Ohne Begehren kein Sehen: Der Fotokünstler Ben G. Fodor

Im Februar 1981 stand er allein auf dem Wiener Heldenplatz; ohne Deutschkenntnisse, mit 100 Schilling und einer Zahnbürste in der Tasche. Der aus Ungarn gebürtige Fotokünstler Ben G. Fodor und die kathartische Wirkung der Emigration.

Objekte so zu sehen, als hätte man sie noch nie gesehen, bedeutet, Unsichtbares wahrzunehmen“, schrieb Fodor vor zehn Jahren zu seinem ersten Bildband,„nooshpere“. Mit dem programmatischen Titel bezeichnet er den „geistigen Orbit“, eine utopische Sphäre des menschlichenDenkens, in der sich ein fremder Blick auf vermeintlich Vertrautes eröffnet. Das Buch war die erste Manifestation der Gedankenwelt, aus der sich die künstlerische Arbeit des gebürtigen Ungarn speist. Dass sein Instrument die Kamera ist, hatte er schon als Kind begriffen.

Ein altes Schwarz-Weiß-Foto mit gezacktem Rand zeigt einen groß gewachsenen, soignierten älteren Herrn im dreiteiligen Anzug, mit Stock und Hut. Freundlich neigt er sich seinem kleinen Enkelsohn zu, der ihn hier aus seiner Froschperspektive abgelichtet hat. Das Bild eines Gentlemans alter Schule, das nichts von der bewegten Geschichte dieses Mannes verrät. Dieser Großvater war nämlich ein „verfluchter Kerl“, Frauenfreund und Verfechter kommunistischer Ideale. Ursprünglich Bergwerksarbeiter im Städtchen Dorog, westlich von Budapest, avancierte er unter den Kumpeln bald zum Führer einer Gewerkschaftsbewegung, die mit Streiks um ihre Rechte kämpfte. Vor den politischen Repressalien, die ihn mit schöner Regelmäßigkeit ins Gefängnis brachten, floh er schließlich nach Holland, wurde von dort wegen Agitation aber wieder ausgewiesen – per persönlichem Brief der Königin. Zurück in Ungarn, bekam er nach 1945 dank seiner Gesinnung einen Ministerposten. Dieser Jean Fodor schenkte seinem Enkel Gyula eine aus Holland mitgebrachte Kamera aus den 1920er-Jahren, und der Siebenjährige entdeckte ein Gefühl, das ihn in allen Wechselfällen seines Lebens nicht mehr losgelassen hat. „Dieses Begehren, Bilder zu machen, hatmich fasziniert. Seit damals weiß ich, dass ich Künstler sein will.“

Der Bub malt Aquarelle, zeichnet Comics und fotografiert: die Katze, die staubige, verlassene Straße, die Störche auf dem Dach, und was sich seinem Blick in häuslicher Umgebung sonst noch bietet. Aber nach wenigen Jahren ist es mit dem Fotografieren vorbei. Der Vater bringt die Familie als Schmied und Schlosser nur mit Mühe durch. Eine der modernen Kleinbildkameras, die nun in Gebrauch kommen, hätte einen Monatslohn verschlungen.

Das Verhältnis zum Vater wurde im Lauf der Pubertät problematisch. Als er eines Tages im Streit Gyulas selbst gebaute Bassgitarre zertrümmerte, verließ der 16-Jährige sein Elternhaus und zog auf eigene Faust nach Esztergom. Am dortigen Gymnasium fand er eine Vaterfigur, an der er sich orientieren konnte. „Mein Klassenvorstand, Iván Dévényi, war damals der größte Kunstsammler in Ungarn, hatte Kontakt mit Leuten wie Picasso. Er hat mich gefördert, da habe ich endlich Tritt fassen können.“ Und Gyula war bald reif, in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten.

Kulissenschieber im Nationaltheater

Am Ende seines vorletzten Schuljahres hielt er vor den versammelten Mitschülern eine flammende Rede gegen die Russen. „Die Schüler haben daraufhin alle russischen Fahnen heruntergerissen und in die Donau geschmissen“, erinnert sich Gyula. Er selbst hatte freilich Besseres vor, als bei der von ihm angezettelten Aktion mitzumachen: Er war mit seiner Freundin verabredet. Am nächsten Tag wurde er dennoch von der Geheimpolizei abgeholt. „Sie haben mich zwei, drei Tage verhört, aber der Text meiner Rede war gut versteckt, sie hatten keine Beweise.“ So blieb er ungeschoren, während die Hauptakteure der Revolte mit drei Jahren Gefängnis bestraft und von allen Gymnasien verwiesen wurden. Das war die Realität dessen, was man im Westen als „Gulaschkommunismus“ zu verharmlosen pflegt.

Nach der Schule verdingte sich Gyula als Kulissenschieber im Nationaltheater in Pecs. Er hatte schon bald selbst für eine Familie zu sorgen; mit 21 heiratete er zum ersten Mal, sein Sohn und seine Tochter wurden geboren. Sein Schwiegervater war ein regimetreuer Staatsanwalt in Esztergom. „Er hat noch bis 1987 Todesurteile unterzeichnet.“ 1975 musste der unbotsame Schwiegersohn seinen zweijährigen Militärdienst antreten – und landete im Gefängnis; es war herausgekommen, dass er aus amourösen Gründen allabendlich aus der Kaserne desertierte. Als all das glücklich überstanden war, studierte er Maschinenbautechnik, fand Arbeit in einer großen Chemiefabrik, schloss eine zweiteEhe – und empfand das gesellschaftliche Klima zunehmend als unerträglich. Immer wieder beantragte er ein Visum für Österreich. Zu Weihnachten 1980 wurde es bewilligt, im Februar 1981 bestieg er mit seiner Frau einen Reisebus nach Wien; die beiden Kinder aus erster Ehe mussten zurückbleiben. „Meine Frau dachte, wir machen einen Ausflug. Erst im Hotel in der Taborstraße habe ich ihr gesagt, dass ich nicht mehr zurückfahre. Sie hat die ganze Nacht geweint.“

Mit ihm gemeinsam abzuspringen, kann sie sich so plötzlich nicht entschließen. Als der Bus abfährt, bleibt er allein auf dem Heldenplatz zurück, ohne Sprachkenntnisse, mit 100 Schilling und einer Zahnbürste in der Tasche. Er schlägt sich nach Traiskirchen durch – und hat insofern Glück, als man ihn als politischen Flüchtling anerkennt. Es gelingt ihm, sich Beschäftigung und Wohnung zu erkämpfen. Nach fünf Jahren erhält er die österreichische Staatsbürgerschaft, ein Jahr später darf er erstmals wieder nach Ungarn reisen, um seine Kinder zu sehen. 1986 heiratet er seine erste Frau in Österreich ein zweites Mal. „Wegen der Kinder“, sagt er, „aber sie blieb in Ungarn, seit unserer Scheidung 2000 habe ich sie nicht mehr gesehen.“ 1990 begegnet er bei einer Aktion von Hermann Nitsch einer blonden Journalistin. Liebe auf den ersten Blick. Bis heute ist Dorothee seine Gefährtin.

Den seelischen Prozess der Entwurzelung, den er nach der Flucht durchlebte, bezeichnet Fodor als seine zweite Geburt. „Ich musste als Ungar sterben, um die Initiation in einen neuen Zustand zu erreichen. Es war eine schmerzhafte Erfahrung. Aber zugleich war da diese immerwährende Glut, von der ich nicht weiß, woher sie kommt, eine neue energetische Ebene. Ich habe schlechte Tage, aber der Motor der Kreativität läuft ununterbrochen, ohne dass es mich anstrengt. Ich habe auch keine Angst mehr, nicht um meine Existenz, nicht vor einem Krieg – höchstens vor einem persönlichen Verlust, dem Tod eines Kindes oder meiner Partnerin.“ In der Befreiung von seinem bisherigen Leben wird er „wirklich zum Künstler“. Das geistige Fundament dafür hatte er jedoch bereits gelegt, etwa in jenem Jahr, in dem er als Hochseematrose angeheuert hatte: „Mein erster Versuch, aus Ungarn wegzukommen. Aber die Schiffe fuhren natürlich in die ,Bruderländer‘. Ich habe damals viel von Afrika gesehen, und ich habe auf dieser Fahrt bewusst keinen Fotoapparat mitgenommen. Ich wollte alles zuerst mit dem Auge fotografieren. Das ist viel genauer, denn ein Fotoapparat friert die Zeit ein, aber im Gehirn sind die Bilder ohne Beschränkung gespeichert. Am Anfang hatte ich Angst, sie zu vergessen, aber das ist nicht passiert.“ So hat er gelernt, dass Fotografie mehr bedeuten muss als bloße Abbildung oder Dokumentation, nämlich Imagination, ja „Beschwörung“ des Gesehenen. „Diese Entdeckung, dass ein Bild aus meinem Blick geboren wird, hat mich fasziniert, das ist eine Sucht geworden, die ich immer weitergetrieben habe.“

In den 1990er-Jahren arbeitet Fodor wie besessen, vor allem als Theaterfotograf, „um das Handwerk zu lernen“. Es folgen erste Ausstellungen. Ab 2001 lebt er als freischaffender Künstler in Wien. „Ein Bild besteht aus drei Komponenten“, sagt Fodor, „der sichtbaren, der unsichtbaren und der Wahrnehmung durch den Betrachter. Das Bild an sich produziert keine Wahrheit; die produziert erst der Blick, der sich darauf richtet. Kein Mensch hat sich jemals selbst gesehen. Das Spiegelbild ist auch nur ein Abbild. Du kannst dich nur durch andere Menschen sehen.“ Angesichts der Bilderflut, mit der wir heute überschwemmt werden, vermisst er eine „Schule des Blicks“: „Bilder sind mächtig, und sie behalten ihre Freiheit. Sie sind nicht für jeden einfach zugänglich.“ Und von der Respektlosigkeit im Umgang mit dem, was er lieber „Images“ nennt, sei es nur ein kleiner Schritt zur Respektlosigkeit im Umgang mit dem Leben selbst: „Das hat man in der Nazizeit gesehen.“

Die innere Unabhängigkeit des Migranten, der als Heimat allenfalls noch „die Erde“ gelten lässt, ermöglicht auch ungewöhnliche Formen des politischen Engagements. So entstand auf ausgedehnten Europa-Reisen in siebenjähriger Arbeit das Projekt „Incipit Vita Nova“, eine Reflexion über die Relikte totalitärer Herrschaftsarchitektur aus Zeiten des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. „Man müsste politische Kunst neu bewerten. Die Künstler haben dieses Terrain aufgegeben, wie die erotische Kunst, die sie der Pornoindustrie überlassen haben. Niemand tut etwas gegen Viktor Orbán, die Künstler sagen, man könne nichts bewegen. Ich kapiere diese Generation nicht mehr – ein einziger Pressefotograf hat mit einem Vietnam-Foto etwas bewegt!“

Lichtdurchlässiger Beton

Vergangenen Herbst hat Fodor auf dem Franz-Jonas-Platz in Floridsdorf ein Kunstobjekt aufgestellt: ein Stück Mauer aus lichtdurchlässigem Beton, das in der natürlichen Bespielung durch das Tageslicht die Ambivalenz von Drinnen und Draußen so unangestrengt wie anschaulich vorführte. „Ich wollte den Politikern das alleinige Recht wegnehmen, Mauern zu bauen – aber meine ist transluzent“, sagt er verschmitzt.

Wichtig war ihm, dass das Mauerstück nach einigen Wochen wieder abgebaut wurde: „Man soll sich nicht daran gewöhnen, es darf nicht zur Dekoration werden.“ Demnächst wird es an anderer Stelle in Wien neu errichtet. Auch an der Grenze zwischen den USA und Mexiko würde es sich gut machen, ist Fodor überzeugt. Als Konzession an das internationale Parkett, auf dem er sich inzwischen bewegt, hat er sich kürzlich den Vornamen Ben zugelegt.

Über das bloße Fotografieren ist er also längst hinaus. Im Ludwig-Museum in Budapest lief zuletzt fünf Monate lang „Carmine“, eine Laser-Installation, die im November auch bei der Vienna Art Week zu erleben ist: „Mit dem Laser male ich auf der Leinwand. So entstehen aus den ursprünglichen Fotos neue Bilder – Phantombilder, die nicht mehr vorhanden sind, wenn das Licht ausgeht. Auch die Philosophie arbeitet schließlich ,nur‘ mit Gedanken.“

So, wie die Philosophie die Grenzen des Denkens erkundet, will Fodor die Grenzen des Sehens erkunden und ausweiten, gegen die ständige Einschränkung unserer Wahrnehmung, sei es durch die Lichtverschmutzung, die den Sternenhimmel über den Städten verdunkelt, oder durch isolierendes Fensterglas, das das natürliche Licht verfälscht. „Wir werden immer mehr vom Universum abgeschirmt. Mit Licht und Fotografie mache ich dazu meine Vorschläge.“ Freilich: „Ohne Begehren gibt es kein Sehen!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2017)

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