemacht, ähnlich wie die Arbeitslosen- und Analphabetenrate von 60 Prozent.


Die Frage drängt sich auf, ob das, was ich am Beispiel Haitis aufzuzeigen versuchte, auf die Dritte Welt insgesamt übertragbar ist. Die Antwort heißt nein, denn jeder Staat der Welt ist eine Geisel seiner Geschichte, aus der es kein Entkommen gibt. Nicht bloß Haiti, auch Liberia und Sierra Leone wurden von ehemaligen Sklaven gegründet, die von Philanthropen freigekauft und in ihre vermutete Heimat verschifft wurden: Und wie in einem Lehrstück von Brecht unterjochten die Exsklaven die ortsansässige Bevölkerung und betätigten sich selbst als Sklavenhändler. Die durch Export von Diamanten und Tropenholz finanzierten Bürgerkriege der Neunzigerjahre waren Spätfolgen dieser Entwicklung. Auch Somalia und Eritrea wurden und werden von Diktatoren regiert, die sich im Kalten Krieg auf die eine oder andere Seite schlugen, manchmal auch auf beide zugleich. Doch die Schnittmenge zwischen Ostafrika und der Karibik ist so gering, dass der Vergleich nicht weiterführt, obwohl es in beiden Regionen Boat People gibt, die sich Schlepperbanden anvertrauen und auf lecken Booten ihr Leben riskieren.

Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe die an den Strand gespülten Leichen gesehen und am Kongo Kindersoldaten ins Auge geblickt, die mit Drogen und Alkohol scharf gemacht und zum Töten gedrillt wurden. In Kibeho, einem Lager im Süden Ruandas, erlebte ich ein Massaker mit Tausenden Toten, die in meinem Beisein niedergemetzelt wurden. Eine junge Mutter reichte mir ihr Baby, um es zu retten, aber weil ich um mein Leben fürchtete, stieß ich sie brüsk zurück – noch heute mache ich mir deshalb Vorwürfe. Das war im April 1995, ein Jahr nach dem Völkermord, und diesmal wurden Hutu-Zivilisten von Tutsi-Soldaten massakriert. Seit dem Genozid von 1994 erhält Ruanda mehr Entwicklungshilfe als andere Länder Afrikas, obwohl sein starker Mann, Paul Kagame, die Hutu-Bevölkerung brutal unterdrückt und politische Gegner mundtot machen oder ermorden lässt. Deutschlands Wirtschaftsbosse, die Kanzlerin und der Außenminister rollen rote Teppiche aus für Kagame, der jede Wahl mit einem Traumergebnis von über 90 Prozent gewinnt.

An dieser Stelle könnte ich Exkurse über Bokassa und Idi Amin einschalten. Oder über Mobutu, der seinem Heimatdorf einen Großflughafen spendierte und offiziell Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Zabanga hieß – der Leopard, der verbrannte Erde hinterlässt, oder der Hahn, der jede Henne besteigt. Aber das ist Schnee von gestern, der in Afrika schneller schmilzt als anderswo.

Als Reporter für die „Zeit“ und andere Medien habe ich zahlreiche Kriegs- und Krisengebiete besucht, deren Mantra ich herunterbeten könnte, aber ich will es bei der Drohung bewenden lassen. Stattdessen möchte ich von einer Reise nach Gambia berichten, der englischsprachigen Enklave im frankophonen Senegal.


Die gute Nachricht vorab:Der Präsident spricht sich gegen die Beschneidung von Mädchen aus, aber er überlässt die Entscheidung dem von Mullahs beherrschten Parlament. Gleichzeitig erklärt er Gambia zum islamischen Staat. Cheikh Alhadj Professor Dr. Yahya Abdul-Aziz Jemus Junkung Jammeh Babili Mansa – so der volle Name des Staatschefs – war stets für Überraschungen gut, seit er sich als 29-Jähriger an die Macht putschte. Der Militärputsch war unblutig. Erst später hat Jammeh, der seit 21 Jahren diktatorisch regiert, an Gegnern und Rivalen blutige Exempel statuiert, obwohl oder weil die Revolution vom 22. Juli keins ihrer ehrgeizigen Ziele erreichte: Ausrottung von Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit. Stattdessen werden Kritiker ausgerottet, die die Misswirtschaft beim Namen nennen.

Außer Erdnüssen exportiert Gambia nichts, selbst das Hauptnahrungsmittel Reis muss importiert werden. Einzige Devisenquelle ist der Tourismus, der sich langsam vom durch Ebola bewirkten Rückgang erholt, obwohl die Seuche Gambia verschonte.

Der Präsident behauptet allen Ernstes, Zaubertränke gegen Hexerei und Aids erfunden zu haben, die er an willkürlich aufgegriffenen Passanten ausprobieren lässt. Gleichzeitig vergleicht er Schwule mit Moskitos, die er abklatschen will. Und um sein Image zu verbessern, erklärte Jammeh Plastiktüten für illegal und erließ eine Amnestie für Mörder und Vergewaltiger – nur Studenten, die ihn in Internetforen kritisierten, bleiben im Folterzentrum Two Miles inhaftiert. Doch die Amnestierten können Gambia nicht verlassen, weil ihre Pässe abgelaufen sind und keine neuen Ausweise ausgestellt werden.

„Alle wollen weg von hier, egal wohin“, sagt Pabi, ein Rap-Sänger, der sich mit der Reparatur von Handys ein Zubrot verdient. „Zwei Wege führen ins Gelobte Land – der Königsweg mit Visum via Türkei und Griechenland, oder der Todesmarsch durch die Sahara und die lebensgefährliche Fahrt übers Mittelmeer: ,Back Way‘ heißt der Fachausdruck dafür.“ Einer seiner Freunde, berichtet Pabi, hat den Todesmarsch überlebt und ihm von einer Eritreerin erzählt, deren Kind in der Wüste verdurstete; um Dieben zuvorzukommen, habe sie Dollarscheine verschluckt. Zur Strafe hätten die Räuber sie vergewaltigt und den Geiern zum Fraß vorgeworfen. „Wenn ich an Mutter Afrika denke, muss ich weinen, aber ich habe keine Zeit dazu, weil ich das Haus meiner Schwester bewachen muss.“ Das von Pabi gehütete Haus liegt am Rand eines Bolzplatzes, auf dem Ziegen weiden und nackte Kinder Fußball spielen, während beißender Rauch von der angrenzenden Müllhalde steigt.

Außer bei Armee und Polizei gibt es keine Jobs. Zwei Millionen Gambier leben unter der Armutsgrenze, und der Präsident verschenkt Luxuslimousinen an Sänger aus Senegal, die sein Regime mit Lobliedern preisen. Ein Machtwechsel bringe nichts, fügt Pabi resigniert hinzu, denn unter neuer Führung fange das Plündern und Stehlen von vorne an. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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