Wien, 19. Juni 1868.
Alle Welt kann jetzt um wenige Groschen ein Heftchen kaufen, das den Titel trägt: „Das Tagebuch, bisher noch nicht gedrucktes Gedicht von Goethe.“ Ein erotisches Gedicht von Goethe! wird der bekannte „Jedermann“ rufen. Und zwiefach wird die Masse der Leser sein: hier die Neugierigen, die höchlich zufrieden sind ob der überraschenden Thatsache, dort die schwer Beweglichen, die darüber verwundert sind und betrübt zugleich. Jenen ist es willkommen, daß ein Geweihter einmal schnöden Gelüsten, wie sie glauben, huldigt, daß auch die edle Muse angeblich um wohlfeile Kränze buhlt; diesen ist es peinlich, daß ihrer gedankenlosen Verehrung Goethe's ein Strich durch die Rechnung gemacht worden, daß ein Zwischenfall sie aus ihrer dumpfen Anbetung aufgescheucht hat. Den Ersteren ist niemals beizukommen, denn sie haben mit den Unsterblichen das Vorrecht der Unnahbarkeit gemein. Den Letzteren aber sei die Erwägung empfohlen, ob es mit der Bewunderung eines großen Künstlers vereinbar, ohneweiters abzuurtheilen, wenn ihnen etwas unangenehm, widerspruchsvoll an einem solchen auffällt. Man sollte meinen, es wäre dann angemessener, vorerst nachzudenken, zu prüfen und zu schweigen.