Shopska, Ayran, Rasznici

Von dreisprachigen Ortsschildern, bewachten Klöstern und rechtsfreien Räumen. Und über die Aufbruchsstimmung und die Hoffnungen der Menschen auf die Europäische Union. Eine Reise in den Kosovo.

In welcher europäischen Stadt sind Verkehrsschilder oder Tafeln, die das Müllabladen verbieten, dreisprachig angeschrieben? Mir fällt keine ein. Im südlichen Österreich gelingt es nicht einmal überall zweisprachige Ortstafeln aufzustellen. Aber im südkosovarischen Prizren, im Grenzgebiet zu Albanien und Mazedonien, komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Da steht es weiß auf blau in Albanisch, Serbisch und Türkisch: „Mos Hudh Mbeturina“ – „Ne Bacaj Smece“ – „Copleri Atmayiniz“, also die Aufforderung: „Wirf keinen Müll weg!“

Auch Richtungsanzeiger mit Stadtnamen in allen diesen drei in Prizren gesprochenen Sprachen sind überall zu finden. Die Aufschriften „Shkup/Skopje/Üsküp“ weisen den Weg in die mazedonische Hauptstadt. Sogar die Fußgängerzone wird in der historisch bedeutsamen Stadt im Süden des jüngsten Staates Europas in drei Sprachen ausgeschildert. Meine Begleiterin, Verena Knaus von der European Stability Initiative, macht mich in einem Leder- und Souvenirgeschäft an der Flusspromenade darauf aufmerksam, dass der Kunde und die Verkäuferin zuerst türkisch und dann albanisch miteinander sprechen! Apropos Leder: Prizren war in seiner wechselhaften Geschichte unter den Osmanen im 18. und 19. Jahrhundert eine blühende Handelsstadt; vor allem die Gerber machten gute Geschäfte – schließlich brauchte das hier stationierte Militär Sättel.

Es ist 1. Mai, Feiertag, die Straßen sind voller Menschen in Festtagskleidung. Die Speisekarten der Lokale bieten die Vielfalt der regionalen Küche an: albanisch-kosovarischen Shopska-Salat (Paradeiser, Gurken mit geriebenem Käse), serbisch-kosovarische Pleskavica und Raznici – alles Speisen, die Leute meines Alters in ihrer Kindheit und Jugend bei Jugoslawien-Urlauben gerne gegessen haben; aber auch Ayran, das türkische Joghurt-Getränk, gibt es.

Wir lassen uns heimisches Peja-Bier schmecken, das in der gleichnamigen Grenzstadt zu Montenegro gebraut wird – gleich in der Nähe des berühmten serbischen Patriarchenklosters. Mit seinen Kunstschätzen, Gräbern und Schreinen gilt das Patriarchenkloster in Pec (serbisch für Peja) als heiligster Ort der serbisch-orthodoxen Kirche. Wegen der politisch heiklen Situation im Kosovo und der schwierigen Sicherheitslage hat die Unesco das Kloster auf der Roten Liste als gefährdetes Weltkulturerbe eingetragen.

Nach dem ausgezeichneten Mittagessen mit türkischem Kaffee und Baklava als krönendem Abschluss machen wir einen Rundgang zu den heiligen Stätten der drei Religionen, die diese Stadt geprägt haben: In Prizren befindet sich die katholische „Helfende-Frau-Kathedrale“, genauso wie die Moschee mit dem höchsten Minarett des Balkans, die Sinan Pasha Moschee. Daneben gibt es aber auch die serbisch-orthodoxe Muttergotteskirche Ljeviska, die einzige erhaltene mittelalterliche serbische Stadtkathedrale, und die ebenfalls orthodoxe St.-Georgs-Kathedrale.

Gewalttaten nach einem Gerücht

Dieses multireligiöse Ensemble ist ein schönes Symbol für die jahrhundertelange, zwar immer wieder kriegerische – aber wo in Europa war sie das vor der Schaffung der Europäischen Union nicht? –, jedoch über weite Strecken auch friedliche und multiethnische Geschichte des Kosovo.

In Prizren ist es an diesem 1. Mai schwer vorstellbar, dass vor sechs Jahren genau hier Schüsse gefallen und serbische Kirchen, darunter die St. Georgs- und die Ljeviska-Kathedrale, vom albanischen Mob in Brand gesetzt und schwer zerstört wurden. Die damaligen Unruhen hatte ein (unwahres) Gerücht ausgelöst: Am 17. März 2004 sollen albanische Kinder von Serben in den Ibar-Fluss in Mitrovica getrieben worden sein. Nach zweitägigen Unruhen im ganzen Land gab es nicht nur 19 Tote, Hunderte Verletzte und rund 4000 vertriebene kosovarische Serbinnen und Serben wie auch Angehörige der Roma-Minderheit. Der gesamte mühsam begonnene Versöhnungs-, oder nennen wir esbesser Wieder-nebeneinander-leben-Prozess, ist damit ins Stocken geraten. Die leer stehenden Häuser serbischer Familien am Hang oberhalb der Stadt zeugen davon.

Die Unruhen des Jahres 2004 hatten sowohl die kosovarische Polizei (mittlerweile als eine der besten auf dem Balkan bekannt) als auch die KFOR-Truppen unvorbereitet getroffen. Eine der Konsequenzen daraus ist, dass seit damals (auch österreichische) KFOR-Soldatinnen und Soldaten gemeinsam mit der kosovarischen Polizei den Konflikt-minimierenden Umgang mit der Bevölkerung üben. Seit 2004 hat es keinen ähnlichen Vorfall mehr gegeben. Gewaltsame Zusammenstöße zwischen demonstrierenden albanischen und serbischen Kosovaren – in der geteilten Stadt Mitrovica am 30. Mai – wurden von der kosovarischen Polizei.

Im kleinen Ort Zociste in der Nähe des KFOR-Camps Casablanca südlich von Suha Reke/Suva Reka, wird das dortige serbisch-orthodoxe Kloster mit seinen drei bis fünf Popen von knapp 30 KFOR-Soldatinnen und Soldaten österreichischer wie Schweizer Provenienz Tag und Nacht bewacht. 1999, im Kosovo-Krieg, wurde es fast völlig zerstört, mittlerweile ist es, mit Spenden aus Serbien finanziert, wieder aufgebaut. Die für serbische Rückkehrer-Familien neu gebauten Häuser im Dorf unterhalb des Klosters stehen aber seit den blutigen Unruhen 2004 genauso wie in Prizren leer. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen serbische Rückkehrer in einem Dorf wie Zociste konfrontiert sind, haben natürlich auch Schuld daran.

Die friedliche Idylle des Klosters, dessen umgebender Grund und Boden gerade von Freiwilligen aus Serbien von Unkraut und Abfall gereinigt wird, steht in scharfem Kontrast zu Gerüchten um dieses wie andere serbisch-orthodoxe Klöster. Die Popen sollen demnach selbst Waffen gelagert und serbischen Soldaten die Verstecke von albanischenFamilien verraten haben. Dass am Kloster in Zociste bis vor Kurzem die Fahne des serbischen Staates wehte, und nicht die der serbischen Orthodoxie, wie mir ein österreichischer KFOR-Soldat berichtete, zeigt auch, aufwessen Seite die orthodoxen Popen stehen. Mittlerweile ist es den Militärs aber gelungen,die Popen zu überzeugen, doch die Fahne ihrer Religion und nicht die des Staates, dem sie sich zugehörig fühlen, zu hissen.

Wir fahren über den gut 1500 Meter hohen Prevalac-Pass. Am Weg hinunter Richtung Strpce/Shterpce ist kaum ein freier Platz am Straßenrand und in den Wiesen zu finden: Familienpicknick ist auf der ganzen Route angesagt. In Strpce/Shterpce angekommen, warten schon der Bürgermeister, seine Stellvertreterin, der Gemeinderatsvorsitzende sowie ein NGO-Vertreter auf uns. Seit der Gemeinderatswahl im vergangenen November ist Bratislav Nikolic neu gewählter serbischer Bürgermeister in dieser seit der Unabhängigkeit des Kosovo neu geschaffenen, mehrheitlich serbisch bewohnten Gemeinde im Süden des Kosovo. Er hatte es satt, erzählt er, dass Belgrad nur groß redet, wenn die TV-Kameras eingeschaltet sind, aber die serbische Bevölkerung im Süden des Kosovo nicht unterstützt. Deshalb sei er bei den letzten Wahlen mit einem neuen Team angetreten und von 70 Prozent der Bevölkerung gewählt worden.

Jetzt wolle er den Ort endlich wirtschaftlich vorwärtsbringen, vor allem mit der Entwicklung des Skiortes Brezovica. Das Treffen mit mir ist ihm auch deshalb wichtig, weil er den Eindruck habe, dass sich die EU auf den politisch schwierigen Norden konzentriere und die Unterstützung der serbischen Gemeinden im Süden, die nach den Wahlen im November gute Entwicklungschancen hätten, links liegen lasse. „Wenn wir hier Erfolg haben, werden auch seine serbischen Landsleute in Mitrovica Nord erkennen können, dass unsere Zukunft im Kosovo liegt und nicht in Serbien“, ist er überzeugt.

Völlig anders die Situation in Mitrovica Nord: Hier herrschen Parallelstrukturen, hierist Rechtsstaatlichkeit ein Fremdwort. Das beginnt schon damit, dass die meisten Autos ohne Nummernschilder herumfahren. Keine Behörde, weder die von Belgrad abhängigen Parallelstrukturen noch die der kosovarischen Regierung in Prishtina, versucht ernsthaft, dieses Symbol einer rechtlosen Gesellschaft abzuschaffen. Denn dann müssten sich die Bewohner entscheiden, wo sie leben wollen: im neuen kosovarischen Staat oder in Serbien. – Während meiner Reise durch den Kosovo werde ich auch Zeugin der Euphorie vieler Menschen nach der Aktion, die EULEX, die Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo, in der Nacht vom 28. auf den 29. April 2010 setzt: Die Haus- und Bürodurchsuchungen bei Verkehrsminister Fatmir Limaj, der im Verdacht steht, in der öffentlichen Vergabepolitik seines Ministeriums nicht immer Transparenz und Korruptionsfreiheit gewahrt zu haben, machen Hoffnung, dass EULEX ihr Versprechen, auch gegen die „großen Fische“ vorzugehen, endlich wahr macht.

Nach Interviews für kosovarische Fernsehstationen, in denen ich EULEX für diese Vorgangsweise lobte, haben mich ein Kellnerin einem Restaurant und ein Polizist bei der Passkontrolle am Flughafen angesprochen: Beide gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass nun endlich von ganz oben und EU-Seite etwas getan wird, um gegen Korruption, Bestechung und Intransparenz vorzugehen.

Verlust der Zweisprachigkeit

In diesen Wochen ist der Druck von einigen Seiten massiv, dass EULEX klein beigibt. Wenn das passiert, hätte die EU jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Ich hoffe auf den gesunden Menschenverstand und die lautstarke Unterstützung der kosovarischen Bevölkerung für das Fortführen der Antikorruptionsarbeit, wenn nötig bis in die höchsten Kreise.

In der Blütezeit der albanischen Autonomie in Tito-Jugoslawien in den 1970er- und beginnenden-1980er Jahren war es im Kosovo selbstverständlich, dass die Kinder der serbischen und albanischen Ethnie gemeinsam zur Schule gingen und beide Sprachen lernten. Unter heutigen jungen Menschen im Kosovo gibt es diese Zweisprachigkeit kaum mehr. Der junge serbische Bürgermeister von Strpce hat mich positiv überrascht, als er meinte, er spreche etwas Albanisch. Aber im Gemeinderat würden sie mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern miteinander sprechen und verhandeln.

Mein Bericht im Europaparlament, der Mitte Juli in seiner Endfassung im Plenum in Straßburg zur Abstimmung gelangen soll, enthält eine Formulierung, die das Lernen der Sprache der jeweils anderen Volksgruppe im Kosovo/Kosova (albanischer Name) einfordert. Denn wer nicht erkennt, dass gerade sprachliche Vielfalt ein Reichtum – einer der großen Reichtümer Europas – ist, und diese, statt zu fördern, verhindern will, hat nicht erkannt, was die Welt des 21. Jahrhunderts braucht – im Kosovo und anderswo: gut ausgebildete junge Menschen, die die Möglichkeit haben, durch Reisen, durch Studium und Arbeit im Ausland zu lernen und dann in ihrer Heimat oder anderswo zur Schaffung von gerechteren, sozial ausgewogeneren und ökologisch nachhaltigen Gesellschaften beizutragen. Am besten gleich dreisprachig. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2010)

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