Der schönste Frühling meines Lebens

(c) Privater Nachlass Ingeborg Bachmann
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„Deckung, meine Damen, Deckung, meine Damen!“ Aus dem bisher unveröffentlichten „Kriegstagebuch“.

[Herbst 1944, Klagenfurt]
Mein geliebtes Tagebuch, jetzt bin ich gerettet. Ich muss nicht nach Polen und nicht zur Panzerfaustausbildung. Papa war da und ist von Vellach nach Klagenfurt gefahren; er ist zu Dr. Hasler gegangen, der ihm geraten hat, mich sofort an der Lehrerbildungsanstalt anzumelden, denn man braucht so viele Lehrer. Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass mich die verhasste Lehrerbildungsanstalt einmal retten würde. Ich bin sofort in den letzten Jahrgang eingeschrieben und aufgenommen worden, zu einem„Schnellsiederkurs“ eigentlich, und manmuss schon unterrichten, während mannoch selbst in die Schule geht. Schlimm war es nur bei der Referentin für die Ausgleichsstudentinnen. Zweimal war ich dort, das erstemal war sie nicht da, ich konnte mich kaum mehr an sie erinnern, an ihr Gesicht, nur noch an die schreckliche Anmeldung, bei der sie mir sagte, ich müsse mich „gut führen“, [sonst] wäre ich trotz dem guten Zeugnis erledigt. Und an „Mädel“ mit dreifachem ä. Diesmal hat sie mir wieder ins Gewissen reden wollen, aber ich bin ihr zuvorgekommen, weil ich von H. schon gewusst habe, wie man es machen muss, und habe gesagt, ich sei jetzt sicher, dass ich mich für ein Studium nicht eigne und daher Lehrerin werden wolle,auch weil es kriegswichtiger sei, für die Kinder,habe ich dazugesagt,und dagegen konnte sienichts sagen. Nur habeich gewusst, dass manein Formular unterschreiben muss mit eidesstattlicher Erklärung, dass man auf das Studium verzichtet. Ich habe einen Augenblick gezögert und dann unterschrieben. Nein, ich bin sicher, in diesem Land werde ich nicht mehr studieren, in diesem Krieg nicht mehr. So ein Irrsinn, auch nur einen Augenblick zu zögern! Heute war die erste Schulstunde. Ich war fast froh, wieder in die Schule gehen zu können. Aber kann man das Schule nennen. Ich glaube, die Mädeln in der Klasse sind alle Fanatikerinnen. Nach der ersten Stunde war schon Vollalarm, und aus wars. Aber Wilma von unserer Klasse ist auch da. Sie hat das gleiche gemacht wieich. Sie ist nicht mitgekommen, sondernnach Annabichl mit dem Rad, nachhause,und ich liege hier am Waldrand, an unserem Platzerl. Issi hat wieder den Mehlpapp aus der Apotheke mitgebracht, und wir holen zum Anrühren Wasser vom Bach. Sonnenschein. Sie schläft und sonnt sich, der Alarm dauert schon fünf Stunden. Noch keine Bomben. Einmal waren zwei Tiefflieger da und haben ein bisserl geschossen.


[Frühjahr 1945, Klagenfurt]
Die Russen sind in Wien und wahrscheinlich auch schon irgendwo in der Steiermark. Ich habe mit Issi über alles gesprochen. Es ist nicht so einfach. Sie weiss nicht, ob sie etwas aus dem Giftschrank nehmen kann. Vor den Russen fürchten wir uns beide. Ich will ja nicht alles glauben, was geredet wird, aber niemand kann ja voraussehen, was sie mit uns machen werden, ob sie uns hierlassen oder nach Sibirien bringen. Rechnen darf man nur mehr mit dem Schlimmsten.


Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe... Ich gehe nicht mehr in den Bunker hinauf. Tschörners sind tot, und Ali ist am Tag drauf eingegangen. Unser Ali. In der Strasse ist jetzt niemand mehr. Die Tage sind so sonnig. Ich habe einen Sessel in den Garten gestellt und lese. Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die Bomben kommen. DasStundenbuch ist schonganz zerdrückt und verschmiert. Es ist meinganzer Trost. Und Baudelaire! Bientot noustomberons dans les froides tenebres, adieu vive clarte ich brauche nicht mehr ins Buch zu sehen. Gestern ist das grösste Geschwader gekommen, das je da war. Das erste ist weiter geflogen, das zweite hat abgeworfen. Das Dröhnen war so gewaltig, dass mir der Atem stehen geblieben ist, und dann bin ich doch in den Keller gegangen, was ja lächerlich ist in unserem Häuserl, weil es nichteinmal eine kleine Bombe aushalten würde, geschweige denn eine 100 kg Bombe. In der Innenstadt soll es furchtbar aussehen, und auch hier schaut es aus wie Weltuntergang. Aber ich habe keine Angst mehr, nur wenn die Bomben fallen ein körperliches Gefühl, etwas verkrampft sich in mir. Aber in meinem Kopf habe ich mein Testament gemacht. Vielleicht ist es sündhaft, einfach sitzen zu bleiben und in die Sonne zu schauen. Aber ich kann nicht mehr in den Bunker gehen, stundenlang wenn das Wasser an den Felswänden herunterrinnt und die Luft so schlecht wird, dass man halb ohnmächtig wird. Es ist zwar Sprechverbot wegen der Luft, aber diese stumpfen, stummen Massen sind auch unerträglich. Der Gedanke, dort womöglich mit allen wie in einer Viehherde zugrundezugehen, ist mir schauerlich. Wenigstens im Garten. Wenigstens in der Sonne.


Anderluh [Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Klagenfurt von 1938 bis 1945] hatheute früh gesagt, wir dürfen nicht mehrfort bei Vollalarm. Er ist wie ein Wahnsinniger. In der Früh hat er bei Wilma ihr Silberketterl mit dem Kreuz gesehen und sie fast die Stiege hinuntergeworfen vor Wut. Morgen müssen alle um 7h früh auf die Felder vor Annabichl hinaus und Gräben ausheben „Klagenfurt muss verteidigt werden bis zum letzten Mann und zur letzten Frau“, hat er gebrüllt. Ich habe gleich mit Wilma beraten. Sie darf nicht hin, sie muss ja zu ihren Geschwistern. Sie sind ausgebombt und ihre Mutter liegt irgendwo und ist sterbenskrank. Ich werde allein hingehen und die Situation auskundschaften und zur Not eine Ausrede für sie erfinden. Issi aber, die gute, liebe Issi hat mich getröstet, wir sind zum Waldrand wieder, und am Ende haben wir sogar gelacht. Der „Herr in Deckung“ war wieder da und ist zwanzig Meter von uns herumgekrochen wie ein aufgescheuchtes Wiesel. Wie die Tiefflieger auf die Züge geschossen haben, hat er immer den Kopf aus den Stauden gesteckt und hysterisch gerufen: Deckung, meine Damen, Deckung, meine Damen! – und Issi, die immer halb erstickt, wenn sie einmal im Lachen drin ist, hat am Ende schon geschluchzt und gesagt „Ist der aber gut erzogen!“ Dann hat sie mir die neuesten Witze erzählt, die sie aus der Apothekehat, und wir haben kalte Erdäpfel gegessen. Morgen heissts geschickt sein.


Alle Kinder waren da zum Schaufeln, aber keine einzige Lehrperson, auch Anderluh natürlich nicht. Die Klassenführerinnen waren natürlich verantwortlich, und ausserdem ist dieser ganzen Schafherde wohl nicht zum Bewusstsein gekommen, was diese vorbildlichen Herren Lehrer sich anmassen. Ich habe vor Wut mit meiner Schaufel etwas herumgestochert in dem harten Boden, mir war überhaupt nicht schlecht, aber ich muss ganz weiss gewesen sein, weil die neben mir nach einer halben Stunde gesagt [hat] „Ist dir schlecht“. Ich habe etwas Undeutliches gemurmelt und immer nur gedacht, dass das zum Himmel schreit, was man mit uns treibt. Die Erwachsenen, die Herren „Erzieher“, die uns umbringen lassen wollen. Wie der Vollalarm gekommen ist, sind ein paar von den Kleineren unruhig geworden, weit und breit kein Haus und kein Keller, und die Fabriken in der Nähe! In der Nähe war eine Holzhütte und eine zerbombte Gärtnerei. Dort war mein Rad, und ich hab gesagt, dass ich mich einen Augenblick niedersetzen muss. Zu meinem Unglück sind aber knapp vorher ein paar ältere Führer von der Hitlerjugend gekommen, die die Gräben kontrolliert haben und „Weitermachen“ geschrien haben. Trotzdem bin ich weg, hab mich an die Hüttenwand gelehnt, und weil niemand mich gut hat sehen können, bin ich aufs Rad gesprungen und davongefahren. In der Pischeldorferstrasse sind schon die Bomben gefallen, ich habe mich in einen alten Trichter in die Wiese gelegt und nach einer halben Stunde weiter, zu Wilma.


Wilma ist wohl beruhigt. Wir gehen beide nicht mehr in die Schule. Kennen tun uns sowieso noch nicht alle Lehrer. Der Anderluh kennt mich wahrscheinlich überhaupt nicht und Hasler wird bestimmt nichts sagen. Wilma hat Angst, dass wir wegen Desertion erschossen werden könnten. Aber in diesem Wirbel jetzt halt ichs für ausgeschlossen, dass sich jemand um uns kümmert. Im Keller habe ich die wichtigsten Sachen zusammengesucht. Die will ich ins Gailtal mitnehmen, wenn es soweit ist. Aber vorläufig bleibe ich noch. In einer Kiste hab ich die Liselotte gefunden. Ich habe ihr das rosa Rüschenkleid angezogen und sie liegt jetzt mit mir im Bett. Sie kann nicht mehr „Mama“ sagen, und ich auch nicht. Ach, Mutti, Mutti!Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden.


[Frühsommer 1945, Vellach, Gailtal]
Alle die im 10 km Gürtel wohnen, brauchen einen Ausweis. Vellach fällt noch in die Grenzzone. Wenn man einen Ausweis haben will oder eine Arbeit sucht, muss man zur FSS gehen. Ich weiss nicht, was das heisst, manche sagen Secret Service, aber das ist natürlich Unsinn. Ich war heute dort und bin rasch dran gekommen. Es waren zwei Engländer im Büro, einer, der sehr wild aussieht, mit einem Bart, er soll aus Südafrika sein; der andere ist klein und eher hässlich, Augengläser, spricht fliessend deutsch mit ei- nem Wiener Akzent. Der Südafrikaner sprichtschlechter, nur gebrochen. Der Kleine liess mich die Formulare ausfüllen, dann sah er sie an und sagte: „So, Sie sind eine Maturantin“. Ich denke, er war erstaunt, weil ja alle andern Mädeln Bauernmädeln sind. Dann sagte er: „Natürlich BdM“. Mir war plötzlich ganz übel und ich habe überhaupt kein Wort herausgebracht und nur genickt. Ich hätte ihm ja sagen können, dass ich wahrscheinlich garnicht mehr auf einer Liste stehe, weil ich mit 14 nicht übernommen worden und auch nicht vereidigt worden bin und dass ich dann nie mehr geholt worden bin oder hingegangen bin. Aber ich weiss nicht, was mit mir los war. Ich habe mir auch gedacht, dass ihm wahrscheinlich alle Leute erzählen, dass sie nie dabeigewesen sind und nur gezwungen worden sind, und ich habe auch sofort gedacht, dass er mir kein Wort glauben würde. Zum Schluss sagte er noch „Denken Sie noch einmal scharf nach, ob Sie nicht Führerin gewesen sind. Wir erfahren es ja doch, wenn Sie es gewesen sind.“ Ich brachte noch heraus: „Nein.“ Aber ich glaube, ich bin ganz rot geworden und vor Verzweiflung noch röter. Es ist ganz unverständlich, warum man auch rot wird und zittert, wenn man die Wahrheit sagt.


Gestern war ich nachfragen wegen meinem Ausweis. Es war nur der Südafrikaner da,und ich muss wiederkommen; es wird noch ein paar Tage dauern,bis ich den Ausweis bekomme. Unter der Bezirkshauptmannschaft beim Gemüsegeschäft ist plötzlich der anderevon einem Rad gestiegen. Er hat sich noch an meinen Namen erinnert,und er war ganz verändert, nicht mehr spöttisch, sondern eher verlegen. Er heisst Jack Hamesh. Ich war auch ganz verlegen. Er hatmich gefragt, wo ich wohne in Vellach und hat mich bis zur Brücke begleitet. Ich weiss nicht, warum er mit mir reden hat wollen. Er hat mich gefragt, ob Onkel Christl mit mir verwandt ist, und ich habe natürlich ja gesagt und dazu, dass fast alle mit uns verwandtsind, die B. heißen. Warum gerade Onkel Christl in ein Lager gekommen ist, während die G. und M. von allen die wildesten Nazis waren, weiß ich nicht; alle meinen, es stecken G. dahinter, die immer die Konkurrenz im Ort waren, und es zeigt jetzt überhaupt ei- ner den andern an und besonders die Nazis untereinander, weil jeder denkt, er kann sich damit aus der Affäre ziehen. – Ich habe natürlich kein Wort von dem gesagt, was ich mir gedacht habe, er hätte es sicher nicht verstanden, und ich kenne ihn ja kaum. Ich weiss auch nicht, was er von mir will.


11. Juni Liesl hat sich in einen Engländer verliebt, er ist riesig dürr und lang und heisst Bob. Sie sagt, er ist sehr reich und in Oxford erzogen worden. Sie redet von nichts andrem mehr als von ihm. Gestern hat sie gesagt, sie hätte nur einen Wunsch, fortzukommen von hier und nach England. Sie hofft glaube ich, dass er sie heiraten wird. Aber Heirat zwischen den Engländern und Österreicherinnen ist verboten von der Militärregierung. Sie sagt, die Misere hier wird nie mehr ein Ende nehmen, sie kann nicht mehr und sie will endlich leben. Ich versteh sie gut, aber dann ärgere ich mich über sie, weil sie glaubt, ich müsste auch einen Engländer heiraten und fort von hier. Natürlich will ich fort, aber damit ich studieren kann, und ich will überhaupt nicht heiraten, auch keinen Engländer wegen ein paar Konserven und Seidenstrümpfen. Die meisten Engländer, die hier sind, sind sehr nett und auch anständig, glaube ich. Aber ich bin doch viel zu jung. Bob ist ganz unnahbar, wir haben einmal zwei Worte miteinander gesprochen, aber nie mehr, auch damals kaum, wie ich mich bedankt habe dafür, dass er Liesl den Wagen gegeben hat, damit sie Mutti aus dem Krankenhaus holen kann.


14. Juni Ich bin noch ganz durcheinander. Jack Hamesh war hier, diesmal ist er mit ei- nem Jeep gekommen. Alle im Dorf haben natürlich geschaut, und die S. ist zweimal über den Bach gekommen, um in den Garten hereinzuschauen. Ich habe ihn in den Garten geführt, weil oben ja Mutti im Bett liegt. Wir sind auf der Bank gesessen und ich habe so furchtbar gezittert wieder im Anfang, dass er denken hat müssen, ich bin verrückt oder ich habe ein schlechtes Gewissen oder weiss Gott was. Und ich weiss überhaupt nicht warum. Ich weiss auch nicht mehr, was wir im Anfang geredet haben, aber dann auf einmal von Büchern, von Thomas [Mann] und Stefan Zweig und Schnitzler und Hofmannsthal. Ich war so glücklich, er kennt alles und er hat mir gesagt, er hätte nie gedacht, dass er ein jun-
ges Mädel finden würde in Österreich, das trotz der Nazierziehung das gelesen hat. Und
auf einmal war alles ganz anders, und ich
habe ihm alles erzählt von den Büchern. Er
hat mir erzählt, dass er mit einem Kindertransport nach England gebracht worden ist im Jahr 38 mit andren jüdischen Kindern, er war eigentlich schon 18 Jahre alt damals, aber ein Onkel hat es fertig gebracht, seine Eltern waren schon tot. Jetzt weiss ich auch, warum er so gut deutschspricht, er ist dann indie englische Armee gekommen und jetzt, inden Besatzungszonen, arbeiten viele ehemalige Deutsche und Österreicher in den FSS Büros. Wir haben bis zum Abend geredet, und er hat mir die Hand geküsst, bevor er gegangen ist. Noch nie hat mir jemand die Hand geküsst. Ich bin so verdreht und glücklich, und wie er fort war, bin ich auf den Wallischbaum gestiegen, es war schon dunkel, und ich hab geheult und mir gedacht, ich möchte mir nie mehr die Hand waschen.


Jack kommt jetzt jeden Tag, und ich habe noch nie im Leben soviel geredet. Er bringt mir jetzt immer Bücher. Gedichte hat er nichtbesonders gern. Am meisten reden wir über Weltanschauung und Geschichte. Er erklärt sehr gut, und ich geniere mich überhaupt nicht mehr vor ihm, ich frage ihn auch immer, wenn ich von etwas noch nichts gehört habe. Jetzt sind wir mitten in Sozialismus und Kommunismus (und wenn Mutti natürlich Kommunismus hören würde, tät sie ohnmächtig werden!), aber man muss natürlich alles genau kennen und studieren. Ich lesedas „Kapital“ von Marx. Jack habe ich gesagt, dass ich Philosophie studieren möchte. Nur von den Gedichten habe ich nichts gesagt.


Liesl hat sich meine Schuhe ausgeborgt, wegen Bob. Für hier und da borge ich sie ihr ja gern, aber jetzt hat sie sie immer an, und ich muss mit den alten Schlapfen herumgehen, auch wenn Jack kommt. Jack findet sie sehr gescheit und sie kommt auch manchmal herüber, wenn sie Zeit hat, dann wird es meist lustig. Vernünftiges kann man mit ihr jetzt überhaupt nicht reden, sie schwebt in höheren Regionen. Ich fange zu zweifeln an, ob sie eine gute Ärztin werden wird, denn Tanzen und Gesellschaft und Flirten ist ihr viel wichtiger. Sie ist ganz verändert.


So ist das also. Alle reden über mich, und natürlich auch die ganze Verwandtschaft. „Sie geht mit dem Juden“. Und die Mutti ist natürlich ganz nervös wegen dem Tratsch, und sie kanns ja gar nicht verstehen, was für mich alles bedeutet! Weil sie nur so herumredet, habe ich heute beim Kochen selber angefangen und ihr gesagt, dass nie etwas zwischen uns geredet wird, was nicht ein Dritter hören könnte und das weiss sie ja selbst und spürt sie selbst am besten. Sie kennt mich doch! Aber es ist ja nicht deswegen, sondern wegen „mit dem Juden“. Und ich habe zu ihr gesagt, ich werde mit ihm zehnmal auf und ab durch Vellach unddurch Hermagor gehen, und wenn alles Kopf steht, jetzt erst recht.


Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben. Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden! Die Leute sind alle so entsetzlichdumm; haben sie denn erwartet, dass nach einer solchen Katastrophe das Schlaraffenland von einem Tag zum andern ausbricht! Mein Gott, wer hätte vor ein paar Monaten denn überhaupt gedacht, dass man es auch nur überleben wird! Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben, auch ohne Schuhe, ohne Butterbrot, ohne Strümpfe, ohne, ach was, es ist eine herrliche Zeit! ■

INGEBORG BACHMANN: Person, Werk, Kriegstagebuch

Geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt als ältestes von drei Kindern einer protestantischen Familie. Vater: Lehrer, Hauptschuldirektor.

„Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann“, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Höller, erscheint am 19. April im Suhrkamp Verlag, Berlin.

Bachmanns Tagebuchaufzeichnungen 1944/45 sind als Schreibmaschinentyposkript im Privatnachlass der Geschwister überliefert.Die Begegnung mit dem britischen Besatzungssoldaten JackHamesh führte, als dieser im Sommer 1946 nach Tel Aviv übersiedelte, zu einem Briefwechsel: Der Suhrkamp-Band enthält elf Briefe von Hamesh; Bachmanns Briefe an ihn sind, wie er selbst, verschollen.

Was weiter geschah. Bachmann studiert ab Herbst 1945 Philosophie in Innsbruck, Graz, Wien; 1951 Promotion. Schriftstellerin und Übersetzerin. Gedichtbände: „Die gestundete Zeit“, „Anrufung des Großen Bären“; Prosa: „Das dreißigste Jahr“, „Malina“, „Todesarten“-Projekt. Büchner-Preis etc. Stirbt am 17. Oktober 1973 in Rom an den Folgen eines Brandunfalls.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2010)

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