Arbeit ist nur das halbe Leben

Vom Frühkapitalismus zur Industrie 4.0. Unser einstmals christlich-calvinistisch geprägtes Arbeitsethos wird zunehmend verdrängt durch eine ästhetisierte Lebensführung, die den Gedanken der Berufspflicht hinter sich lässt. Über Arbeitsethos im postindustriellen Zeitalter.

Zu den wirkmächtigen Narrativen der Moderne gehört Max Webers These vom Geist des Kapitalismus, der aus dem Calvinismus geboren wurde, sich aber in der Moderne zunehmend verflüchtigt habe. Sie wird freilich oft in vergröberter Form kolportiert, stellt doch Weber die Beziehung von Calvinismus und Kapitalismus recht differenziert dar. Jedenfalls gilt es für Weber als ausgemacht, dass die kapitalistische Wirtschaftsform, die zwar bis heute etliche Transformationen erfahren hat, aber als global dominant fortbesteht, sich ohne das protestantische Arbeits- und Berufsethos nicht in der Weise hätte entwickeln können, wie es tatsächlich geschehen ist.

Ernst Troeltsch sekundiert Weber in seiner klassischen Darstellung der Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912). Er behauptet nicht, der moderne Kapitalismus sei eine direkte Frucht der Reformation. Diese Behauptung ließe sich wirtschafts- und sozialgeschichtlich leicht widerlegen. Wohl aber habe das protestantische Arbeitsethos, das mit dem Aufkommen eines neuen Berufsbegriffs zusammenhing, die allgemeine Akzeptanz der gegenüber dem Mittelalter neuen Wirtschaftsform begünstigt und deren weitere Entwicklung entscheidend gefördert. – Das Neue in der Reformation gegenüber dem Spätmittelalter bestand darin, Arbeit nicht länger als notwendiges Übel zu betrachten, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, sondern als von Gott verordnete Berufung und somit als Gottesdienst im Alltag der Welt. Zugleich aber wurde die Arbeit als Mittel „der Selbstzucht und Ablenkung von bösen Lüsten“ (Weber) geschätzt. Während das Mönchtum und das Bettelwesen von Luther und den übrigen Reformatoren verworfen wurden, wurde das monastische Ideal der Askese gewissermaßen demokratisiert und so zur Signatur des christlichen Lebens im alltäglichen Leben.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.