Eine Republik aus Soja?

Die fossilen Energien neigen sich dem Ende zu, unser Lebensstil steht infrage. Was tun? Eine in Vergessenheit geratene Utopie der argentinischen Bariloche-Stiftung bietet eine Antwort.

Auf der Erde gibt es rund 800 Millionen Autos. Fast alle fressen noch fossile Energie: Benzin, Diesel, Gas. Aber der Rohstoff wird knapp. Schon pendelt der Preis für ein Fass Export-Erdöl mal unter, mal über 100 Dollar. Damit gerät unser komfortabler fossilenergetischer Lebensstil ins Wanken. Was tun? Klar, Sparen wäre die radikale Alternative. Aber eine generalstabsmäßige Offensiveunserer globalisierten Konzerne mit ihrer geballten Forschungskapazität will die Durststrecke der nächsten 20 Jahre mit Hilfe von Bio-Energie bewältigen. Dann wird man weitersehen, immer in Hoffnung auf weitere wissenschaftliche Durchbrüche.

Ein Blättern in den Oil&Gas-Journals oder Recherchen in der OPEC-Bibliothek in Wien lassen keinen Zweifel: Wir stehen derzeit in der Klimax der Kurve, welche die Förderung von Kohlewasserstoffen anzeigt. Bis 2012 sinkt die Förderkurve leicht, aber stetig, um nach 2015 abrupt abzufallen. 100 Dollar für ein Fass Erdöl ist kein Spekulationspreis, sondern die Spiegelung einer Realität, die den Anfang vom Ende der Epoche mit billigem Kohlewasserstoff bedeutet. Ganz versiegen wird die Förderung von Erdöl nicht. Außerdem können Erdgas und Flüssiggas einiges ausbalancieren. Allein, die Bohrungen im Meer oder im ewigen Eis verschlingen fast so viel Energie, wie sie einbringen. Und die Ölgewinnung aus Teersand, von dem Venezuela oder Kanada im Überfluss besitzen, ist derart aufwendig, dass die 100-Dollar-Marke von gestern in einigen Jahren relativ günstig erscheinen wird.

Also müssen alt-neue Energieträger her! Atomkraft wird eine Renaissance erfahren. Ebenso Kohle, die sich verflüssigen lässt. Wasserkraft reicht bereits an die Ränder. Sonne und Wind verkörpern die Zukunftshoffnung, eventuell kommt dann auch der Fusionsreaktor. Aber für die „Transition“, den Übergang von Kohlewasserstoffen zu Ersatz-Energien, brauchen wir Zeit, bis die erhofften wirtschaftlichen Durchbrüche das 22. Jahrhundert mit angeblich spottbilliger Energie einläuten können.

Die momentane Zauberformel heißt Bio-Energie. Also das Verwandeln von pflanzlichen Stoffen in flüssige Energie. Brasilien hat es vorexerziert: Soja, Zuckerrohr, Ölsaaten, Getreide oder Mais können zu Alkohol destilliert werden. Die postkarbone Welt kommt bestimmt! Aber um welchen Preis? Solcher „Agro-Sprit“ ist in der Herstellung teuer, verschmutzt in den vorbereitenden Phasen, verdrängt Waldflächen, entwurzelt Kleinbauern, verbraucht enorm viel Wasser und treibt die Preise für Lebensmittel nach oben. Besonnene Stimmen warnen und verweisen auf brauchbare, billigere, auch nachhaltigere Formen der Erzeugung von Energie. Aber der momentane Jubel über Ethanol, Bio-Diesel und verwandte Formen von Bio-Energie deckt viel davon zu.

Eigentlich liegen die Kosten für die Erzeugung von Bio-Energie, welche die Phase der „Transition“ ermöglichen soll, klar zutage. Damit wir weiterhin unseren Lebensstil, in Kombination mit unserer heiligen Kuh, dem Auto, betreiben können, muss Bio-Energie in enormen Mengen her. Es gibt bereits handfeste Vorgaben: Als erstes Land will Schweden bis 2020 vollständig vom Öltropf abnabeln und sich mit Ethanol begnügen. Washington hat mit Brasilien und Kolumbien Abkommen für den Import von Bio-Energie, zur Mischung mit Benzin, geschlossen.

Die Europäische Union will ebenfalls in naher Zukunft einen bestimmten Prozentsatz an Bio-Energie im Tank haben. Indes, Europas Agrarflächen sind viel zu klein, um solche Anbaumengen an Agrarprodukten, die nicht mehr der Ernährung, sondern der Fortbewegung dienen, zu schaffen. Daher stürzt sich die Industrie, forschungskompetent und gentechnologisch aufgerüstet, auf die Länder der Dritten Welt mit ihren großen Anbauflächen. Die Verheißung: Rettung der Welt vor drohenden Klimakatastrophen durch Erzeugung von Bio-Energie, mit dem Nebeneffekt, dass dank dieses Exports das Problem der Armut gelöst werden kann.

Mir genügen lokale Flüge über zentrale Zonen von Südamerika, um die unheimlichen Konturen einer „Soja-Republik“ auszumachen, eine 50-Millionen-Hektar-Fläche zwischen Uruguay, Nord-Argentinien, Süd-Brasilien, Paraguay und Ost-Bolivien (neuerdings auch im brasilianischen Norden), wo es nur noch grünt: Riesige Fläche ohne Menschen oder Bäume, gelegentlich mit Erntemaschinen oder überflogen von sprayenden Flugzeugen.

Wo bleiben die Bauern? Mit dieser Frage sticht man in die eigentliche Wunde der „Transition“. Ja, die Erzeugung von Bio-Energie, bei gleichzeitiger Abnabelung vom Erdöl, ist machbar, aber um den Preis des endgültigen Verschwindens der Bauern. Hier dröhnt die ultimative Revolution: Ackernde Bauern oder Brot und Maisfladen backende Bäuerinnen, wie vor einigen tausend Jahren in die Geschichte eingetreten, sind zum Aussterben verurteilt. (Nischen-Existenzen, wie unsere Bio-Bauern in Alpentälern, bestätigen als Ausnahme die Regel, aber verursachen derart hohen Kosten, dass nur reiche Industriestaaten diesen Luxus herbeizaubern können.)

Wenn aber die globalisierten Industriekonglomerate auf Flächen der Dritten Welt die für die „Transition“ notwendigen Mengen an Bio-Energie heranzüchten, wer liefert dann das tägliche – erschwingliche – Brot? Was bleibt zum Essen? Sollen sie Ethanol saufen? Selbst immer häufigere Protestmärsche verzweifelnder Hausfrauen, Bäuerinnen und Bauern aus Lateinamerika und Asien reichen nicht aus, um die Substanz der „Transition“, wie gerade eingeleitet, anzukratzen. Andererseits, eine immer schrillere Dissidenz in dieser Debatte, gekoppelt mit Preisinflation bei Basis-Lebensmitteln, könnte in kommenden Jahren Erstaunliches bewirken. Vielleicht setzt sich doch noch die These vom radikalen Sparen als bestem Energie-Ersatz durch. Vor allem würde eine solche weltweit betriebene Praxis die von Konzernen vorangetriebene Globalisierung (die ja nur auf der Basis von Billig-Energie funktioniert) abbremsen und in überschaubare regionale Einheiten, die auch dem kleinen Öko-Bauern eine Nische einräumen, zurückholen.

Es soll hier an eine frühe Auseinandersetzung mit Knappheit und Globalisierung, inzwischen leider vergessen, erinnert sein, nämlich an das Bariloche-Modell. Ausgangspunkt war der damals umschwärmte, vom italienischen Industriellen Aurelio Peccei begründete „Club of Rome“, dessen selbst installierte 100 Mitglieder Anfang der 1970ervon Modellrechnern am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ein Zukunftsszenario bauen ließen. Was als „Grenzen des Wachstums“ berühmt wurde, sagte zivilisatorische Zusammenbrüche voraus. (Bis heute liegen 33 Updates solcher Weltuntergangsentwürfe vor.) Geht man von der damaligen Wachstumsrate der Bevölkerung, des Verbrauchs an Rohstoffen, der Umweltverschmutzung et cetera aus, so erreicht die Weltpopulation um 2040 ihren Höchststand, um dann – infolge von Hungersnöten, Verschmutzung, Knappheiten – katastrophal abzufallen und auf niedriger Ebene eine neue Balance zu finden.

Was tun? Das MIT-Team riet zum Einfrieren des Wachstums an Bevölkerung. Da solches auch damals nur auf Kosten der Dritten Welt erreichbar gewesen wäre, gab es eine hitzige Pro- und Contra-Debatte. Johan Galtung, der norwegische Friedensforscher, formulierte besonders beißend: Den Ökologismus als Mittelklasse-Ideologie des „Sparens an Geld, Samen und Natur“ identifizierend, denunzierte er das Interesse der Industriestaaten an den MIT-Prognosen als Selbstverständnis ihrer Eliten, die Probleme des – wie es damals hieß – postindustriellen Zeitalters innerhalb der herrschenden Systeme, ohne Änderung ihrer Grundlagen, zu beheben. Prognosen dieser Art stießen vor allem den progressiven Intellektuellen Lateinamerikas auf. Sie befürchteten seitens der Industriestaaten das Horten von Ressourcen, um damit zuungunsten der Peripherie die neokoloniale Herrschaft, wie nach dem Zweiten Weltkrieg einzementiert, halten zu können.

Dies gebar die Idee, ein lateinamerikanisches Gegenmodell rechnen zu lassen. Diese Aufgabe wurde der argentinischen Bariloche-Stiftung übertragen. Die Ergebnisse konnten 1974 dem IIASA-Institut in Laxenburg bei Wien vorgestellt werden. Niemand hörte zu. Inzwischen wurde die lateinamerikanische Prognose erweitert und neu aufgelegt, allerdings weiterhin ohne Resonanz.

Im genannten argentinischen Wissenschaftszentrum mit Doppelsitz in Buenos Aires und Bariloche bemüht man sich um die harmonische Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften. In der Bariloche-Stiftung gibt es keine hierarchische Abgrenzung zwischen Computerzentrum und Musikabteilung; Biologie, Mathematik, Sozialwissenschaft, Philosophie und Kunst werden als Symbiose betrieben. Aus dieser Haltung nährte sich der Optimismus, welchen die Autoren der Determiniertheit der MIT-Studie entgegenstellten. Die Bariloche-Stiftung wehrt sich vor allem gegen die fatale MIT-These, das Eindämmen des Bevölkerungswachstums in Lateinamerika, Afrika und Asien sei die unerlässliche Voraussetzung für die Abwehr der Globalkatastrophe: „Solche Annahmen stellen die Grundwerte des ,westlichen Lebensstils‘ nicht infrage. Sie implizieren, dass die ,natürlichen‘ Schranken, die dem Wirtschaftswachstum gesetzt sind, den unterentwickelten Ländern wenig Hoffnung lassen, jemals den Wohlstand der Industrieländer zu erreichen.“

Das Alternativmodell basiert auf der Annahme, dass die Faktoren, die einem Großteil der Menschheit den Zugang zu den Gütern der Zivilisation versperren, gesellschaftspolitischer Natur sind. Beseitigen wir sie, wird eine auf Gleichheit beruhende Weltgesellschaft möglich. Das Modell legt daher fest, welche Mindestmengen an materiellen, kulturellen und geistigen Gütern jeder Mensch braucht, um sich als eigenständiges Wesen zu entfalten. Im Modell wird dies als „Funktion der Grundbedürfnisse“ eingesetzt, wobei zu berücksichtigen wäre, dass man sich auf jene zwei Drittel der Menschheit konzentrieren soll, die in der Peripherie leben und deren Grundbedürfnisse – Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Information – sich relativ leicht rechnen lassen. Es kommt eine Welt heraus, die nicht kollabiert, sondern auf einfacher Ebene, mit viel gemeinschaftlicher Selbstverwaltung, ein Gleichgewicht mit Platz für alle einpendelt. Auch bei zehn Milliarden Menschen. Im Klartext: Wenn wir in der Ersten Welt uns mit einem Barfuß-Lebensstil begnügten, würden die Ressourcen für alle reichen!

Ohne Zweifel handelt es sich beim Bariloche-Modell um eine lateinamerikanische Utopie. Inzwischen mündete das postindustrielle Zeitalter in die Globalisierung, aber wesentliche Argumente der Bariloche-Autoren finden sich heute erfreulicherweise in dem jährlich edierten Human Development Report der Vereinten Nationen (UNDP), der solche Grundbedürfnisse generell thematisiert. Der von der MIT-Studie prognostizierteKollaps der Welt trat – dank erstaunlicher wissenschaftlicher Leistungen – vorerst nichtein. Aber die Armut an der Peripherie ist geblieben. Und der Hunger nimmt wieder zu. Trotzdem ist es heute eher die Angst vor einem vom Klimawandel verursachten Zusammenbruch, der die Gemüter bewegt.

Die Globalisierung entfachte einen derartigen Ressourcenhunger, mit Indien und China als Vorreiter, dass die seinerzeitigen Club-of-Rome-Prognosen, gekoppelt mit den Ängsten vor einer Klimakatastrophe, doch wieder die Diskussion zu stimulieren beginnen. Das nahende Ende der fossilenergetischen Ära verlangt Alternativen. Da radikales Sparen politisch schwer durchsetzbar erscheint, favorisiert man die Übergangslösung mittels Bio-Energie, um wieder einmal Zeit zu gewinnen. Der Preis: das endgültige Aus für traditionelle Kleinbauern sowie steigende Preise für Lebensmittel vor allem in der Dritten Welt.

Machbar wäre, wenn wir uns im brüderlichen Geist von „Bariloche“ anstrengten, die Globalisierung so weit abzubremsen, dass Bürgerinnen und Bürger allerorts regionale Autonomie erkämpfen könnten. Dies gilt für alle Regionen der Erde, denn die Globalisierung hat die Teilung in Erste und Dritte Welt aufgehoben. In diesem Sinne marschieren die Landlosen in Brasilien und Indien auch für uns. Um aber zu diesem Ziel zu gelangen, bedarf es einer ordnenden Kraft. Das muss nicht notwendigerweise der Staat sein. Solche Thesen verfocht seinerzeit der DDR-Dissident Wolfgang Harich, der im Kommunismus den Staat nicht absterben lassen wollte, sondern ihn für eine Welt mit wachsender Knappheit verstärkt wiedererstehen sah: „Es liegt auf der Hand, dass ein Kommunismus der Rationierung solcher Sorgen enthoben wäre. Er wäre kein Paradies, sondern ,nur‘ eine Heimstatt ökologischer Vernunft bei strenger sozialer Gerechtigkeit. Aber das eben ist das Beste, was sich überhaupt je wird erreichen lassen.“ Ob solcher Sätze wanderte Harich ins DDR-Gefängnis. In der heutigen Globalisierung gilt der Satz, mit neuem Subjekt, erst recht. Soll es der Markt sein? Dessen destruktive Kräfte kennen wir inzwischen zur Genüge. Gibt es etwas dazwischen? Ja, argumentiert die US-Ökonomin Elinor Ostrom – gerade mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Ihre Untersuchungen zeigen, dass bei der Nutzung öffentlicher Naturressourcen (Almen, Seen, Wälder, Weideland) gemeinschaftlicheSelbstverwaltung besser funktioniert und weniger Schäden verursacht als Privatisierung (Markt) oder Kollektivierung (Staat).

Das ist eigentlich auch die Botschaft von Bariloche. Es geht darum, nicht den fossilenergetischen Lebensstil dank teurer Bio-Energie zu verlängern, sondern umzudenken, um das Mögliche an lokaler Autonomie zu retten, bei uns wie auch in Lateinamerika oder Asien. Ja natürlich, würde jetzt unser ökologisches TV-Schweinderl sagen. Und mehr werden wir wohl nicht schaffen. Aber das wäre schon eine ganze Menge. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2009)

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