Die Frage nach dem „Wir“

Parteien sind nicht für die Ewigkeit geschaffen. Die Zukunft kann auch nach völlig neuen Formen verlangen. Österreichs Sozialdemokratie 100 Jahre nach dem Tod ihres Begründers, Victor Adler: Was blieb, was bleibt?

Das Denkmal der Republik an der Wiener Ringstraße ehrt drei sozialdemokratische Gründer der Republik; darunter einen, dessen Todestag – der 11. November 1918 – fast dem Gründungstag der Republik entsprach: Victor Adler, die Integrationsfigur der österreichischen Sozialdemokratie, hatte noch wenige Tage vor seinem Tod, bereits schwer erkrankt, das Amt des Staatssekretärs des Äußeren übernommen. Er war damit der erste Außenminister der Republik.

Was immer die unter dem dominanten Einfluss Adlers 1888 im niederösterreichischen Hainfeld gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz war: Sie war vor allem die Partei Victor Adlers. Er hatte es verstanden, die verschiedensten Gruppierungen auf einen Nenner zu bringen; aus den „Gemäßigten“ und „Radikalen“, aus marxistischen Theoretikern und gewerkschaftlichen Agitatoren eine Partei zu machen, die bald schon zu einer bestimmenden Kraft in der entstehenden parlamentarischen Ordnung des Kaiserreiches werden sollte.

Die Integration, die Adler schaffte, hatte freilich ihren Preis. Innere Widersprüche mussten zugedeckt werden – die Einheit der Partei hatte Vorrang vor programmatischer und strategischer Eindeutigkeit. Das zeigte sich vor allem in der „Nationalitätenfrage“: Adler, der in seiner Jugend ein liberaler Deutschnationaler gewesen war, wollte die österreichische Hälfte der Monarchie auf evolutionärem Weg in einen demokratisch-parlamentarischen Bundesstaat umbauen – und so ein transnationales Österreich retten. Es gelang der Partei aber nicht, die nationalen Gegensätze in den eigenen Reihen zu überbrücken. 1911 spalteten sich die tschechischen Sozialisten ab. Die Partei hatte keine überzeugende Antwort auf die für das Kaiserreich entscheidende Frage nationaler Selbstbestimmung gefunden.

Das sollte sich auch nach Adler nicht ändern, die Partei sah sich in ihrer langen Geschichte immer wieder gezwungen, Widersprüche durch Formelkompromisse zu überdecken: Widersprüche bezogen auf den Weg zu einer „sozialistischen Gesellschaft“, auf das Wesen ebendieser in die Zukunft projizierten Ordnung, aber auch und gerade auf das Nationale. 1919 legte Otto Bauer, Adlers Nachfolger als republikanischer Außenminister, diese Funktion zurück, weil er das von den Siegermächten 1919 unbedingt in den Staatsvertrag von St. Germain hineinreklamierte Verbot des Anschlusses an die Deutsche Republik von Weimar nicht mittragen wollte. Ein anderer Sozialdemokrat, Staatskanzler Karl Renner, war hingegen bereit, diese Forderung der Entente zu akzeptierten – er unterschrieb das Diktat, weil er glaubte, es habe keinen Sinn, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.

Das sollte sich bald wiederholen: Otto Bauer antwortete im Pariser Exil – kurz vor seinem Tod – auf den von Hitler-Deutschland real vollzogenen „Anschluss“, die Parole dürfe nicht die Wiederherstellung Österreichs sein, sondern die „gesamtdeutsche Revolution“. Karl Renner aber sollte im April 1945 zum Sprecher der Kräfte werden, die (angesichts des für Renner gewiss nicht überraschenden Ausbleibens einer „gesamtdeutschen Revolution“) das in Moskau von den Alliierten am 1. November 1943 gemachte Angebot nutzten und am 27. April 1945 die Unabhängigkeit der Republik Österreich ausriefen. Im Spannungsfeld zwischen Otto Bauers oft wirklichkeitsfremder Theorie und Karl Renners oft opportunistischem Pragmatismus sollte sich in den Jahrzehnten der Zweiten Republik doch einiges verschieben. Schrittweise nahm die SPÖ nach 1945 Abschied von dem, was – vor allem mit Bezug auf das „Linzer Programm“ 1926 – AUSTROMARXISMUS genannt wurde. Der Grund war, dass die SPÖ als Regierungspartei zu Kompromissen zwischen Theorie und Praxis gezwungen war, die ihr davor in einer permanenten Oppositionsrolle erspart geblieben waren.

Besonders deutlich wurde dies in der „Ära Kreisky“, als die SPÖ 13 Jahre – gestützt auf eine Kette von (jedenfalls bis heute) einmaligen Wahlerfolgen – allein die Geschicke der Republik zu bestimmen schien. Wie immer man allerdings die 1970er-Jahre beurteilt – der Sprung in eine völlig neue gesellschaftliche Qualität, die man „Sozialismus“ hätte nennen können, waren diese Jahre nicht. Viele in der Partei hatten dies erhofft, viele außerhalb der SPÖ befürchtet. Die „Ära Kreisky“ brachte maßvolle Veränderungen – im Sinne der zentralen Zielvorstellungen einer „Modernisierung“. Österreich wurde „moderner“. Aber „sozialistisch“, das wäre ganz eindeutig mehr gewesen.

„Modernisierung“ freilich bedeutete auch mehr soziale Sicherheit und wachsender Wohlstand für die Kernklientel der SPÖ – für die „Arbeiterklasse“. Die hatte inzwischen nicht mehr nur ihre Ketten zu verlieren, wie das von Karl Marx und Friedrich Engels noch 1848 in plakativer Eindringlichkeit behauptet wurde. Im Österreich des wachsenden Massenwohlstandes begann die Arbeiterschaft zum neuen Kleinbürgertum zu werden und ängstlich die bescheidenen Errungenschaften zu verteidigen, die ihnen durch Sozialdemokratie und Sozialpartnerschaft zugekommen waren.

Eben deshalb ist die FPÖ schon seit längerer Zeit die erste Arbeiterpartei Österreichs – gemessen am Wahlverhalten der Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter im Lande. Die FPÖ und nicht die SPÖ scheint diesem neuen Kleinbürgertum Schutz zu bieten – gegen die Bedrohung nicht durch „das Kapital“, sondern durch die Globalisierung. Und die hat ganz konkrete Gesichter – die der Menschen, die nach Österreich gekommen sind und weiterhin kommen; „Gastarbeiter“ und Flüchtlinge und Zuwanderer aus den verschiedensten Regionen der Welt.

Die SPÖ aber ist die Gefangene der Widersprüche, die schon Victor Adler nicht lösen konnte: Für wen gilt die Formel „Solidarität“? Für alle Menschen? Für alle Menschen in Österreich? Für diejenigen, die im Besitz der „richtigen“ Staatsbürgerschaft sind? Mit wem soll sich ein Mitglied, ein Anhänger der SPÖ solidarisch fühlen – mit den rumänischen Arbeitern, die im Gefolge der Logik des europäischen Binnenmarktes von der Verlagerung von Arbeitsplätzen weg aus Österreich profitieren? Mit den slowakischen Altenpflegerinnen, die in Österreich arbeiten und österreichische Familienbeihilfe beziehen, auch wenn diese Familien in der Slowakei leben? Mit den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, die – in Österreich – als Kostenfaktor das soziale Netz belasten?

Österreich ist eben keine Insel, und die Vorstellung von Solidarität ist nur unter der Annahme einer Inselsituation relativ einfach zu konkretisieren. Aber die Sozialdemokratie ist doch die Partei, deren traditioneller Kampfruf „Hoch die internationale SOLIDARITÄT“ ist! Und die ist relativ einfach ausgedrückt, wenn es um eine Che-Guevara-Büste in Wien geht; und sie ist viel schwerer umgesetzt, wenn es um die Aufnahme armer Menschen aus Afrika in das österreichische Sozialnetz geht. Schon der Partei Victor Adlers ist es nicht gelungen, die nationalen Gegensätze in Böhmen und Mähren parteiintern zu lösen. Und die SPÖ nach 1945 wollte dem Phänomen proletarischer Anfälligkeit für die doch – angeblich – „bürgerliche“ NSDAP nicht wirklich auf den Grund gehen.

Die SPÖ auf der Erfolgsschiene der Zweiten Republik war zufrieden, Widersprüche zudecken zu können. Doch die Globalisierung macht dies nicht mehr möglich. Und was Victor Adler der „Nationalitätenkonflikt“ war, ist für die SPÖ heute die Frage nach dem „Wir“: Sind auch die im Mittelmeer, vor den Küsten der EU Ertrinkenden Teil eines unsere Solidarität beanspruchenden „Wir“?

Nicht, dass Antworten leicht zu finden wären. Aber diese Fragen können immer weniger verdrängt werden. Und Antworten gibt es ja – etwa die des italienischen Innenministers, die so verschieden von den Antworten der österreichischen Regierung nicht sind.

Die SPÖ aber wirkt gelähmt: Das war schon beim Wechsel von Werner Faymann zu Christian Kern deutlich, und das wird sich wohl nicht so rasch ändern. Victor Adler hat versucht, eine gesamtösterreichische Antwort auf den Konflikt der Nationalitäten zu finden. Das ist ihm nicht gelungen, und der Konflikt der Nationalitäten hat sich nach 1918 zu dem gesteigert, was dann zur größten Katastrophe nicht nur des 20. Jahrhunderts geführt hat. Nach 1945 waren es Sozialdemokraten (Sicco Mansholt, Paul-Henri Spaak), denen im Zusammenspiel mit Christdemokraten (Robert Schuman, Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi) eine zunächst nur westeuropäische Antwort gelang: die Relativierung der nationalen Gegensätze durch die Relativierung innereuropäischer Grenzen.

Die SPÖ hat sich, im Gefolge der geopolitischen Verschiebungen um 1990, nach kurzem Zögern entschlossen, diesem Konzept zu folgen – auch hier im Zusammenspiel von Franz Vranitzky und Alois Mock. Und sollte das Wort von der internationalen Solidarität noch irgendeine Bedeutung haben, dann hat es keinen Sinn, angesichts bestimmter punktueller Rückschläge von diesem europäischen Weg abzuweichen. Der darf nicht mit einer naiven Romantik einer unverbindlichen Che-Guevara-Begeisterung verwechselt werden.

Es geht um die Vertiefung der EU – und nicht um unkontrollierte Zuwanderung in die EU. Es geht um die Europäisierung von Asyl- und Staatsbürgerschaftsrecht; darum, dass zu den Konsequenzen des Binnenmarktes auch gehört, einheitliche europäische Standards für den Zugang zu diesem Kernstück europäischer Integration festzulegen. Dieser Binnenmarkt ist ein Stück Sozialunion, weil er die EU-weite Gleichstellung portugiesischer Bauarbeiter und polnischer Krankenschwestern garantiert. Wer Solidarität will, muss Gleichheit wollen.

Das alles ist für die Partei Victor Adlers, hundert Jahre nach dem Tod des Parteigründers, nicht leicht; dafür gibt es keine Rezepte. Aber dem kann die SPÖ nicht ausweichen.

Parteien sind nicht für die Ewigkeit geschaffen. 1969 löste sich die traditionsreiche SFIO, die sich „Französische Sektion der Arbeiterinternationale“ nennende Partei des Jean Jaurès und des Léon Blum, nach einer Serie schwerer Wahlniederlagen auf. Neu gegründet wurde die Sozialistische Partei Frankreichs (PS) – und etwa ein Jahrzehnt nach dieser Gründung war François Mitterrand Präsident der französischen Republik.

Was kann das für die SPÖ bedeuten? Dem Festhalten an Formen und der Beschwörung der Einheit um jeden Preis muss nicht die Zukunft gehören. Zukunft kann auch nach völlig neuen Formen verlangen – auch für eine Sozialdemokratie, die nur dann ein Alleinstellungsmerkmal aufweist, wenn dieses „Solidarität“ heißt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2018)

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