Das andere Österreich

Geboren 1929 in Wien, verbrachte sie ein Gutteil ihrer Jugend in Stalins Sowjetunion. In ihre Heimatstadt zurückgekehrt, übersetzte sie Solschenizyns „Archipel Gulag“ und wurde zur Anlaufstelle russischer Emigranten. Elisabeth Markstein – eine Begegnung.

Hans und Hilde nannte Elisabeth Markstein ihre Eltern. „Papa“ und „Mama“ wären für die 1929 in Wien geborene Tochter der Historikerin Hilde Koplenig und des KPÖ-Politikers Johann Koplenig nicht progressiv genug gewesen. Die heute 80-jährige Slawistin und Übersetzerin – unter anderem von Solschenizyns „Archipel Gulag“ – lebt seit 40 Jahren in einem Gemeindebau in Kagran. Vor Kurzem hat sie ihre Erinnerungen niedergeschrieben – eine Geschichte aus dem anderen Österreich.

Elisabeth Markstein lebte bis zu ihrem 16.Lebensjahr in einem halben Dutzend Ländern, meist ohne Eltern, die als Kommunisten im Untergrund gegen Hitler kämpften. Ob sie keine Angst um sie hatte? – „Nein, ich habe ja nicht verstanden, womit sie sich beschäftigten – ich hatte immer nur Heimweh.“ Gründe dafür gab es mehr als genug.

In der russischen Kriegsgefangenschaft des Ersten Weltkrieges Kommunist geworden, wurde Johann Koplenig, gelernter Schuster aus Kärnten, 1927, nach dem Justizpalastbrand, erstmals verhaftet; ein Jahr nach dem Verbot der Partei durch die Austrofaschisten wird ihm 1934 die Staatsbürgerschaft aberkannt.

Kop, wie er in Parteikreisen heißt, flieht nach Prag – mit ihm die aus dem Wiener jüdischen Bürgertum stammende Hilde Oppenheim (die promovierte Historikerin hatte in den 1920er-Jahren am legendären Rjansanow-Institut für Marxismus-Leninismus in Moskau gearbeitet). Man lebt mit falschen Pässen und vom Parteigehalt. Tochter Lisa wird diese Jahre bei Zieheltern in Zürich und in Reichenberg verbringen, just im Sudetenland, dem ersten Objekt von Hitlers Großmachtbegierden.

Auf Schulbesuch in Prag folgt 1936 die Emigration nach Moskau. Wie alle anderen Führer der Kommunistischen Internationale sind auch die Koplenigs im zentral gelegenen Hotel Lux untergebracht. Lisa wird von der Frau eines österreichischen Schutzbündlers betreut.

Erstes bewusstes politisches Erlebnis ist der 1936 beginnende Spanische Bürgerkrieg: „Ich machte mir eine Wandzeitung. Genauer gesagt, es waren Bilder aus Zeitungen und eine Karte der Fronten im Spanischen Bürgerkrieg. Als ich ein Lebensalter später zum ersten Mal in Spanien war, fuhr ich durch meine Wandzeitung: Madrid und No pasarán, die Parole meiner Generation, von Guadalajara bis Barcelona.“ Warum die von deutschsprachigen Komintern-Kindern besuchte Karl-Liebknecht-Schule bald geschlossen wird, erfährt sie ein Lebensalter später. Im heraufziehenden Stalin-Terror mit seinen „Volksfeinden“ und „ausländischen Spionen“ verschwinden 70 Lehrer, 40 werden hingerichtet – man warf ihnen vor, einen Ableger der Hitlerjugend in Moskau zu organisieren: „Am Glauben, im Paradies der Werktätigen zu leben, ändert das bei der Erstklasslerin nichts.“

Während einer Reise auf dem Moskau-Wolga-Kanal erkrankt Lisa an Kinderlähmung – und kein Geringerer als Georgi Dimitrow, Chef der Komintern, setzt sich für Lisas Behandlung in Frankreich ein. Ohnedies agiert die Mutter dort in der Illegalität. Der Flug über Stockholm und Amsterdam nach Paris ist aufregend. Zum ersten Mal in ihrem Leben trinkt sie Milchshake – ihrer aus Wien vor den Nazis geflohenen Großmutter erklärt sie unumwunden: „Moskau ist schöner als Paris.“

Die in jüngster Zeit wieder heftig diskutierte Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, den heute viele als Voraussetzung des Zweiten Weltkrieges ansehen, ist Elisabeth Markstein ganz besonders in Erinnerung geblieben. Die Erklärung, es habe sich dabei um einen taktischen Schachzug Stalins gehandelt, der damit Zeit gegen Hitlers Kriegsvorbereitungen gewinnen wollte, sei damals einfach akzeptiert worden; vom sogenannten Zusatzprotokoll, das die Zerschlagung Polens und die Aufteilung des Baltikums in Einflusssphären festlegte, habe man nichts gewusst.

Der Aufenthalt in einem Sommerlager in der Nähe Grenobles führte das kommunistische Kind aus Österreich mitten hinein in den die Zeit zerreißenden Konflikt. Die Erzieher, französische Trotzkisten, ließen die ihnen anvertraute Kinderschar skandieren: „À-bas Hitler! À-bas Stalíne!“ Sie habe nicht lange überlegt – beim „Nieder mit Hitler!“ brüllte sie lauthals mit, beim „Nieder mit Stalin!“ bewegte sie nur die Lippen. „Ich konnte doch nicht Stalin schmähen! Zugleich schämte ich mich für meine Mund-aufsperr-Feigheit. Heute bedaure ich, den Mund nur geöffnet und nicht mitgeschrien zu haben.“

Am 1.September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg mit Hitlers Einmarsch in Polen – zwei Wochen später besetzt Stalins Rote Armee dessen östlichen Teil.

Über Südfrankreich, Zagreb und Belgrad (wo sie neue Dokumente bekommt) flieht Lisa mit ihrer Mutter weiter über Kischinjew und Kiew zurück nach Moskau. Um sich für den revolutionären Kampf abzuhärten, schläft die begeisterte Pionierin in ihrem Zimmer im Hotel Lux neben dem Bett auf dem Fußboden.

Ein Foto samt Widmung einer russischen Freundin zeigt die Zwölfjährige am Schwarzen Meer: „Lisuntschik! Schau auf das Foto und denke an die Tage in Jewpatorija. 9/VI-41.“ Keine zwei Wochen später, am 22.Juni 1941, überfällt Hitlerdeutschland die Sowjetunion – der größte Vernichtungskrieg der Geschichte hat begonnen. Am Himmel kreisen Flugzeuge. Auf die überstürzte Rückkehr nach Moskau folgt die Evakuierung in die Gegend von Gorki, dem heutigen Nischnij Nowgorod. Angesichts der rasch vorgerückten Wehrmacht bricht in Moskau Panik aus – Stalins Herrschaft hängt an einem seidenen Faden.

Die folgenden eineinhalb Jahre verbringt Lisa mit ihrer Mutter auf einem ehemaligen Landgut. „Wir waren privilegiert, wir hungerten nicht, aber was wir hatten, war eintönig und vitaminarm.“ Der Krieg ist jetzt allgegenwärtig – so stehen auf dem Programm der Schüler Besuche verwundeter Rotarmisten, erste Todesmeldungen von Bekannten treffen ein. Man ist von der Außenwelt abgeschnitten, und so werden die raren Zeitungen geradezu verschlungen – vor allem die Artikel der Kriegskorrespondenten Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman. „Ehrenburgs vielfach diskutierter Aufruf ,Ubej Nemtsa!‘ – ,Töte den Deutschen!‘ hat mich nicht gestört“, meint Elisabeth Markstein nachdenklich. Dass nicht in jedem Wehrmachtssoldaten ein Mörder steckte, habe sie erst später und erst sehr langsam verstehen gelernt.

Texte Wassili Grossmans hat Elisabeth Markstein selbst übersetzt; zumindest Teile jenes monumentalen, kürzlich wiederentdeckten Stalingradromans „Leben und Schicksal“, des vielleicht bedeutendsten Buchs über den Zweiten Weltkrieg.

Von Stalins Terror erfährt sie erstmals während des Krieges, als ihr eine polnische Freundin die Briefe ihres als Trotzkisten verhafteten Vaters zu lesen gibt. Dennoch und wie auch anders vorstellbar: Der 9. Mai 1945, der Tag des Sieges über Hitlerdeutschland, bleibt bis heute ein Moment voller Enthusiasmus und Freude. Eine jubelnde Menge strömt durch Moskau zum Roten Platz, darunter auch die aus Wien stammende Schülerin. Weil sie schließlich zu spät nach Hause ins Hotel Lux kommt, wo die Mutter mit dem Mittagessen wartet, bekommt sie einen ordentlichen Rüffel. „Der Staat und das Volk waren damals eins – zumindest gab es diesbezüglich viel Propaganda, und man hat wirklich einen Neubeginn ohne Terror erwartet.“ Diese Hoffnung wurde durch Stalin enttäuscht – seine Herrschaft erreicht nach 1945 die größte Machtentfaltung.

Der Vater, Johann Koplenig, ist zu diesem Zeitpunkt schon nach Wien zurückgekehrt: als Vizekanzler der provisorischen Regierung Renner unterschreibt er die österreichische Unabhängigkeitserklärung, das Gründungsdokument der Zweiten Republik. „Renner, der mit Ja für den Anschluss gestimmt hatte, war eine ungute Figur“, sagt Elisabeth Markstein noch immer voller Unmut – nicht zuletzt auch über Stalin, der Renner mit der Bildung einer Regierung beauftragt hatte. Als sie mit Mutter und Bruder sowie Ruth Fischer im Sommer 1945 auf dem Flughafen in Baden landet, weiß sie: „Hier bin ich fremd.“

Bestärkt wird dieses Gefühl, als sie von der Ermordung zweier Großtanten im Konzentrationslager erfährt, eine Cousine der Mutter kommt kahl geschoren aus Bergen-Belsen zurück. „Wer überlebte, ging möglichst weit fort.“

Die überschwänglichen Hoffnungen ihrer Eltern und des Parteidenkers Ernst Fischer auf ein kommunistisches Österreich wurden im November 1945, bei den ersten freien Wahlen seit 1934, zunichte gemacht. Von den 3,5 Millionen Wahlberechtigten stimmten kaum fünfeinhalb Prozent für die KPÖ. Damals habe sie ihren Eltern und Freunden gesagt: „Man will uns hier nicht.“

Zur Matura kehrt sie nach Moskau zurück, dort erlebt die Slawistikstudentin 1947/48 auch den Ausbruch des Kalten Krieges; 1953 promoviert sie in Wien mit einer Arbeit über „Gorki und den Sozialistischen Realismus“. Es wird noch bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 dauern, bis sie „endlich“ – wie Elisabeth Markstein erleichtert betont – aus der Partei ausgeschlossen wird. Die formlose Mitteilung per Post habe sie noch irgendwo aufbewahrt – trotz antisowjetischer Artikel, die sie damals schon schrieb und trotz der heftigen Diskussionen mit ihrem Vater habe sie sich wegen dessen angeschlagener Gesundheit nicht entschieden, selbst aus der Partei auszutreten.

Koplenig nimmt in ihrem Leben bis heute eine wichtige Rolle ein – der Chef der KPÖ habe sich nebenbei auf persönlicher Ebene recht gut mit Leopold Figl verstanden. Auf die Frage, ob das damit zu tun habe, dass sowohl das Aushängeschild der Volkspartei wie der Chef der Kommunisten nicht aus Wien, sondern vom Land kamen und beide Sturschädel waren, lacht sie.

Ein anderer Hitzkopf, Alexander Solschenizyn, war entscheidend für Marksteins Arbeit als Übersetzerin und Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kommunismus – auch der eigenen. Ihre Übersetzung des „Archipel Gulag“, jenes Buches, von dem vielfach behauptet wurde, es habe maßgeblich zum Fall des Kommunismus beigetragen, zeichnet sie mit Anna Peturnig. Weil das Pseudonym aufflog (oder die Behörden herausfanden, dass sie immer wieder Solschenizyns Briefe außer Landes schmuggelte), erhielt sie schließlich ein jahrelanges Einreiseverbot in die UdSSR. Darauf sei sie bis heute stolz.

In den 1970er-Jahren wurde sie zu einer Anlaufstelle für prominente russische Emigranten-Schriftsteller – Jossif Brodskij trug seine Gedichte in ihrem Wohnzimmer vor, mit Wassili Aksjonow tourte sie durch Europa, Lew Kopelew wurde zum langjährigem Freund. Elisabeth Markstein war in Wien wieder daheim – was ihr immer wieder auch spezielle Österreich-Erfahrungen bescherte. Bei einer Anti-Waldheim-Demonstration auf dem Stephansplatz wurde ihr etwa an den Kopf geworfen: „Ihr Juden habts es in der Emigration eh alle guat ghabt!“ Ein wenig ist sie bis heute auch in Russland geblieben – über Internet hört sie Moskauer Radio, mit den letzten dort verbliebenen Freunde skypt sie möglichst oft. Am Morgen unseres Treffens beschriftet sie gerade ein Paket für einen ihrer Enkel – der lebt allerdings in Chile. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2010)

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