Wie man Wild erntet

Der Mensch ist ein großer Fütterer. Er füttert sogar, was per definitionem jenseits menschlicher Fürsorge steht: Wildtiere. Zur höheren Ehre der Jägerei. Ergebnis: Die Grenze zwischen Jagd und Viehzucht ist bereits gefallen. Ein Zustandsbericht.

Zu Beginn unseres Lebens werden wir gefüttert und am Ende oftmals auch. In den Jahren dazwischen füttern wir andere. Denn der Mensch ist ein großer Fütterer. Er füttert sogar, was per definitionem außerhalb menschlicher Fürsorge steht: Wildtiere. Neben den Gefiederten werden nur die Geweihten mit solch besonderer Hingabe versorgt. In Österreich so intensiv wie sonst nirgendwo.


Für Uneingeweihte ist kaum vorstellbar, welche Mengen Futter seit Jahrzehnten in unseren Wäldern ausgelegt werden. Eine Überschlagsrechnung: mehr als 150.000 Stück Rotwild, also geweihtragende Hirsche, Weibchen und Jungtiere, leben in österreichischen Jagdrevieren. Etwa drei Viertel davon verbringen den Winter an einem Futtertrog. Was heißt Winter! Sieben, acht, oft neun Monate ist Fütterzeit, denn die Winterfütterung ist besonders im Frühling wichtig, weshalb die Jäger auch schon im Herbst damit beginnen. 5 kg Futter pro Stück und Tag, gut 200 Tage lang, macht mehr als 100 Millionen kg Mais- und Grassilage, Rüben, Apfeltrester und Heu die alljährlich dem Rotwild vorgelegt werden. Viele Fütterungen werden täglich beschickt, Scheunen werden gebaut, Wege zu den Fütterungen werden freigepflügt, Motorschlitten eingesetzt und gar manche Futterbereiche werden großräumig meterhoch eingezäunt, damit sich das Wild im Frühjahr nicht früher als erlaubt selbstständig macht. Erst wenn die Bauern die erste, oft auch die zweite Mahd eingefahren haben, darf das Wild aus diesen Wintergattern an das frisch wachsende Grün.... An wie vielen Stellen in Österreichs Revieren Rotwild gefüttert wird, weiß niemand so genau, denn nicht in jedem Bundesland müssen die Fütterungen von der Behörde bewilligt werden. In der Steiermark etwa wird Rotwild an 430 Fütterungen, 130 davon Wintergatter, versorgt. Seit Jahrzehnten, alljährlich, bis zu ¾ des Jahres.

Und wozu all dieser personelle und finanzielle Aufwand? Rund 300 € kostet eine anständige Fütterung für jedes erlegte Stück Wild, wenig mehr als 2 €/kg bekommt der Jäger für das Wildbret und das Durchschnittsgewicht des erlegten, aufgebrochen Rotwildes liegt deutlich unter 100kg. So gesehen ist die Fütterung ein eindeutiges Verlustgeschäft. Aber Futterkosten gegen Wildbreterlös aufrechnen ist eine Milchmädchenrechnung. Denn bei der Jagd geht es nicht um Wildbret. Selbst in Jäger- und Sammlergesellschaften ist die Großwildjagd nachweislich eine reichlich ineffiziente Form der Fleischversorgung - allerdings ein effizientes Mittel sich mit Fähigkeiten hervorzutun, die der Gemeinschaft in anderen Lebensbereichen nutzen: Jagd trainiert für den Krieg. (Die uralte Verbindung zwischen Jagd und Krieg besteht auch heute noch, denn der Staat verweigert Zivildienern die Berechtigung eine Jagdwaffe zu führen. Offenbar darf, wer sich weigert auf Menschen zu schießen, auch keine Tiere erlegen). Jägern, die der Gemeinschaft neben Fleisch vor allem Schutz und Sicherheit gaben, wurde Ansehen und Macht verliehen. „Der Erste, der Macht gewann auf Erden" war wohl nicht zufällig der „gewaltige Jäger" Nimrod. Macht aber will demonstriert werden und so war und ist die große Jagd immer auch ein Zurschaustellen der Macht. Im Altertum protzt der heldenhafte Jäger, der im mannhaften Alleingang den gefährlichen Löwen oder Eber bezwingt, im Mittelalter der körperlich ausdauernde, präzise Schütze, und ab dem Hochmittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der verschwenderische Jagdherr, Herrscher über weite Jagdgebiete, der, ausgestattet mit einem Gefolge von Jagdhelfern und modernsten Jagdtechniken, in höfischen Gesellschaftsjagden zusammengetriebenes Wild zu Hunderten abknallt wie feindliche Heere oder rebellische Untertanen. In ihrer Selbstdarstellung verkörpern die großen Jäger dabei die jeweilig vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Werte. Nicht verwunderlich also, dass heute zumindest im Alpenraum der finanziell ausdauernde, kompetente Heger und erfolgreiche Wildmanager das Bild der großen Jagd prägt. Allerdings ist die Jagd in demokratischen Gesellschaften keine öffentliche Machtdemonstration mehr, viele der hohen Jäger wollen gerne unerkannt bleiben. Doch Jagd ist als Atavismus der Macht weiterhin ein verbindendes Element der Mächtigen. Denn jene Jäger, die in den großen, wildreichen Revieren auf den Hochständen sitzen und mit intensiver Fütterung das Rotwild lenken, sitzen in den hohen Etagen der Finanz und der Wirtschaft und lenken das Konsumverhalten der Bevölkerung und die Entscheidungen der Politiker. Nicht zufällig ist einer der mächtigsten Banker Österreichs auch einer der einflussreichsten Jäger, gehört die größte zusammenhängende Jagd Mitteleuropas, das Forstgut Alwa in der Steiermark, den Mitbesitzern des Pharmabetriebes Boehringer Ingelheim.

Jäger in den großen Revieren sind passionierte Heger, die ihre Reiche ganz im Sinn des aufgeklärten Absolutismus führen. „Alles für das Wild, nichts durch das Wild", mit meist hohem finanziellem Engagement: Fütterungskosten von hochgerechnet 15 Mio. € sind ein geringer Posten, Löhne, Gehälter für Berufsjäger, Jagdaufsichtsorgane und Beschäftigte im Jagdwesen belaufen sich immerhin auf an die 200 Mio. €. Bestmögliches Wildtiermanagement scheint weit von der Jagd im ursprünglichen Sinn entfernt. Der Inbegriff des Jägers? Vor unserem geistigen Auge sehen wir einen Buschmann auf der Jagd nach Gazellen, einen Indianer auf Büffeljagd, sie bringen das Wildbret, das die Gemeinschaft sättigt. Unsere heimischen Jäger stellen das Bild auf den Kopf: sie versorgen nicht ihre Mitmenschen, sondern ihre Beute mit Nahrung. Und doch ist intensive Hege, insbesondere die Fütterung, eine folgerichtige Erweiterung der Jagd: neben der kurzen Macht, das Leben von Wildtieren zu beenden, steht nun die langfristige Macht, das Leben dieser Tiere zu lenken.

Versuche, das Wild zu beeinflussen, sind wohl so alt wie die Jagd selbst und beginnen bei schamanischer Magie. Aber schon Langobarden und Alemannen lockten Rotwild mittels zahmer Hirsche und Hirschkühe an, deren Verwendung und Kompensation bei Störung oder Entwendung gesetzlich genau geregelt war. Einfacher zu handhaben ist Salz. Bereits 1157 ließ der Arpadenkönig Geza II. Salzlecken in den königlichen Revieren ausbringen, ein auch heute noch erfolgreiches Lockmittel, das lange außerhalb der kaiserlichen, königlichen oder landesherrlichen Reviere bei Strafe verboten - und wohl auch nicht finanzierbar - war. Fütterung ist das wirksamste und tiefstgreifende Lenkungsinstrument, wenn die natürliche Nahrung knapp ist. Die Winterfütterung galt lange als überlebensnotwendiger Ersatz für die an menschliche Besiedlung verloren gegangenen ursprünglichen Winterstreifgebiete. Das passte gut ins Selbstbild der Jäger: sie kompensieren was die Bevölkerung dem Wild genommen hat. Praktischerweise dort, wo es die Jäger haben wollten: im eigenen Jagdrevier. Freilich überwinterte vor ein-, zweihundert Jahren das Rotwild in anderen Gebieten als heute. Aber auch die Jäger hatten das Wild durch Fütterung von den jahreszeitlichen Wanderungen zurückgehalten und jahraus-jahrein ans eigene Jagdrevier gebunden. Bereits 1704 gibt es etwa am Königssee in Bayern etliche Fütterungen zu eben diesem Zweck. Wild, in der lt. Grimm ursprünglichsten Bedeutung des Adjektivs 'wandernd, umherirrend', war das Rotwild zunehmend weniger. Das Wilde, Unerzogene, wurde ihm im 20. Jahrhundert endgültig weggefüttert. Passenderweise waren es die Nationalsozialisten, die mit dem Reichsjagdgesetz die Hege, die allerdings viel mehr als nur Füttern umfasst, als Pflicht implementierten, lange nachdem sich die Wildbestände von der starken Dezimierung nach 1848 erholt hatten. Die Fütterungspflicht haben wir in unserem ökologischen Überlegenheitskomplex auch heute noch im Jagdgesetz verankert: „Mit dem Jagdrecht ist die Berechtigung und die Verpflichtung verbunden, das Wild zu hegen............. Während der Notzeit ist das Wild in den Wintereinständen zu füttern". Notzeit ist ein dehnbarer Begriff. Auch in früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten hatte man dem Wild in besonders schneereichen Wintern Heu vorgelegt, aber sobald sich die Fütterung durch die gesetzliche Verpflichtung als Norm und Notwendigkeit in den Köpfen festgesetzt hatte, gab's kein Halten mehr. Vor allem nach dem 2.Weltkrieg wurde, verbunden mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, die Rotwild-Fütterung zur Obsession. Nun sollte sie nicht mehr nur das Wild ans Revier binden und sein Überleben sichern, sondern auch Kondition und Geweihmasse maximieren. Ab den 1960er Jahren fütterte jeder nach Gutdünken, was das Bankkonto erlaubte.

Zeitgleich dokumentierte das Institut für Forstinventur in den seit 1961 systematisch erhobenen Stichproben zum Zustand des Waldes waldverwüstende Verbiss- und Schälschäden. Rotwild frisst Baumwipfel, Rotwild nagt und schält Rinde von den Baumstämmen. An den freigelegten Stellen dringen Pilze ein, der Stamm fault und bricht bei Wind- oder Schneedruck. Rotwild hat immer schon Baumrinde genagt, schon an den Trieben der Weltesche aus der nordischen Mythologie fressen Hirsche, mal mehr, mal weniger, spätestens in den 1970er Jahren allerdings eindeutig zuviel. Die Schälschäden erreichten ein für Forstleute alarmierendes Ausmaß, gerade als die Fütterungsmanie auf dem Höhepunkt war und das Wild so gut versorgt wurde wie nie zuvor. Welch ursächliche Rolle die Fütterung für Forstschäden oder deren Vermeidung spielt, ist seither ein Dauerbrenner für Diplomarbeiten und Dissertationen, Artikel und Bücher, Gutachten, Tagungen und Kongresse. Differenziert als Notfütterung, Vollfütterung, Herbstfütterung, Herbstmastsimulation, Winterfütterung, Wintergatter, Frühjahrsfütterung, Lenk- und Ablenkfütterung beschäftigt die Fütterung von Rotwild nun seit Jahrzehnten Jäger, Förster, Veterinäre, Wildbiologen und Ökologen. Die Rezeptur des Was, Wie, Wo und Wie lange wird jährlich verbessert, erweitert und der jeweiligen Gegebenheit angepasst. Winterfütterung ist zu einer hermeneutischen Wissenschaft geworden.
In Frage gestellt wird die Rotwildfütterung in Österreich selten. Sie gilt als unverzichtbare Maßnahme im Rotwild-Management. Unverzichtbar ist sie tatsächlich, da die im wirtschaftlichen Konzept des Revierjagdsystems gesteckten Ziele nur mittels Fütterung erreichbar sind: hohe und vor allem stabile Rotwilddichten, welche kombiniert mit einer stark selektiven Bejagung und damit selektiver Fortpflanzung die Einhaltung jagdlicher Sollwerte ermöglichen. Als überaus wirksames Lenkungsinstrument macht die Fütterung das Wild und damit den Jagderfolg voraussehbar. Minimaler jagdlicher Zeitaufwand für maximalen Trophäenertrag. Jagderfolg ist jetzt nicht mehr Göttergeschenk oder Jagdglück, beruht nicht mehr auf Ausdauer, Kraft und List, sondern ist der Ertrag eines richtigen Hege- und Jagdmanagements: ein wichtiger wirtschaftlicher Aspekt, da nicht das Wildbret sondern die Jagderfolge den Wert eines Reviers ausmachen. Zwar sinkt das Ansehen der Jagd in der Bevölkerung, je leichter der Jagderfolg erzielt wird, doch der Jagdwert steigt.

Grundeigentümer sind als Eigentümer des Wildes an einer nachhaltigen Nutzung interessiert und damit Garanten für die Erhaltung des Wildes. Doch die Tragik der Reviere ist, dass die optimale Nutzung unweigerlich zur Produktion wird. Allmendekühe sind dürr, Revierhirsche sind fett. Die Fütterung eliminiert witterungsbedingte - und damit von der Bestandeshöhe unabhängige - natürliche Wintersterblichkeit, sie stabilisiert die natürlichen Schwankungen in Anzahl und Gewicht des Wildes und macht die Jagd damit zu planbarer Jagdwirtschaft. Die Qualifikation für Jagdwirtschaft und Wildtiermanagement können Jäger seit 2008 in einem zweijährigen Universitätslehrgang „Jagdwirt/in" an der Universität für Bodenkultur erwerben, heuer schließen die ersten „akademischen Jagdwirte" ab. Jagdwirtschaftliche Kompetenzen sind zeitgemäßer als das raffinierte Aufspüren und Erlegen des Wildes. Die Sprache reflektiert diese veränderte Einstellung der Jäger sowie auch der Gesellschaft zur Jagd. Zeitgleich mit der Verlagerung des jagdlichen Schwerpunkts vom einzelnen Beutetier durch den einzelnen Jäger in der Antike auf eine Wild- und Jägergruppe ab dem Mittelalter ging der Bedeutungswandel des Wortes „Wild" einher, das im Althochdeutschen ein Einzelwesen, im Mittelhochdeutschen jedoch bereits das Kollektiv bezeichnet. Auch der Übergang der Jagd von einer aneignenden Nutzung zu einer mittels intensiver Hege produzierenden Wirtschaft zeigt sich in der Sprache: Ende des 20. Jahrhunderts bezeichnet der Jäger den alten Hirsch, einstmals den Inbegriff der Jagdbeute, nur noch als Erntehirsch. Folgerichtig. Wer jahrelang die Entwicklung des vielversprechenden Junghirsches verfolgt und bei der Auslichtung der Population dessen schlechter veranlagte Konkurrenten eliminiert, kann den Hirsch am Höhepunkt seiner Geweihentwicklung ernten. Es ist aber auch das Bedürfnis, der Natur nicht nur etwas zu entnehmen, sondern auch etwas zu geben. Jagen ohne zu füttern gilt in Jägerkreisen fast schon als Raubbau. Die Opfergabe nach erfolgreicher Jagd ist dadurch präventiv zur Investition für eine erfolgreiche Jagd geworden. Die emotionale Grenze zwischen Jagd und Viehzucht ist da bereits gefallen. Damit einhergehend, und mit der zeitgleich vermehrt ablehnenden Einstellung der Gesellschaft zur Jagd an sich, zum Erlegen von Wild, hat sich auch der Gefühlswert des Begriffs „Jagdbeute" verändert. Während man Beute den Raubtieren zugesteht, die dadurch von Räubern zu Beutegreifern aufgewertet werden, hat sich der Beutebegriff für den menschlichen Jäger zunehmend in malam partem verändert, betont nun eine gewaltsame Aneignung, Diebsbeute, Kriegsbeute. Ernten hingegen kann man die Früchte der eigenen Hege. Der geerntete Hirsch ist in einer zunehmend antimilitaristischen Gesellschaft auch innerhalb der Jägerschaft lieber gesehen als der erbeutete. Erbeutet hat schon den Anflug des gewilderten. Denn als zielgerichtete Investition schafft die Fütterung einen Besitzanspruch auf das gefütterte Tier. Grundeigentümer sind Eigentümer des Wildes, Jäger sind es de iure jedoch erst nach dem Erlegen. Während man seine Beute erst besitzt, wenn man sie in Händen hält, ist man doch bereits vor der Ernte Eigentümer dieser Ernte, die man gegen jeden Jagdkonkurrenten verteidigt: „Mei Hirsch is ka Bären-Jausn" und dem Jäger im Nachbarrevier gehört er schon gar nicht. Auch vor Nicht-Jägern schützt der fütternde Heger sein Wild: Futterstellen im Winter sind wie Wasserstellen in der Trockenzeit - dort können Menschen endlich jene frei lebenden Wildtiere sehen, die den Rest des Jahres auf der Hut vor Jägern verborgen leben. Nicht ohne Grund werben ja auch Nationalparke mit Schaufütterungen. Viele der Fütterungen liegen an einer freigeschobenen Forststrasse, für den fütternden Jäger, aber damit für Menschen allgemein gut erreichbar. Doch ist selbst intensiv gefüttertes Rotwild immer noch ein Wildtier, das zwar dem Futtergeber vertraut, nicht aber Menschen generell. Was im Nationalpark kontrolliert abläuft, verursacht anderorts Störungen, Unruhe, Stress- und in der Folge Schäl- und Verbissschäden. Um solche Forstschäden rund um Fütterungen gering zu halten, ermöglicht das Jagdgesetz die Ausweisung kleinräumiger Gebiete als Wild-Ruhezonen mit temporärem Betretungsverbot für jagdfremde Personen. Jäger, die einstmals ihre Mitmenschen und deren Vieh vor wilden Tieren schützten, schützen nun ihr nicht mehr wildes Wild vor den nichtjagenden Mitmenschen.

Nicht Ruhezonen rund um Fütterungen, sondern Ruhezonen statt Fütterungen ist hingegen die Maxime in Graubünden und Liechtenstein. Dort haben nach mehr als drei Jahrzehnten intensiver Fütterung die Jagdverantwortlichen die Fütterungspflicht in ein Fütterungsverbot umgewandelt. Als Folge verteilt sich das Wild weitläufiger und stellt sich winters dort ein, wo es die besten Bedingungen findet. Kleine Gruppen leben in steilen, südseitigen, rasch ausapernden Hängen mit laubholzreichem Wald in tiefen Lagen, andere Rudel überwintern auf weiten, freigewehten Almflächen über der Waldgrenze und ziehen sich nur bei starken Stürmen in den Grenzwald zurück. Rotwild ist in seiner Physiologie und seinem Verhalten an den Winter, an wenig Nahrung, tiefe Temperaturen und Schnee angepasst und kann auch in den Alpen sehr wohl ohne Fütterung überleben. Voraussetzung ist Ruhe. Anhaltende Ruhe. Anpassungen, die den Energiebedarf um die Hälfte reduzieren; eine Absenkung der Pulsrate und eine verringerte Körpertemperatur, auch im Körperinneren, das, was die Forscher einen „verborgenen Winterschlaf" nennen, ist nur bei stark reduzierter Bewegung möglich.
Doch gerade Ruhe ist Mangelware, denn im Lebensraum des Wildes hat die Freizeitgesellschaft ihren Spaß. Wintersportler scheinen überall zu sein. In den letzten 30 Jahren hat sich die Transportkapazität der Aufstiegshilfen im Wintertourismus mehr als verdoppelt, aus unzähligen Schihütten schallt „Alm-Öhi-Techno-Sound" und jeden Winter gelangen zunehmend mehr Schifahrer auch in entlegenste Gebiete - wie die mit jedem Jahr zahlreicheren Lawinenopfer abseits der Pisten belegen. Für Wildtiere sind Menschen, auch harmlose Schifahrer, eine Gefahr. Schischaukeln und Pisten kann das Wild meiden. Doch Tourengeher und Variantenfahrer sind unvorhersehbare Störungen, an die sich das Wild nicht gewöhnen kann. Die meisten dieser Störungen sind unbeabsichtigt und unbemerkt, doch nicht weniger schwerwiegend. Das Wild muss oft flüchten, verbraucht mehr Energie, als es hat und überlebt den Winter nicht. Nicht nur Rotwild, auch andere Wildtiere, besonders Birkhühner und Gämsen, leiden unter dem zunehmenden, unkanalisierten Wintertourismus in den Alpen.
Doch die Fütterung kann weder die soziale Bringschuld der Allgemeinheit in Rücksicht auf Wildtiere noch den Mangel an störungsfreiem, natürlichem Lebensraum wettmachen. Auch die bestmögliche Fütterung kann die natürlichen Bedingungen nicht nachahmen: anders als bei natürlicher Äsung ist das Futter örtlich und zeitlich konzentriert, was dem natürlichen Rhythmus der Nahrungsaufnahme widerspricht und auch bei weitläufiger Ausbringung des Futters das Sozialgefüge belastet: wer einmal ungefüttertes, natürlich überwinterndes Wild viele Stunden und Tage beobachten durfte, fühlt sich bei einer Fütterung aus einem meditativen, beschaulichen Kloster in den Pausenhof einer Mittelschule versetzt. Der Unterschied in der Aktivität und Aggression innerhalb des Rudels ist frappant. Die sog. Wintergatter, in welchen das Wild oft bis in den Juni hinein eingeschlossen ist, verhindern eine nach Geschlechtern getrennte Verteilung des Rudels im Frühjahr und den Zugang zu artgerechter, nämlich frischer Nahrung. Fütterung kann keinen Winterlebensraum ersetzen, liegen Fütterungen doch häufig in schneereichen, kalten Talsohlen, Bereiche, in welchen eine Überwinterung ohne Fütterung nicht möglich wäre. Durch Massierungen und die lange Dauer der Fütterung kommt es zur Übertragung von Krankheiten, wie etwa Tuberkulose oder Brucellose. Fütterung verleitet zu Verbiss und Schäle, erhöht die Bestandeszahl und ist ein extrem störanfälliges System. Mit dieser Argumentation gegen die „landwirtschaftliche Freilaufhaltung" von Rothirschen haben Liechtenstein und Graubünden die Fütterung 2004 wieder abgeschafft.
Mit entsprechenden Folgen für die jagdliche Bewirtschaftung: eine veränderte Wildverteilung und eine zwischen den Jahren schwankende Wilddichte bedingt durch unterschiedlich hohe Fallwildquoten - Folgen, die in einem Lizenzjagdsystem, in welchem Wildtiere öffentliches Eigentum sind, freilich leichter zu akzeptieren sind, da den Grundeigentümer kein wirtschaftlicher Verlust trifft. Unterschiedliche Winter- und Frühjahrsbedingungen führen zu unterschiedlichen Überlebensraten, teilweise auch unabhängig von der jeweiligen Wilddichte. In den meisten Jahren überleben zwischen 10 und 15% des Wildes den Winter nicht, in einem extrem strengen Wintern, wie 2008/09, kann aber auch ein Drittel des Bestandes verhungern. Der Bestand ist deshalb noch lange nicht gefährdet, denn es trifft vor allem alte Hirsche und Kälber, nicht die fortpflanzungsfähigen Weibchen, die solche Verluste ausgleichen. Natürliche Bestandesschwankungen sind ein Aspekt des Lebens von Wildtieren, diese durch Fütterung auszugleichen, ist, was der Jagdinspektor des Kantons Graubünden eine Bauernstrategie nennt. Doch verhungertes Wild schockiert, das sind wir alle nicht mehr gewohnt. In unseren Köpfen sitzt das romantische Bild des guten Försters, der mit einem schweren Ballen Heu auf dem Rücken durch den Schnee stapft und am Waldrand wartende Rehe und Hirsche vor dem Verhungern rettet. So wollen die österreichischen Jäger auch gerne gesehen werden, denn als Fütterndem kommt dem Jäger „die höchste Akzeptanz von Seiten der breiten Öffentlichkeit zu". Denn das Bedürfnis, Wildtiere zu füttern kennen wir alle. Jenseits aller rational begründbaren Macht- und Jagdwirtschaftsaspekte ist Füttern unbestreitbar ein beglückendes Gefühl. Wir genießen es, wenn freilebende, ungezähmte Tiere, die den Menschen üblicherweise fliehen, wortwörtlich auf uns zu, zu uns kommen. Mit Füttern können wir räumlich und damit emotional den Abstand zu Tieren verringern und ein wenig so tun als hätte es die Vertreibung aus dem Paradies nicht gegeben. Ein Jäger, der nicht gegen natürliche Wintersterblichkeit anfüttert, gilt nicht nur Jägern, sondern auch in der Öffentlichkeit als herzloser Geizhals. Doch die Winterfütterung ist keine fallweise tierschützerische Not-Ration unter fallweise extremen Bedingungen, wie sie als Überlebenshilfe auch in Liechtenstein und Graubünden erlaubt ist. Winterfütterung ist die massivste Hegemanipulation für einen optimalen jagdwirtschaftlichen Ertrag. „Heilig waren vordem die Tore, sie stehen bedeutend zwischen der wilden Natur, zwischen dem engen Vertrag." (Friedrich Schiller) Wenn der Beginn von Ackerbau und Viehzucht in der Jungsteinzeit, in der Bibel als Gleichnis beschrieben, der erste Sündenfall war, dann ist der Übergang der Jagd von einer aneignenden Nutzung zu einer produzierenden Jagdwirtschaft der zweite Sündenfall.

Doch das Unbehagen mit der in die produzierende Wirtschaft gleitenden Jagd spüren viele und wer die Jagd als solche erhalten will, hofft, dass es nicht die Geburtswehen eines neuen jagdlichen Paradigmas sind. Der Manager als Heros unserer Zeit hat in allen Wirtschaftsbereichen bereits an Glanz verloren - auch im jagdwirtschaftlichen, und der Zug fährt schon in eine andere Richtung. Für viele Jäger nimmt das durch perfekte Planung vorhersehbare Erlegen des Wildes der Jagd jene Unvorhersehbarkeit, die doch gerade ihr Hauptcharakteristikum ist (das wissen sogar die im Internet kursierenden Chuck Norris-Witze: „Chuck Norris geht nicht jagen, denn das beinhaltet die Wahrscheinlichkeit des Versagens. Chuck Norris geht töten!") Garantierter Abschuss kann nicht Jagd sein. Doch die Fütterung ist eine Schiene, die im Reviersystem, mit einer Grundeigentümerbindung der Jagd, nicht so leicht zu verlassen ist, zumal sich für einen Spurwechsel nicht nur die Jäger zurücknehmen müssen, sondern auch die Allgemeinheit ihrer sozialen Verpflichtung gegenüber Wildtieren als landeskulturellem Erbe nachkommen und die Jäger aus ihrer alleinigen „Sorgepflicht" für das Wild entlassen muss.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2010)

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