Homesick for Vienna

Seine künstlerische Karriere begann er als Grafiker und Druckkünstler im Wien der 1920er-Jahre. 1930 schwenkte er zur Fotografie um, wurde zum international erfolgreichen Fotojournalisten – und musste nach dem „Anschluss“ flüchten. Robert Haas: Wiederentdeckung eines Vergessenen.

Der 9. Juni 2012 war ein warmer, sonniger Frühsommertag. Ich hatte in New York den Zug bestiegen und war den Hudson River entlang nordwärts gefahren. Mein Ziel war das kleine, eine Stunde von New York City entfernte Städtchen Ossining. Dort wurde ich von Miriam Haas und ihrem Mann Jon freundlich begrüßt. Wir stiegen ins Auto und fuhren los. Noch ahnte ich nicht, welche Schätze mich in ihrem Haus erwarteten. Oder doch, eine kleine Vorahnung hatte ich. Während meiner Recherchen zur Geschichte des österreichischen Fotojournalismus war ich immer wieder auf publizierte Bilder des Fotografen Robert Haas gestoßen. Miriam Haas ist seine Tochter. Ihr Vater gehörte, so viel war mir klar, zu den ganz großen österreichischen Fotojournalisten der Zwischenkriegszeit.

Wer war dieser Robert Haas? Ein ausgebildeter Elektroingenieur, den es in die Kunst verschlagen hatte. Ein Multitalent, der es in vielen Bereichen zur Meisterschaft gebracht hat: als Grafiker und Designer, als Buchdrucker und Schriftkünstler – und eben auch als Fotograf. Ein Wiener Jude, der 1938 flüchten musste und der in New York eine neue Heimat fand. Geboren 1898 in Wien, hatte er seine künstlerische Karriere als Grafiker und Druckkünstler in den 1920er-Jahren im Umkreis der Wiener Moderne begonnen. Um 1930 schwenkte er um zur Fotografie, die er als modernes, neues Ausdrucksmittel für sich entdeckte. Und er wurde innerhalb weniger Jahre zum international erfolgreichen Fotojournalisten. Haas' Bilder und Reportagen erschienen in zahlreichen österreichischen Zeitungen und Zeitschriften, aber auch in Frankreich, England, der Schweiz und den USA.

Ein Traum, der sich nicht erfüllte

Anfang 1938 stand Haas am vorläufigen Höhepunkt seiner fotografischen Karriere. Am 22. Jänner dieses Jahres meldete ihm seine Schweizer Fotoagentur Prisma, dass eine Fotoreportage von ihm im legendären amerikanischen Magazin „Life“ erscheinen solle. Ein Traum für jeden europäischen Fotografen. Doch dieser Traum erfüllte sich nicht. Am 12. März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, das Land wurde an Deutschland „angeschlossen“. Mit einem Schlag verlor Haas seine berufliche Existenz in Österreich, seine internationalen Kontakte brachen ab. Schon bald dachte er an die Flucht: „Wie ihr ja wisst“, schrieb er am 24. April 1938 an seinen Freund Erik H. Erikson in die USA, „wird man hier nicht bleiben können, und ich setze auch schon alle Hebel in Bewegung, um von hier wegzukommen.“ Am 30. September 1939 gelang Haas nach monatelangen hektischen Briefwechseln die Ausreise aus Wien. Er ging über London nach New York.

Miriam Haas führte mich ins Dachgeschoß ihres Hauses. In Regalen standen viele Reihen von Ordnern, voll mit Fotografien, dazwischen große und kleine Schachteln, ebenfalls voller Bilder. Ich war überwältigt. Zutage traten faszinierende Bilddokumente aus der österreichischen Zwischenkriegszeit, trotz jahrzehntelanger Lagerung in bester Fotoqualität: berührende Alltags- und Sozialstudien aus Wien, Straßenszenen, Aufnahmen aus dem Prater, Kinderbilder, Porträts, Objektstudien. Das meiste war mir unbekannt. Insgesamt ein beeindruckendes, noch nie gezeigtes visuelles Archiv der österreichischen Zwischenkriegszeit.

Da waren Fotodokumente der Salzburger Festspiele und beeindruckende Aufnahmen der großen Stars der Zeit: Arturo Toscanini und Bruno Walter, Max Reinhardt und Werner Krauß. Und gleich daneben mehrere Fotomappen mit einer hervorragenden Industriereportage, entstanden 1937 im Stahlwerk von Donawitz: gewaltige Maschinen, Werkszüge und Loks, riesige Metallbehälter und Rohrleitungen. Und natürlich die Hochöfen, deren „Fegefeueratmosphäre“ Haas noch Jahrzehnte später in Erinnerung behielt.

Vom Dachgeschoß gingen wir später ins Gartenhaus, auch dieses war voller Fotoschachteln. Da lagen ausgezeichnet erhaltene großformatige Aufnahmen der Stadt New York aus den 1940er-Jahren: Straßenszenen, unerwartete Schnappschüsse, aufgenommen in der Bronx, im Central Park und am Hafen, und immer wieder Blicke hinauf auf die Wolkenkratzer: das Rockefeller Center und das Empire State Building. Auch diese Fotos waren, ebenso wie die österreichischen, von herausragender Qualität. Und ebenso unbekannt.

Haas war in den USA viel unterwegs gewesen: Er hatte das ganze Land durchquert und im Mittleren Westen ebenso wie in Kalifornien oder in New Mexico fotografiert. „After my arrival in the United States I photographed extensively the totally new situation for me“, erinnerte sich Haas Jahre später. Haas war nicht nur hingerissen von den Hochhäusern New Yorks, sondern auch von der überwältigenden Weite des Landes und von den mächtigen architektonischen Symbolen inmitten der Natur, den Dammbauten, die im Zuge des New Deal begonnen worden waren, den Getreidesilos, den Industriearealen und imposanten Brückenbauten. In ruhigen, eindringlichen Bilder hielt er aber auch den amerikanischen Alltag weit abseits der großen Metropolen fest: Milchkannen am Straßenrand, der Blick in ein Schaufenster eines Secondhandladens, eine Straßenkreuzung im Mittleren Westen.

Warum, fragte ich mich, lagen all diese Bilder seit Jahrzehnten unentdeckt hier? Warum wurden sie noch nie ausgestellt? Wohl weil Haas nach seiner Emigration in Österreich als Fotograf jahrzehntelang in Vergessenheit geriet. Erst 1983 wurde ihm im Wiener Museum für angewandte Kunst eine kleine Ausstellung gewidmet, die vor allem grafische Arbeiten zeigte. Als Fotograf blieb er weiterhin unbekannt. Aber auch in den USA wurde sein fotografisches Talent kaum wahrgenommen. Haas war schon über 40, als er Ende April 1939 in New York ankam. Er hoffte, an seine Wiener Karriere als Fotograf anknüpfen zu können. „I am doing mostly photography and some lettering“,schrieb er am 5. November 1940 an seine Familie, die in Palästina Zuflucht gefunden hatte. Aber er bekam keine Aufträge als Fotojournalist, zu groß war die Konkurrenz deutscher Emigranten, die bereits Jahre vor ihm ins Land gekommen waren und beruflich bereits Fuß gefasst hatten.

1941 kam Haas, entmutigt von seinen Versuchen, sich als Fotograf zu etablieren, auf seine erste Profession, das Druckgewerbe, zurück. In einer kleinen Wohnung in der 25. Straße eröffnete er eine künstlerische Druckwerkstatt, die er Ram Press (Ram – nach dem Sternzeichen Widder) nannte. Bald kamen erste Aufträge von New Yorker Galerien, schließlich auch von den großen Museen, für die er Drucksorten, Einladungskarten, Broschüren, ja ganze Kataloge gestaltete und druckte. Die geschäftliche Entwicklung verlief gut. „The press is growing steadily“, schrieb er Anfang 1943 an seinen Bruder und fügte stolz hinzu, dass er nun bereits fünf Angestellte habe. Neben seiner Arbeit als Drucker und Grafiker war er weiterhin als Fotograf tätig. Aber die Fotos landeten fast alle in der Schublade. Nur seine Porträts, die er ebenfalls anfertigte, konnte er teilweise verkaufen. Unter anderem lichtete er Albert Einstein und Oskar Kokoschka ab.

Als ich am Abend meines ersten Besuchs von Miriam Haas und ihrem Mann Abschied nahm, wusste ich: Diese Bilder sollten in die Öffentlichkeit zurückkehren. Mehrmals war ich in den folgenden Jahren in Ossining, ein längerer Studienaufenthalt gab mir die Möglichkeit, nicht nur das Fotoarchiv, sondern auch die vollständig erhaltene Korrespondenz vieler Jahrzehnte durchzuarbeiten. Viele Ordner mit Dokumenten. Briefe, Zettel, Rechnungen, Adressen.

Listen von Wiener Fleischspeisen

Haas war ein Sammler. Er trug nicht nur alte Gläser und Münzen, Briefmarken und Bücher zusammen. Seit seiner Wiener Zeit fertigte er auch unentwegt Listen an, eine Gewohnheit, die er bis ins hohe Alter beibehielt. Er schrieb Listen von Wiener Denkmälern, von Wiener Fleischspeisen, aber auch von Frauen, mit denen er eine Affäre gehabt hatte. Er hatte auf Zetteln notiert, welche Wäschestücke er mit in die Emigration nach London nehmen wollte, wer ihm Geld schuldete, er stellte Listen von Büchern zusammen, die er gelesen, und solchen, die er gedruckt hatte. All dies bewahrte er sorgfältig auf.

Nach Österreich kehrte Haas 1947 erstmals wieder zurück. Es war seine Hochzeitsreise. Seine Gefühle waren zwiespältig. „Das Land ist vollkommen herunter, was Menschen und Stimmung betrifft“, schrieb er an seinen Vater. „Aber herrlich schön wie eh und je. Die Berge und Flüsse und Bäume haben keine Nazigefolgschaft geleistet.“ Ganz nach Österreich zurückzukehren war für ihn undenkbar. Aber in Gedanken schweifte er immer wieder nach Wien zurück. „My god, how homesick I have been for Vienna“, sagte er in einem Interview als über 90-Jähriger. Und ergänzte: „That is my home town.“ Seit Mitte der 1980er-Jahren bemühte sich Haas unermüdlich und in vielen Briefwechseln, seine umfangreiche Sammlung in einem österreichischen Museum unterzubringen. Vergeblich. Das Interesse war gering. 1993, Haas war inzwischen 95 Jahre alt und schon sehr gebrechlich, kam er noch einmal auf dieses Thema zurück. „Es wäre schön“, schrieb er in einem Brief an eine Mitarbeiterin des Austrian Cultural Institute in New York, „wenn es doch gelingen würde, mein Leben in illustrierter Buchform publiziert zu sehen. Ja, manchmal verwirklichen sich Träume.“ Sein Traum sollte sich – vorerst – nicht erfüllen. Eine umfangreiche Publikation über sein Lebenswerk erschien zeitlebens nicht. Robert Haas starb am 5. Dezember 1997.

Als Matti Bunzl Ausschnitte aus Haas' Fotoarchiv sah, war er begeistert. Er hat die enorme Bedeutung dieser Sammlung für die Wiener und die österreichische Kulturgeschichte, aber auch für die Dokumentation des erzwungenen Kulturtransfers nach 1938 auf Anhieb erkannt. Bevor er im Oktober 2015 die Leitung des Wien Museums übernahm, hatte er jahrelang als Wissenschaftler in den USA gelehrt und geforscht. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass die Töchter von Robert Haas, Miriam Haas und Cathy Haas Riley, das Fotoarchiv ihres Vaters dem Wien Museum anvertrauten.

Im Herbst 2015 war ich zum vorläufig letzten Mal in Ossining. Gemeinsam mit Frauke Kreutler, Kuratorin am Wien Museum, half ich, die Fotos für den Transport zu verpacken. 20 Jahre nach dem Tod von Robert Haas wird dessen faszinierendes fotografisches Werk nun erstmals in einer Ausstellung und in einem Katalog einem breiten Publikum präsentiert. Zur Eröffnung wird die Familie Haas aus den USA anreisen. Robert Haas hätte sich über diese späte Anerkennung gewiss gefreut. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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