„Nehmen Sie doch etwas Obst“

„Mit Ausnahme von Kapitalis- ten oder Ingenieuren, die für uns von Nutzen sind...“ Japans ambivalente „Judenpolitik“ im Zweiten Weltkrieg.– Nachforschungen in Tokio und Kobe.

Rabbi Strausberg wundert sich sehr,dass jemand den Weg von Wien auf sich nimmt, um ihn in seiner kleinen Synagoge in Kobe zu besuchen. Der jüdischen Gemeinde von Kobe gehören nur einige wenige Familien an. Das Interesse an Japans historischem Verhältnis zu den Juden findet er ziemlich exotisch. Ehemalige jüdische Flüchtlinge, die in Japan geblieben sind, fallen ihm nicht ein. Doch: Choueke-San, die älteste Jüdin von Kobe. „Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass sie Sie empfängt!“ Seit dem großen Erdbeben vom Jänner 1995 verlasse die alte Dame ihr Haus nur mehr einmal täglich, um ihren Lunch einzunehmen, und vermeide alle Kontakte.

Sie war blutjung, 16, als sie mit ihrem Ehemann, einem reichen Geschäftsmann aus Syrien, nach Kobe emigrierte. Das war 1936. Eine riesige Schwarz-Weiß-Fotografie im Foyer ihres Hauses zeigt sie in diesem Alter. Sie war bildschön. Ihr Haus, Choueke no yashiki, ist eine der Ausländervillen vom Ende des 19. Jahrhunderts und beherbergt ein Museum, wie es Japaner lieben: internationales Flair, feines europäisches Interieur, Schmuck und Porzellan in Glasvitrinen, eine beachtliche Holzschnittsammlung. Die japanische Empfangsdame mustert mich misstrauisch und schüttelt den Kopf: Choueke-San empfängt niemanden. Es bedarf einiger Überredungskünste auf Japanisch. Als sie nach einer Weile zurückkehrt, kann sie die Botschaft selbst kaum glauben: „Sie sagt Ja!“ Ich schiebe die dicke Kordel zur Seite, die die Privatgemächer vom Museum trennt und steige die blank gescheuerten Holzstiegen hinauf.

Die ersten Juden kamen im 19. Jahrhundert nach Japan und besiedelten die HafenstädteYokohama und Nagasa- ki. Die größte jüdischeCommunity mit ein paarHundert Mitgliedern ist heute in Tokio. (Der Rabbi dort ist unfreundlich und desinteressiert.) In Kobe siedelten sich die ersten Juden nach dem Ersten Weltkrieg an, sie kamen vor allem aus Syrien, dem Iran und dem Irak. Später stießen russische Juden aus Harbin dazu. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fanden viele der jüdischen Flüchtlinge – zeitweise einige Tausend –, denen der japanische Vizekonsul in Kaunas, Chiune Sugihara, Transitvisa ausgestellt hatte, vorübergehend in Kobe Unterschlupf.

Chiune Sugihara wurde Ende August 1939 japanischer Vizekonsul in der litauischen Hauptstadt. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs fiel Litauen aufgrund des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts der sowjetischen Interessensphäre zu und wurde sukzessive von sowjetischen Truppen besetzt. 1939 lebten in Litauen rund 150.000 Juden, danach kamen Tausende Flüchtlinge aus Polen hinzu. Da sie auch in Litauen der Verfolgung nicht entkommen konnten, sahen viele den Weg über China und Japan in ein sicheres Drittland als letzten Ausweg.

Für Chiune Sugihara begann das Flüchtlingsdrama am Morgen des 27. Juli 1940. Seine Frau Yukiko hält in der Biografie ihres Mannes fest, dass sich in der ansonsten ruhigen Straße vor dem Konsulat, hundert odergar zweihundert Menschen versammelten. „Sie sahen verängstigt und erschöpft aus. Es war chaotisch.“ Ihr Mann sei hinuntergegangen und mit der Erklärung wiedergekehrt: Es seien vor den Nazis geflohene polnische Juden. Sie wollten von ihm ein Visum.

„Für die Japaner waren – und sind – Juden in erster Linie Fremde wie andere Nichtjapaner auch“, sagt Masanori Miyazawa, emeritierter Professor in Kioto, der als japanischer Juden-Experte gilt. „Erst 1933, mit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland, wurde der japanischen Regierung bewusst, dass sie reagieren musste. Im Dezember 1938 wurden dann die sogenannten Judenmaßnahmen erlassen.“

Die Empfangsdame klopft an eine Tür im ersten Stock und entfernt sich leise. Ein eiskaltes, riesiges Zimmer. Ein Tischchen mit einer Schale Obst. Ein Schminktisch. In einem überdimensionalen Doppelbett eine wachsbleiche, zerbrechlich wirkende alte Dame, mit weißem Haar und Brille. Vor sich auf der Decke einen Packen englischsprachiger Zeitungen und die Fernbedienung für die Klimaanlage. Auf dem Nachttisch eine Wasserflasche und jede Menge Medikamente. Ich trete ans Bett und gebe Frau Choueke die Hand. Sie zeigt auf einen weit vom Bett entfernten Hocker. Eine Weile verharren wir stumm. Dann beginnt sie mit leiser Stimme Fragen zu stellen, nach dem Woher und Warum – und vor allem: „Warum interessieren Sie sich für Juden?“ Ihr künstliches Gebiss macht dabei ein klapperndes Geräusch. „Ich erzähle nichts, ich will mich nicht an die Vergangenheit erinnern“, sagt sie dann, und ihr Atem geht schwer, und sie bleibt dabei. Wieder Schweigen. „Nehmen Sie doch etwas Obst!“ Danach spricht sie nicht mehr. Ich bleibe noch eine Weile sitzen, dann nehme ich nochmals ihre Hand, die leicht ist wie Papier.

1932 errichtet Japan den Marionettenstaat Mandschukuo in der Mandschurei. „Japan wollte die Juden für seine Expansionsziele gewinnen“, erklärt der Journalist und ehemalige Militärattaché an der deutschen Botschaft in Tokio, Heinz-Eberhard Maul, „und sie nutzbringend in der Mandschurei ansiedeln.“ Einer dieser Pläne war der „Fugu-Plan“, der die Ansiedelung von rund 30.000 Juden in der Mandschurei vorsah, aber nie realisiert wurde.

Die sogenannten Judenmaßnahmen wurden auf Basis der Fünfministerkonferenz vom 6. Dezember 1938 erlassen und sahen vor:„Juden, die in den Hoheitsgebieten von Japan, Mandschukuo und China leben, erhalten die gleiche gerechte Behandlung wie andere Ausländer. Es soll vermieden werden, Juden zu ermuntern, nach Japan, Mandschukuo und China zu kommen: mit der Ausnahme von Kapitalisten oder Ingenieuren, die für uns von Nutzen sind.“

„Eine judenfreundliche Haltung lässt sich daraus keineswegs ablesen“, so Martin Kaneko, Professor an der Japan Women's University in Yokohama, über Versuche, aus diesen Richtlinien abzuleiten, dass Japan großzügig jüdische Flüchtlin- ge aufgenommen habe. „Japan war genau wieandere Staaten nicht judenfreundlich!“

Im Flüchtlingsdrama von Kaunas erhielt Vizekonsul Chiune Sugihara 1940 die Anweisung des Außenministeriums inTokio: „Es wird daraufhingewiesen, dass diejenigen, die ein Transitvisum für unser Land wünschen, das Antragsverfahren für ein Einreisevisum in das Zielland abgeschlossen haben müssen. Wenn dies nicht erfüllt ist, wird die Einreise in unser Land verweigert.“ Mit dieser Haltung ha- be die japanische Regierung Sugihara nicht eindeutig verboten, Transitvisa auszustellen, interpretiert Heinz-Eberhard Maul.

Die International Clinic in Tokio ist eine Institution. Über dem Eingang des ehemaligen britischen Bankgebäudes aus dem 19. Jahrhundert im Stadtviertel Roppongi prangtein Schild, das keinen Zweifel daran lässt, wer hier das Sagen hat: Dr. Eugene Aksenoff, Klinikgründer und ärztlicher Leiter. Aksenoff, ein hochgewachsener, hagerer Mann im weißen Mantel, eilt von einem Termin herbei und begrüßt seinen Besuch mit dunkler Stimme und starkem Akzent. Er rollt die R,hackt die Wörter ab. Eugene Aksenoff wurde 1925 als Sohn russischer Eltern in der nordchinesischen Stadt Harbin geboren. Dort gabes eine kleine jüdische Gemeinde, die hauptsächlich aus russischen Geschäftsleuten und Ärzten bestand. Von der Ankunft der Japaner in Harbin ist ihm vor allem deren Brutalität und Arroganz gegenüber den Chinesen im Gedächtnis geblieben. Ihm waren die Japaner freundlich gesonnen, zumal einige Mitglieder des Kaiserhauses Gefallen an der Pferdezucht seines Vaters in Harbin gefunden hatten. Sie ermöglichten es ihm, 1943 nach Tokio zu gehen und dort Medizin zu studieren. Gute Verbindungen zur kaiserlichen Familie hat er bis heute.

Aksenoffs Eltern (der Vater besaß in Sibirien fünf Goldminen) waren im Zuge der russischen Revolution nach China geflohen. Die Mutter war aus Odessa und hatte deutsch-jüdische Wurzeln. Lamm habe die Familie geheißen, erzählt Eugene Aksenoff, und nach 1945 wäre er eigentlich gern nach Deutschland gefahren, um mehr über seine Verwandten herauszufinden. Da aber lebte er schon zwei Jahre in Tokio, und es gab anderes für ihn zu tun, als vom zerbombten Japan ins zerbombte Deutschland zu reisen. Seine jüdischen Wurzeln hätten ihn, der getauft und russisch-orthodox sei, eigentlich nie viel gekümmert, sagt Aksenoff.

Nach Recherchen von Heinz-Eberhard Maul gelangten nach Kriegsbeginn in Europa insgesamt 4680 Flüchtlinge nach Japan. Die meisten zogen in andere Länder weiter. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 und dem Ausbruch des Pazifikkrieges entschied Japan, die rund 1500verbliebenen jüdischen Flüchtlinge nach Schanghai zu evakuieren – um sie aus dem Weg zu haben, wie Heinz-Eberhard Maul formuliert.

Zu diesem Zeitpunkt lebte der Wiener Georg Fischer bereits seit zwei Jahren in Schanghai. Er war 1939 mit seiner Familie vor den Nazis geflohen. Schanghai war seit 1937 japanisch besetzt und eines der wenige Fluchtziele ohne Quotenregelung. Der Beginn des Pazifikkrieges bedeutete auch für die Flüchtlinge in Schanghai eine große Veränderung. Ab sofort mussten alle Ausländer farbige Armbänder tragen, sich registrieren lassen und einer lückenlosen Kontrolle unterwerfen. Japan orientierte sich nun ganz am Allianzpartner Deutschland. Am 11. März1942 beschloss die japanische Führung neue Richtlinien für die Behandlung der Juden undrevidierte damit den Beschluss der Fünfministerkonferenz vom Dezember 1938. Aufenthalt und Rechtsstatus für die Juden wurden neu geregelt. Juden wurde es untersagt, nach Japan, Mandschukuo und China sowie in die von Japan besetzten Gebiete zu kommen. Gestapo und SS tauchten in Schanghai auf, erinnert sich Georg Fischer, es kursierten Gerüchte, wonach die jüdischen Flüchtlinge in Schanghai von den Deutschen „eliminiert“ werden sollten. Am 18. Februar 1943 errichteten die Japaner das Ghetto Hongkew, die „Restricted Area for Stateless Refugees“. Die jüdischen Flüchtlinge in Hongkew bauten sich im Ghetto eine eigene kleine Welt auf, doch die Lebensbedingungen seien schlimm gewesen, erzählt Fischer. Erst 1949, mit 24 Jahren, kehrte er nach Wien zurück.

Im Archiv des japanischen Außenministeriums existiert die „Sugihara-Liste“, auf der Sugihara die in Kaunas erteilten Visa dokumentiert hat. Die letzte Eintragung stammt vom 26. August 1940 und trägt die Nummer 2139. Wie viele Visa er tatsächlich ausgestellt hat, bleibt unklar. Nach der Schließung des Konsulats durch die Sowjets vernichtete er alle sensiblen Dokumente. Er geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Als er 1947 nach Japan zurückkam, wurde er vom Außenministerium entlassen: „Und zwar deswegen, weil er die Visa ausgestellt hatte. Aber das wird heute ja auch umgedeutet“, sagt Martin Kaneko. Heinz-Eberhard Maul mag diese Meinung nicht teilen: „Ich denke, dass Sugihara nicht wegen seines Verhaltens in Kaunas entlassen worden ist.“ Die Gründe seien vielmehr in der politischen Neuordnung Japans nach 1945 zu suchen. Und Sugihara sei als kleiner Diplomat zu unbedeutend gewesen, um erneut in den Staatsdienst genommen zu werden, meint Maul.

Chiune Sugihara starb 1986. 1985 ehrte ihn die israelische Regierung als „Gerechten unter den Völkern“. Erst 1992 errichtete ihm seine Geburtsstadt Yaotsu ein Denkmal,und gar erst 2000 stellte ihm das japanische Außenamt eine Gedenktafel auf. Seit einigen Jahren gilt er als der „japanische Schindler“. Dieser spät entdeckten Popularität trägt das Musical „Sempo“ Rechnung, das im Frühjahr 2008 startete und eine Hommage an Sugihara ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2010)

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