Peter Sloterdijk: Wohin wir uns bewegen

„Stürzen wir nicht fortwährend?“
„Stürzen wir nicht fortwährend?“(c) EPA-EFE (LUIS TEJIDO)
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Sogar im Lager der unentwegt Progressiven beginnt man zu verstehen, dass das Chaos die Regel ist, von der die Ordnung die unwahrscheinlichste der Ausnahmen bildet. Im freien Fall: ein Gegenwartsbefund.

Gewöhnlich hat man die epochale Qualität der Suggestivfrage des „tollen Menschen“ in Nietzsches viel zitiertem Paragrafen 125 der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1882) überhört: „Stürzen wir nicht fortwährend?“ Man hat es überhört, weil man kaum je den Versuch unternahm, sie aus ihrem Kontext zu lösen, um sie als Einzeläußerung zu erwägen. Nietzsche hatte selbst alles getan, die Bedeutung der Frage zu verdecken, indem er sie in eine Kaskade gleich großer Formulierungen einbettete, mit denen er die dem „Tollen Menschen“ in den Mund gelegte Botschaft vom Tode Gottes einläutet: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Denn stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten . . .?“

So unerhört jede einzelne dieser Wendungen sein mag, im Rückblick wird erkennbar, dass die Frage „Stürzen wir nicht fortwährend?“ eine alles betreffende Diagnose zum Seinsmodus der modernen Welt impliziert, indem sie in der durchschnittlichen Art und Weise des aktuellen Daseins ein ständiges Gleiten und Stürzen konstatiert. „Nach vorn“ bedeutet hier weg von der alten „Mitte der Sicherheit“, weg von allem, was vormals Zustand, Maß und guter Grund gewesen war. Wenn Sturz und Überstürzung eins sind, ist Gott in den Vehikeln dieser Bewegung tot.

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