„Go-o-al!“

Die ersten Sportbilder in heimischen Illustrierten sind noch statisch. Bald aber werden die Apparate besser, die Fotografen suchen den Schnappschuss, die dramatische Szene. Ihre größte Herausforderung: Fußball. Frühe Sportchronisten mit der Kamera: eine Nachforschung.

Go-o-o-o-al!“ titelt das „Illustrierte Sportblatt“ in großen Lettern am 29.November 1924. Das Foto dazu stammt von Lothar Rübelt, zeigt nicht die Spieler, nicht den Ball, auch nicht das Spielfeld. Nur jubelnde Rapid-Fans. Das Ergebnis des Matches – Rapid gewinnt 3:0 gegen die Amateure Wien – taucht erst im Kleingedruckten unter dem Bild auf. Denn über die Fußballergebnisse vom Wochenende weiß die ganze Stadt ohnehin bereits Bescheid. Zehntausende von Fans ziehen in diesen Jahren Wochenende für Wochenende ins Stadion. Fußball ist in der Zwischenkriegszeit bei Weitem die beliebteste Sportart. Wenige Jahre später wird man vom österreichischen „Wunderteam“ sprechen.

„Österreichs Wundermannschaft“, heißt es in einem Wiener Blatt Anfang 1932, „nennt man die elf Sportler, die seit dem Kampf gegen Italien im Februar 1931 kein einziges Gefecht verloren haben; sie alle pflegen die sogenannte Wiener Schule des Fußballs, die sich aus der schottischen Schule entwickelt hat.“ Nationalmannschaft und Wiener Clubs jagen zu dieser Zeit von Sieg zu Sieg. Ab Anfang 1931 reißt die Serie der Erfolge monatelang nicht ab. Februar 1931 in Mailand: Italien gegen Österreich – 2:1. April 1931 in Wien: Österreich gegen die Tschechoslowakei – 2:1. Mai 1931 in Wien: Österreich gegen Schottland – 5:0. Juni 1931 in Berlin: Deutschland gegen Österreich – 0:6. Retourkampf in Wien: Österreich gegen Deutschland – 5:0. Oktober 1931 in Budapest: Ungarn gegen Österreich – 2:2. November 1931 in Basel: Schweiz gegen Österreich – 1:8. Jänner 1932 in Paris: Paris gegen Wien – 1:5. Jänner 1932 in Brüssel: Bruxelles Diables gegen Wien – 0:1.

Alle großen Heimspiele finden im 1921 erbauten Stadion auf der Hohen Warte statt und sind ausverkauft. Die größte und modernste Anlage in Kontinentaleuropa fasst bis zu 80.000 Zuseher. Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise – 1933ist ein Viertel der österreichischen Bevölkerung arbeitslos – setzt das „Wunderteam“ zum patriotischen Höhenflug an. Seit 1929 werden die Spiele im Radio übertragen. Am Heldenplatz werden bei großen Länderspielen Lautsprecher aufgebaut. Tausende Neugierige finden sich ein, um den Spielverlauf live zu verfolgen. Fußball fesselt die Massen. Das Publikum ist wie hypnotisiert.

Begleitet wird diese Fußballbegeisterung in den Jahren nach 1918 von einer neuen Art der Sportberichterstattung. Die Spiele im Stadion erhalten in der illustrierten Wochenpresse ein mächtiges bildliches Echo. Die dramatischsten Szenen, die entscheidenden Spielzüge und die Konterfeis der jungen Stars werden von Sportfotografen festgehalten. Woche für Woche erscheinen sie in großer Aufmachung in den Illustrierten. Lothar Rübelt, geboren 1901, ist der bekannteste und erfolgreichste Sportfotograf dieser Jahre. Seine ersten Sportaufnahmen macht er als Jugendlicher. Seit 1918 ist er Mitglied im Wiener Athleticsport-Club (WAC). 1919 entstehen seine ersten Sportaufnahmen. Wenig später liefert er regelmäßig Bilder an die Presse, seit 1921 berichtet er unter anderem für die auflagenstärkste illustrierte Wochenzeitung Österreichs, das „Interessante Blatt“.

Schon früh führt er eine neue, moderne Ästhetik in die Sportfotografie ein. Rübelt sucht nicht den distanzierten Überblick, er fotografiert nicht das Spielfeld aus großer Entfernung. Vielmehr rückt er nahe an die Szenen heran. Oft positioniert er seinen Apparat unmittelbar auf der Torlinie, um die entscheidenden Augenblicke vor dem Tor, die Momente zwischen Sieg und Niederlage, in dramatischen Ausschnitten festzuhalten. Er arbeitet mit einer lichtstarken Kamera und schneller Verschlusszeit. Auf diese Weise kann er auch lebendige, bewegte Szenen in Bruchteilen von Sekunden festhalten.

1929 steigt er auf die kleinformatige Leica um, mit der er dem Spiel noch schneller folgen kann. Der Rollfilm ermöglicht es, 36 Bilder hintereinander zu belichten, ohne umständlich die Platten wechseln zu müssen. Nun entstehen Serien, Geschichten in Bildern. Rübelt fotografiert nicht nur Fußball, sondern auch alle anderen Sportarten, vom Boxkampf über den Ski- und Wasser- und Autosport, Eislauf und Tennis bis hin zur Leichtathletik. Ab Mitte der 1920er-Jahre erweitert er sein Repertoire um gesellschaftliche und politische Themen.

Rübelt ist ein Profi in der Vermarktung der Bilder. Schon früh weiß er, dass Geschwindigkeit im Vertrieb alles ist. Zusammen mit seinem Bruder, Ekkehard Rübelt, der ebenfalls Sportfotograf ist, kauft er 1924 ein Motorrad, um die entwickelten und beschrifteten Abzüge schneller in die Redaktionen liefern zu können. Er weiß, was dort gebraucht wird: Bilder, die aktuell sind und die sich vom Mittelmaß abheben.

Großes Augenmerk legt Rübelt deshalb auf die sorgfältige, Spannung erzeugende Betextung. Sie führt die Betrachter mitten ins Geschehen. In Rübelts Bildern tragen die Protagonisten stets Namen und Vornamen. Der Spielverlauf wird in wenigen Worten umrissen. Auf diese Weise entstehen nicht anonyme Momentaufnahmen, sondern wiedererkennbare Szenen. Rübelt ist nicht nur ein professioneller Fotograf, er versteht es auch meisterhaft, sich selbst als wendiger Bildchronist zu inszenieren. Er steht zwar beruflich hinter der Kamera, aber im gesellschaftlichen Leben der Zwischenkriegszeit bewegt er sich ebenso souverän wie davor.

Lothar Rübelt ist nicht der einzige gute Sportfotograf der Zwischenkriegszeit. Es gibt deren viele. Doch die meisten von ihnen sind in Vergessenheit geraten. Zu ihnen zählen Fred Cesanek, Leo Ernst, Stanislaus Wagner, Albert Hilscher, Viktor Brodt, Richard Werian, Felix Schmal, Adolf Feuerzeug, Hugo Oppolzer, Ernst Kleinberg, Mario Wiberal, Martin Fachet, Ekkehard Rübelt, der 1926 bei einem Motorradunfall ums Leben kam, Heinrich Uttenthaler, allen voran aber Karl Schleich, einer der talentiertesten und interessantesten Fotografen dieser Jahre.

1895 geboren, ist Schleich kaum älter als Rübelt. Als Fotograf ist er diesem ebenbürtig. Ebenso wie dieser sucht er die Nähe zum Geschehen. Er versteht es meisterhaft, mit seiner Kamera dramatische Augenblicke herauszulösen und die Bilder zu spannenden Bildserien zusammenzustellen. Schleich fotografiert ab Mitte der 1920er-Jahre für mehrere illustrierte Blätter. Zwar ist er hauptsächlich im Sport zu Hause, immer wieder aber widmet er sich auch sozialen und Alltagsthemen. Auch hier zielt er nicht aufs Ganze, sondern auf das sprechende Detail.

Beruf: Sportfotograf. In der Zwischenkriegszeit gibt es zahlreiche junge Männer, aber so gut wie keine Frauen, die sich dieser Sparte der Pressefotografie zuwenden. Fast alle sind Allrounder. Sport ist nur eines der Themen, die sie abdecken. Manche von ihnen haben eine klassische Ausbildung als Fotograf hinter sich, andere sind Autodidakten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ohne großes Startkapital beginnen. Kaum einer dieser jungen Presse- und Sportfotografen ist fest angestellt, fast alle arbeiten selbstständig, mit eigenen, bescheidenen Betriebsmitteln: einer Kamera und einer Dunkelkammer, die meist in der eigenen Wohnung eingerichtet wird. Typische Ein-Mann-Betriebe also.

Ihr Einkommen richtet sich nach der Anzahl der Bilder, die sie in der Presse unterbringen können. Daher ist die Konkurrenz untereinander groß. Man versucht, den anderen auszustechen, indem man noch schneller ist, noch sensationellere Bilder liefert. Gelegentlich schließen sich zwei Fotografen zusammen. Oft überdauern diese kleinen Produktions- und Vertriebsallianzen nur wenige Jahre, ihre Mitglieder wechseln immer wieder: Karl Schleich kooperiert eine Zeit lang mit Albert Hilscher, dieser tut sich für einige Jahre mit Leo Ernst zusammen. Letzterer mit Fred Cesanek. Einigen wenigen gelingt es, als Zeitschriftenfotograf eine feste Anstellung zu bekommen, andere arbeiten zeitweise fest für Fotoagenturen. In jedem Fall aber bleiben die Arbeitsverhältnisse prekär. Zu Berühmtheit und stolzen Einkommen bringt es kaum einer der Sportfotografen.

Dennoch ist der Beruf des Sportfotografen in der Zwischenkriegszeit attraktiv. Er garantiert Abwechslung, Spannung und ein Arbeitsleben ohne Büro- und Fabrikzwang. Der Beruf selbst aber ist hart und aufreibend. Nicht anders als ein Vierteljahrhundert zuvor, in den Jahren um 1900, als das neue Berufsbild entstand. In den 1890er-Jahren tauchen neue Massensportarten auf, Radfahren, Leichtathletik, Wassersport, Skifahren und allen voran Fußball. Sie sind in der breiten Bevölkerung beliebt. Und sie werden bald auch zum Zuschauersport. Die Massen verfolgen die Wettkämpfe von den Rängen aus. Sie verfolgen sie aber auch in der Presse, vor allem in den auflagenstarken Sonntags- und Montagsblättern und in den neu gegründeten Sportzeitungen.

Die Sportwelt teilt sich in diesen Jahren: Auf der einen Seite sind die ursprünglich aristokratisch angehauchten Sportarten, die vorzugsweise auf das Pferd setzen, etwa das Reiten, der Jagdsport, das Traben, Pferdehindernisrennen et cetera. Auf der anderen Seite sind die populären Massensportarten. Diese Trennung schlägt sich auch in der Berichterstattung nieder. Während die 1880 von Victor Silberer gegründete „Allgemeine Sportzeitung“, die erste Sportzeitung der Monarchie, noch jahrelang dem aristokratischen, elitären Sportmodell verhaftet ist, gehen die populären Sportzeitungen wie etwa die 1891 gegründete „Illustrirte Sport-Zeitung“ neue Wege. Sie bevorzugen die populären Sportarten, vor allem den Fußball. Und sie setzen von Anfang an auf fotografische Bilder.

Einer der ersten österreichischen Sportfotografen ist der Wiener Anton Huber. Er bezeichnet sich sowohl als „k. k. Hofphotograph“ und führt zwei klassische Ateliers in Wien. Zusätzlich annonciert er aber auch als „Spezialist in Sportaufnahmen“. Seine ersten Sportfotografien entstehen noch im Atelier. Hier kann er die Lichtverhältnisse optimal kontrollieren und nahe an seine Protagonisten heranrücken. Bald aber geht er ins Freie. Kurz vor der Jahrhundertwende ist er bereits an den Wettkampfstätten im Einsatz. Er fotografiert Radrennen, bald die ersten Auto- und Motorradrennen, aber auch den Pferdesport.

Nach 1900 tauchen weitere Fotografen auf, die sich auf Sportereignisse spezialisieren: Franz Pawlik, Heinrich Schuhmann und Carl Seebald. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg stoßen Josef Perscheid, Josef Jahudka, Felix Schmal, Heinrich Uttenthaler und Victor Brodt dazu. Letzterer ist Redakteur des „Illustrierten Sportblattes“ und interessiert sich als Fotograf vor allem für den Fußball und den Skisport.

Die herausragenden Figuren der Sportfotografie vor 1914 sind Heinrich Schuhmann und Carl Seebald. Wochenende für Wochenende rücken sie aus, um die Wettkämpfe in Bildern einzufangen. Dazwischen lichten sie gesellschaftliche und soziale Ereignisse ab. Ihre ersten Sportaufnahmen sind noch recht statisch, sie zeigen keine schnellen Bewegungen und bewegte Szenen. Bald aber werden ihre Apparate besser, ihr Können ebenso. Sie rücken näher heran, suchen den Schnappschuss, die entscheidende dramatische Szene. Der Fußballsport ist für sie, fototechnisch gesehen, die größte Herausforderung. Der Fotograf ist vom Spielfeld verbannt und muss dennoch die Nähe zu den Spielern suchen. Der Spielverlauf ist nicht vorhersehbar. Binnen Bruchteilen von Sekunden baut sich eine Szene vor ihm auf – und ist schon wieder verpasst. Fast alle guten Sportfotografen vor dem Ersten Weltkrieg schulen sich am Fußballfeld. Der Sport ist populär, die Bilder sind gefragt. Bis zu 30.000 Zuseher fiebern um 1910 bei großen Matches im Stadion mit. Und mindestens ebenso viele Leser verfolgen das sportliche Drama später in der illustrierten Presse.

„G-o-o-o-al! Toooor!“ Der Siegesschrei der Massen bleibt jahrzehntelang der gleiche. Und dennoch: Wie kaum eine andere Sportart ist der Fußball ein Spiegel wechselnder gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Offen oder versteckt geht es auf dem Spielfeld stets auch um Politik und Patriotismus. Vor 1914 fiebern die Massen in den Länderspielen innerhalb der Monarchie für die eigene Nation. Der Bruderkampf Österreichs gegen „die Ungarn“ wird auf dem Fußballfeld ebenso erbittert ausgefochten wie in der Politik oder in der Publizistik. In der Zwischenkriegszeit mischen sich Patriotismus, Parteienkampf und Antisemitismus in die sportlichen Kämpfe. Ein Spiel zwischen Rapid, der Austria oder der Admira und dem jüdischen Sportclub Hakoah ist in den 1920er- und 1930er-Jahren auch ein politisches Derby, in dem es nicht nur um spielerische Erfolge, sondern auch um die Losungen der Tagespolitik geht.

Lange vor 1938 ist der Antisemitismus im Wiener Fußball heimisch, auf Seiten der Zuseher ebenso wie in der Presse. Im Jahr 1938 schließlich wird aus diesem mehrdeutigen politischen Spiel bitterer politischer Ernst. Jüdische Spieler werden verfolgt, schließlich deportiert und ermordet, Hakoah wird als Verein enteignet und zerschlagen. Und die Fotografen? Auch bei ihnen teilen sich die Wege. Jüdische Fotografen erhalten keine Aufträge mehr, viele von ihnen verlassen das Land, andere werden deportiert. Mitläufer, Opportunisten und Parteigänger hingegen machen Karriere. Zu ihnen zählen die Sportfotografen Mario Wiberal, Anton Doliwa und Franz Blaha, die vom Regimewechsel profitieren. Zu ihnen zählt aber auch der Star der Sportfotografie dieser Jahre, Lothar Rübelt. Er hat nach 1933 bereits wiederholt in der gleichgeschalteten deutschen Presse veröffentlicht. Er ist bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 der einzige aus Österreich stammende Fotograf, der für die renommierte „Berliner Illustrirte Zeitung“ arbeitet. 1938 begrüßt er die neuen Machthaber freudig, arrangiert sich schnell mit den neuen Redakteuren und Herausgebern und arbeitet weiter wie immer. Auch das Jahr 1945 bedeutet für ihn keinen Bruch. Denn für ihn scheint Sport einfach Sport – als hätte der mit Politik nichts zu schaffen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2010)

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