Alfred J. Noll: Die Kunst der Demokratie

„Verlassene Standpunkte“, Illustration von Gerhard Glück.
„Verlassene Standpunkte“, Illustration von Gerhard Glück.(c) Gerhard Glück
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Demokratie ist das politische Versprechen, dass wir zusammenleben können, gerade weil wir unterschiedliche Standpunkte haben. Was jedoch, wenn unsere Identität brüchig, unsere Position wacklig, unsere Lebenswelt disparat wird?

Stellen Sie sich vor, es liegt eine schöne Frühlingswanderung hinter Ihnen. Es ging über Stock und Stein, durch Wald und Flur. Sie stehen auf kleiner Anhöhe knapp vor einem Dörfchen mit dem schönen Namen „Flintsbach“. Schmuck, denken sie. Schon ist die Kirche mit ihrem Turm erkennbar – und, was ein Glück, gleich eine Gastwirtschaft daneben. Sie kehren ein. Sie trinken nicht zu knapp, und irgendwann viel später machen Sie sich auf den Heimweg. Ein wirklich schönes Wochenende.

Tags darauf, es ist ein lausiger Montag, alle müssen arbeiten, berichten Sie einem Freund, einer Freundin: Ach, wie schön war doch dieses Dörfchen, das Ihnen nach der Wanderung eine freundliche Gastwirtschaft bot, in der Sie sich, erschöpft, aber glücklich, laben konnten. Die wundervolle Aussicht auf die Berge. Und das Dorf selbst – freundlich, ruhig und aufgeräumt. „Wo wart Ihr denn?“, werden Sie gefragt. „Na, in Flintsbach“, berichten Sie – und ernten einen skeptischen Blick. Man entgegnet Ihnen: „Flintsbach? Ist das nicht dieses Kuhdorf im Inntal, an dem ich immer vorbeifahre, wenn ich mit dem ICE zwischen Mailand und München unterwegs bin? Ein paar Hütten, was soll'sdort schon geben!?“ Unverständnis macht sich breit. Sie fühlen sich umIhr schönes Wochenend-Erlebnis betrogen. Ihr Gegenüber meint, Sie wollten sich durch unnötige Ausschmückungen bloß wichtig machen. Es giftet Sie, dass man Ihren Bericht nicht mit etwas mehrEmpathie aufgenommen hat.

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