Notizen eines Wahl-Budapesters: Auch die Gewinner werden Verlierer sein

Aufgerissene Stra�e in Budapest
Aufgerissene Stra�e in Budapest(c) imago/WEREK (imago stock&people)
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Vor 30 Jahren waren die Ungarn hungrig auf neue Entfaltungsmöglichkeiten. Es wurde diskutiert, gestritten, geschwärmt und verflucht. Heute fehlt der leidenschaftliche Glaube an die Veränderbarkeit der Welt: Es herrschen Sprachlosigkeit und Resignation. Notizen eines Wahl-Budapesters.

Schon in den Jahren des kriselnden Staatssozialismus vor 1989 wurde in Ungarn viel gerätselt und geklagt über den tiefen Spalt, der sich mit Anbruch der Neuzeit durch die kleine Nation zieht und sie fast auseinanderbrechen lässt: auf der einen Seite stehen die volksnahen Traditionalisten, auf der anderen die urbanen Kosmopoliten. Die Traditionalisten wollten sich verschanzen und ihre bedrohten Eigenartigkeiten wie in einem Schneckenhaus sichern. Dieses Gehäuse sollte möglichst groß, rein ungarisch und abgeriegelt sein, nur so habe die Nation, umkreist von lauter Slawen und Germanen, eine letzte Chance auf eine eigenständige Zukunft und souveräne Identität. Die Urbanen sahen das genau umgekehrt. Ungarn liege im Herzen Mitteleuropas und müsse sich mit der Welt mutig und klug vermischen. Gerade in der Kommunikation liege die Chance auf eine glückliche Zukunft, in der Abriegelung dagegen die Gefahr einer austrocknenden Bedeutungslosigkeit.

Dieser nationale Riss zieht sich in immer wieder neuen Metamorphosen bis in unsere Gegenwart. Aktuell kommt es zu einer fatalen Verhärtung der auseinanderdriftenden Blöcke. Einen dritten Block hat es wohl immer schon gegeben, doch er wird in den vergangenen 30 Jahren zunehmend stärker: die bunte Gruppe der Verzweifelten und Resignierten, die jede Hoffnung auf politische Selbstbestimmung aufgegeben haben, müde abwinken und von aller Politik nichts mehr wissen wollen. Die Sprachlosigkeit zwischen den Blöcken könnte größer nicht sein, sie stehen einander misstrauisch und unversöhnlich, oft sogar mit offenem Hass gegenüber. Auf dieser Basis kann eine Demokratie nicht funktionieren, denn die baut auf Abstimmung, Verständigung, Kultur im Streit und eine Bereitschaft, sich auf die anderen zu beziehen, Kompromisse zu suchen und Konsens zu finden.

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