Gauß über Österreichs Wahlkampfjahr: Dirty

Weltoffen.
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„Müssen wir mit noch mehr Opfern rechnen?“, pflegen die Moderatoren den Katastrophen-Berichterstatter zu fragen. Wir müssen. Müssen wir? Die österreichische Welt im Wahlkampfjahr 2017. Rede zur Eröffnung der Buch Wien.

Bekennender Liebhaber von Zufällen, der ich bin, geriet ich vor ein paar Jahren versehentlich in eine kleine Schweizer Gemeinde, die mir, als ich sie ein paar Stunden später verließ, als Mitte der Welt lieb geworden war. Eigentlich wollte ich in Lausanne nur ein wenig mit der Straßenbahn herumfahren, aber ich hatte nicht bedacht, dass die Metrolinie 1 über die Stadtgrenze bis in eine fünf, sechs Kilometer entfernte Ortschaft namens Renens hinausführt. Das Industriestädtchen liegt oberhalb des Genfer Sees und hat auf den ersten Blick nicht viel zu bieten, das es zu erkunden lohnte: eine lang gestreckte Gewerbezone, die mit etlichen Fabrikgebäuden bestückt ist, dicht gedrängte Wohnblöcke, ein Zentrum, das man im österreichischen Sinne nicht Altstadt nennen möchte, einen Marktplatz, der an diesem Nachmittag unter der Woche sohübsch möbliert und gut aufgeräumt wirkte, als würden die Einwohner sich hier lieber in Pantoffeln als in Straßenschuhen zum Plaudern einfinden. Unweit dieses Platzes mit allerleigemütlichen Sitzgelegenheiten aus Stein und Holz stieß ich auf ein Haus, das ein Schild als die BüchereiGloblivres auswies, und esfügte sich, dass eine Mitarbeiterin, die das Haus gerade betreten wollte,mein Interesse bemerkte und mich aus der Schweizer Provinz in die große Welt hineinbat. Was ich sah, war eine geräumige, freundlich wie zweckdienlich eingerichtete Bücherei mit rund 30.000 Bänden. Was ich erfuhr: Es sind sagenhafte 280 Sprachen, in denen diese Bücher verfasst wurdenund nach denen sie auch geordnet waren. Da standen ein paar Bücher auf Afar, einer in Äthiopien gesprochenen Sprache, ein paar auf Akan, das natürlich von der Elfenbeinküste stammt, und daneben die auf Armenisch, Aramäisch, Amharisch oder auf Avaric,das in Dagestan als eine von mehreren kaukasischen Staatssprachen anerkannt ist.

Renens hat nur 20.000 Einwohner, aber die stammen, was auch für die Schweiz Rekord sein dürfte, aus mehr als hundert Ländern und sind als Arbeitsmigranten, Wirtschaftsflüchtlinge, Asylanten in den Kanton Waadt gekommen. Und die klugen, durch nichts so leicht aus der demokratischen Fassung zu bringenden Waadtländer haben sich gedacht, wenn wir diese Leute schon im Land haben – die einen, weil wir sie brauchen, die anderen, weil sie uns brauchen –, dann wollen wir ihnen jene Integration, die wir von ihnen zu Recht verlangen, durch unser Verhalten nicht erschweren, sondern erleichtern.

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