Schritte, die die Bretter fressen

Der Medienhype rund um sie ließ nicht mehr erkennen, wem sie ihre Karriere zu verdanken habe: der Berichterstattung über ihre Liebhaber – oder ihrem Können. Wer war Fanny Elßler? Zum 200. Geburtstag.

Man stelle sich folgende Szene vor: Zeit – die 1870er-Jahre; Ort – ein Wiener Salon. Unter den Gästen befindet sich ein in Wien seit Langem tätiger Musikwissenschaftler, Musikästhetiker und Musikkritiker – als solcher schreibt er auch für die „Neue Freie Presse“. An diesem Abend findet er sich in einer neuen Rolle wieder, denn er tritt nicht in seinem Part als gefürchteter Schreiber, sondern als Bewunderer einer Ballerina auf. Und er bewundert nicht nur die Dame, die schon vor 20 Jahren die Bühne verlassen hat, der Herr, der „Über das musikalisch Schöne“ geschrieben hat, setzt sich sogar ans Klavier und spielt Ballettmusik, nach einem Tempo, das ihm die Tänzerin angibt!

Richtig, von Eduard Hanslick ist die Rede. Und die von ihm bewunderte Dame ist Fanny Elßler, jene legendenumwobene Persönlichkeit also, der es als einziger Wiener Tänzerin gelang, Weltgeltung zu erlangen. Die beschriebene Szene fand tatsächlich statt. Hanslick schildert sie wie folgt: „Die berühmte, von ganz Europa vergötterte Tänzerin war damals eine Frau von etwa 60 Jahren, machte aber noch immer den Eindruck des Lieblichen, beinahe Jugendlichen. Sie bat mich ans Klavier, wo sie mir das Tempo der Cachucha angab, viel langsamer, als man es gewöhnlich hört. Es war mein Glück, dass diese einfache Musik nicht zu verfehlen ist, denn ich musste sie, um keine Bewegung der Elßler zu verlieren, mit vom Klavier abgewendeten Kopf spielen. Aber es war ein Anblick, den ich nicht vergesse. Fanny Elßler hatte ihr Kleid ein wenig geschürzt und tanzte oder vielmehr schwebte zwei- bis dreimal den geräumigen Saal auf und nieder mit so graziösem, ausdrucksvollem Beugen und Neigen des Hauptes und des Oberkörpers, mit so runden, welligen Bewegungen der Arme, dass mir zum ersten Mal klar wurde, was ein idealer Tanz sei.“

Die Erzählung Hanslicks erweist sich aus vielerlei Gründen als aufschlussreich: Zum einen offenbart sie sein grundsätzliches Interesse, sogar einige Kenntnis, den Bühnentanz betreffend, zum anderen aber gerät der erfahrene Schreiber selbst in den Sog von Medienmechanismen, die sich in Zusammenhang mit „Monstres sacrées“ – im20.Jahrhundert etwa der Callas oder Rudolf Nurejew – in Gang setzen. Die Aura der Elßler, auf unverwechselbarer Bühnenpräsenz und Virtuosität bauend, erreichte, über ein Vierteljahrhundert hinweg stetig wachsend, auch mit Unterstützung der Presse ein Ausmaß, dem sich weltweit niemand entziehen konnte. Mit dem Fortschreiten ihrer Karriere – sie verließ Wien zu Beginn der 1830er, ging nach Berlin, danach folgten London und Paris, darauf Nordamerika, Havanna und schließlich Russland – rankten die Medien um die Person der Elßler Legenden, die immer fantastischer wurden. Der Medienhype wuchs in solchem Maße, dass schließlich nicht mehr zu erkennen war, wem denn die Elßler ihre Karriere eigentlich zu verdanken habe: der Berichterstattung über ihre Liebhaber oder ihrem tänzerischen Können.

Der Legendenreigen um Fanny Elßler beginnt mit Gerüchten, sowohl Therese (die ältere Schwester, die Fannys Tanzpartnerin war) wie Fanny selbst seien nicht wirklich Töchter von Johann Elßler, dem Kopisten von Joseph Haydn, vielmehr sei „ein Fürst“ der Vater, in diesem Falle Nikolaus II. Fürst Esterházy, der Arbeitgeber Haydns. Die nächste Legende besagt, Fannys Taufpate sei Haydn gewesen, er selbst habe einen Gulden in Fannys Windeln gelegt, eine Behauptung, die insofern sofort widerlegt werden kann, da Haydn bekanntlich im Geburtsjahr von Fanny, 1810, bereits tot war. Das nächste Gerücht, Fanny sei Mitglied des Horscheltschen Kinderballetts gewesen und als solches Opfer des nächsten „Fürsten“ (des Kinderschänders Alois Fürst von Kaunitz-Rietberg), ist zwar widerlegbar, nicht zu übersehen ist allerdings, dass die Elßler-Familie durch Therese in den Fall verwickelt war. Dass die ganze Familie über einen bestimmten Zeitraum hinweg in einer von dem Fürsten angemieteten Wohnung lebte, wirft ein erhellendes Licht auf ein Mädchendasein der Zeit.

Wie kurz ein solches in ebendieser Zeit sein konnte – Fanny gehörte seit ihrem achten Lebensjahr dem Ballettensemble des Kärntnertortheaters an – zeigt das nächste Gerücht um die jüngste Elßler-Tochter, ein Gerücht, das nun voll und ganz der Wahrheit entsprach. Als nämlich der schlaue Pächter des Theaters, der Italiener Domenico Barbaja, das Aufblühen der Schwestern Elßler beobachtete, initiierte er (vielleicht schon im Hinblick auf die Vorlieben der dort agierenden allerhöchsten Herren) für die beiden einen „Forschungsaufenthalt“ in Neapel. Die damals 17-jährige Fanny kehrte nicht nur mit einer später viel beachteten italienischen Balletttechnik nach Wien zurück, sondern auch mit dem Kind des in Neapel wirkenden Bourbonenprinzen Leopold von Salerno. Das Kind war der Karriere Fannys keineswegs hinderlich, denn es wurde nach der Geburt sofort in Pflege gegeben.

Fannys nächste Affäre war deswegen nicht von der Fama umrankt, weil ganz Wien Zeuge der Beziehung der jungen, aufstrebenden Solistin mit Friedrich von Gentz war. Aus dieser Liaison ging Fanny in vielfacher Hinsicht gestärkt hervor, von Gentz hatte sie für eine große Karriere gerüstet. Der hohe Grad ihrer Manieren, ihr Hochdeutsch, ihr Französisch bewährten sich bereits in Berlin, wo sie, laut Rahel Varnhagen, den König mit unnachahmlicher Grazie von der Bühne aus zu grüßen wusste. Nun galt es, das Zentrum des damaligen Musiktheaters, die Pariser Oper, zu erobern.

Die Promotion, die der damalige Direktor des Hauses, Louis Véron, zum Pariser Debüt der Fanny Elßler in Gang setzte, ist bis heute ohnegleichen. Abgesehen davon, dass er – publicityträchtig – die Debütantin zur Gegenspielerin der damaligen ersten Tänzerin, Marie Taglioni, erklärte, erfand er sowohl für Frankreich wie auch für Österreich eine sensationelle Liaison: Fanny wurde ein Affäre mit Napoleons Sohn, dem Herzog von Reichstadt, nachgesagt. Obwohl schnell bewiesen war, dass die Gerüchte jeglicher Grundlage entbehrten, gehört die nicht stattgefunden habende Liebe zu jenen Nachsagungen, die weit in das 20. Jahrhundert hinein in Romanen, Bühnenstücken, Operetten, Filmen und Fanny-Elßler-Balletten immer wieder aufgegriffen wurden.

Die Aura, die die Paris-Debütantin nun umgab, war gewoben, die Erwartungshaltung des Publikums dementsprechend. Und das Außerordentliche geschah: Das Ausmaß der Fantastik der erfundenen Geschichten traf sich mit dem hohen Grad des Charismas der Tänzerin. Und mit einem Male stand tatsächlich der Tanz im Mittelpunkt des Interesses. Folgerichtig sprach man erst wieder von Liebschaften nach Elßlers 1851 erfolgtem Abgang von der Bühne. Ein höchstrangiger (Ehe)Mann wurde in der Person von Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha, dem späteren König von Portugal erfunden, ein wirklicher Partner dieser Zeit, Karl von Holtei, war für die Presse wohl weniger interessant.

War nun die Elßler eine wirklich große Tänzerin? Beginnen wir den Versuch einer Einschätzung mit der Beschreibung ihres Äußeren, einer für eine Tänzerkarriere ganz wesentlichen Mitgift. Elßler ist (für die Zeit) von mittlerer Größe und, besonders wichtig, von „guten Proportionen“, denn nur ein wohlproportionierter Körper war, dem Verständnis der Zeit nach, fähig, die geforderte „Harmonie“ der Bewegungen auch ausführen zu können. Fanny ist ohne Zweifel schön, ist dem ihr eigenen Tänzerfach des „Halbcharakters“ entsprechend von „heiterer Anmut“. Conrad Zelter etwa bestätigt dies, wenn er an Goethe über Fanny Elßlers Berliner Debüt im Herbst 1830 berichtet: Fanny habe „mit bewundernswürdiger Anmut gespielt. Liebreiz, Biegsamkeit, ja Herzlichkeit und Schelmerei spielen durcheinander, von leiser Luft getragen.“

Bereits einen Tag nach dem Berliner Debüt berichtet Rahel Varnhagen aus Berlin an Gentz, Fanny habe ihr „ganz wohl“ gefallen, „ihr Wesen reizend; und von innen her“. Und weiter: „Wie eine große Sängerin ward sie applaudiert; Pas für Pas; nichts blieb unbeachtet.“ Schon zu diesem frühen Zeitpunkt – Fanny ist 20 Jahre alt – hält man eine magische Bühnenpräsenz fest, die durch eine hohe sinnliche Ausstrahlung zusätzlich gesteigert wird. Zu technischer Brillanz – besonders in der Fußarbeit – kommt dramatisches Talent, beides intensiviert sich im Laufe der Karriere. Fanny hat Wien mittlerweile den Rücken gekehrt – sie tritt hier nur mehr als Gast auf – der Weg nach Paris ist offen.

Paris künstlerisch zu erobern war ein schwieriges Unterfangen, galt es doch, mindestens vier Machtblöcke für sich zu gewinnen. Die erste Hürde, der Direktor des Hauses, der „bürgerliche“ Louis Véron, war bereits gewonnen. Die nächste Hürde war die mächtige Lobby der Jockey-Club-Herren, die, finanzkräftig und einflussreich, für das private Unternehmen Opéra von größter Wichtigkeit war. Dazu kamen, von Théophile Gautier angeführt, die fachkundigen und schreibgewaltigen Pariser Feuilletonisten, und schließlich war das von den Claqueuren gelenkte Publikum, das als eigensinnig und störrisch galt. Für die Elßler gab es aber noch eine weitere Hürde: die Macht der Tänzerin Marie Taglioni. Sie galt nicht nur als die zu dieser Zeit führende Ballerina der Opéra, ihr war es auch gelungen, einen neuen Tanzstil zu kreieren. Dieser war insofern herausragend, als die tänzerischen Besonderheiten der Taglioni – der Tanz auf der Spitze – inhaltlich eine Entsprechung gefunden hatten: Die Taglioni vertrat, so hieß es, neue Prinzipien, die romantische Poesie. „In einer Welt, die teils Ossian, teils Macbeth, teils Walter Scott angehörte, schwebte sie, weiß wie der Strahl des Mondes, schweigend wie ein Gespenst, leicht vorüber.“ Wie sollte der Tanz der Elßler neben dem der Taglioni, den man bald als „christlich“ auslegte, bestehen?

Während sich das Publikum schnell in zwei Lager spaltete (zum Taglioni-Lager gehörte auch der erstaunlich fachkundige Franz Grillparzer), fühlten sich die Pariser Feuilletonisten durch Elßlers neuen Tanzstil, der bald als „heidnisch“ bezeichnet wurde, wie angestachelt. Charles Maurice, schreibt in seinem „Courrier des Théâtres“ über das Elßler-Debüt im September 1834, ihr Tanz bestehe „aus kleinen, schnellen, exakten, dichten Schritten, die die Bretter fressen und die ebenso anmutig wie kräftig sind. Sie tanzt mit dem ganzen Körper, von den Spitzen der Haare bis zu den Zehen“, dabei verliere sie nie ihre „weiche Wollust“. Man befand bald, dass man nun eben in Paris – und somit in der Welt – zwei führende Tänzerinnen habe: „Marie Taglioni hatte“, so schrieb man, „eine romantische, nebelhafte, schwebende Weise an die Stelle der geometrisch abgezirkelten Ballettmeisterkunst eingeführt. Sie hatte den Tanz ,entmaterialisiert‘. Fanny Elßer befreite ihn nach einer ganz anderen Richtung. Sie ließ ihn Leidenschaft, Begierde, Wollust mit einer Gewalt ausdrücken, die keine andere Einschränkung kannte als die Gesetze der Schönheit.“

Weiters befand man: Die Tanzweise der Elßler unterscheide sich zwar völlig von der der Taglioni, dieser Kontrast aber lasse erst ein geschlossenes Ganzes, lasse erst den „romantischen Ballettkosmos“ entstehen. Nun werde das farbige reale Leben gegen das nebelhafte Weiße des Irrealen gestellt, es füge sich so zu einem Modell, das, wie das auch heute noch überprüft werden kann, völlig überzeugt.

Liegt das bis heute andauernde Verdienst der Elßler darin, mitgeholfen zu haben, den romantischen Ballettkosmos zu etablieren, so gab es für sie Triumphe, die, so unüberbietbar sie jedes Mal schienen, vom Folgenden noch übertroffen wurden. Einen solchen erzielte ein 1836 von ihr selbst kreiertes Solo, das den Namen des spanischen Tanzes „Cachucha“ trug. Charles de Boigne gibt in seiner Kritik etwas von jenen Delirien wieder, in die dieser Tanz seine Zuschauer – und dies bald in aller Welt – versetzen konnte: „Dieses Biegen, dieses Beugen des Kreuzes, diese herausfordernden Gebärden, diese Arme, die ein fernes Wesen zu suchen und zu umschlingen schienen, dieser Mund, der Küsse anlockte, dieser ganze lebende, zuckende, sich windende Körper, diese hinreißende Musik, diese Kastagnetten, dieses bizarre Kostüm, dieser kurze Rock, dieses ausgeschnittene Leibchen, das sich oben öffnet, und über allem die sinnliche Anmut, die üppige Hingabe! Die plastische Schönheit der Elßler.“

Die witzigste Hymne auf die Cachucha kommt wohl aus Wien, wo sich die Tänzerin von Zeit zu Zeit feiern lässt. Als sie nach einer zweijährigen Amerikatournee wieder in Wien auftritt, berichtet Hans-Jörgel, in den in Dialekt gehaltenen „Komischen Briefen des Hans-Jörgel von Gumpoldskirchen an seinen Schwager Maxel in Feselau“: „Vielgeliebter Herr Schwager! Haben Sö scho an Sperrsitz? A Königreich für an Sperrsitz! – die Fanny danzn sehn und hernach sterbn, des wär scho a bissl was, und dann die Seel glei dem Deifi verschreibn – no, des gang aa no, aber allerweil no z'wenig.“

Dann beschreibt er die Cachucha: „A Meisterstück voll Adel in de Bewegungen und do voll spanischer Liebesgluth, Mit der Sonn und 'n Mond Tschinellen schlagn, die ganze Erd anzündn, alle de verruckten Amerikaner an die Brust druckn und wieder ins Meer einiwerfen, den Großglockner, den großen Venediger und den Kahlenberg, die Tiroler und Schweizer Alpen aufander stelln und ihr Monument draufsetzn – dös wär no alles nix für dös, was ma aus aner unbandigen Achtung für zwa Fiaß darbringen kann!“

Wie jedes wirklich große Theaterereignis wurde die Cachucha in Wien sofort parodiert. Wie witzig und erfolgreich diese von dem berühmten Komiker Wenzel Scholz kreierte Parodie sein konnte, stellte Otto Schenk unter Beweis als er 1985 in einer Elßler-Gala der Wiener Staatsoper die Cachucha nachtanzte.

Wien errichtete Fanny Elßler kein Monument, ließ aber immerhin an ihrem Wohnhaus in der Seilerstätte, wo auch Eduard Hanslick Besucher gewesen sein mag, eine Tafel anbringen. Der Spruch ist ihrer würdig: „Dem Andenken der großen Tänzerin Fanny Elßler 1810–1884. Sie ist das Lächeln ihres Jahrhunderts gewesen, eines der seltenen Meisterwerke, die der Schöpfer viele Menschenalter in seinen Händen wägt, ehe er sie ins Leben entlässt.“

Wie ein Theaterzettel dies bezeugt, war Fanny Elßler selbst weniger pathetisch. Auf der Ankündigung für eine Berliner Benefizvorstellung findet sich die Nachricht: „Ein Kunstliebhaber, der leider nur eine Hand hat, sucht ein Individuum, das eine überflüssige Hand zu Hand hat und ihn im Applaudieren unterstützen will.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2010)

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