„Fünfzig Weiber und kein Wasser“

Schriften an der Wand: Einer der beiden Flaktürme im Wiener Arenbergpark, der sogenannte Leitturm, enthält Botschaften aus Kriegstagen. Wie eine Forschergruppe sie entdeckte – und warum sie der Öffentlichkeit vermutlich vorenthalten bleiben.

Achtzig Personen suchen einen Schlüssel. Das heißt: Den Schlüssel haben sie schon, aber er sperrt nicht. Das heißt: Er sperrt schon, aber nicht das Schloss, das er noch vor wenigen Tagen gesperrt hat. Weil dieses gegenwärtige Schloss eben nicht mehr jenes von damals ist. Irgendjemand muss da was getauscht haben. Und so warten an jenem Montagabend dieser Woche 80 Personen in der Landstraßer Spätherbstkühle, und das Ziel ihrer Visite bleibt ihnen verschlossen: der Leitturm im Arenbergpark. Der ist immerhin das historisch wichtigste Wiener Baurelikt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs: So viel steht seit Kurzem fest – seit die Architekturhistorikerin Ute Bauer mit den Mitarbeitern ihres Interdisziplinären Forschungszentrums Architektur und Geschichte (kurz IFAG) genau diesen Leitturm systematisch erkundet und ihre Ergebnisse unter dem Titel „Erinnerungsort Flakturm“ vorgelegt hat.

Der Reihe nach. Im Herbst 1940 beginnt man in Berlin mit der Errichtung von Flaktürmen. Die militärische Idee: Flugabwehrkanonen auf erhöhten Waffenplattformen sollen Angriffe gegnerischer Bomberverbände erschweren. Das System besteht jeweils aus zwei Türmen: dem Gefechtsturm, auf dem die Geschütze aufgestellt sind, und dem Leitturm, der über seine Ortungseinrichtungen die Feuerleitung des Geschützturms übernimmt. Erstaunlich früh allerdings zweifelt das Nazi-Regime selbst am strategischen Nutzen der aufwendigen Anlagen: Schon im Dezember 1941 wird in einem Schreiben des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition der Bau eines Flakturms in Hamburg als nicht vordringlich dargestellt, da keine Vorzüge militärischer oder auch luftschutztechnischer Art erkennbar seien.

Was nichts daran ändert, dass bis Kriegsende insgesamt acht der Betonzwillinge in Nazi-deutsche Stadtlandschaften gepflanzt werden: drei in Berlin, zwei in Hamburg, zuletzt drei in Wien. Macht insgesamt 16 massige Kubaturen, die ihre Sinnstiftung offenkundig nicht einem militärisch-rationalen Kalkül, sondern primär ihrem psychologischen Mehrwert verdanken: Als „Wach- und Wehrfesten“ charakterisiert, bieten sie tatsächlich im Sinne mittelalterlicher Burgen zumindest Teilen der anliegenden Bevölkerung fallweise Schutz, zeigen aber zugleich genau dieser anliegenden Bevölkerung unmissverständlich, wo die Macht wohnt. So viel Einschüchterung muss offenbar sein unter einem Regime, dessen Herrschaft erkennbar ihrem Ende entgegengeht.

Nur Fragmente davon haben sich in Berlin erhalten, nur stark Überformtes in Hamburg. „Lediglich die sechs Flaktürme in Wien“, hält das Bundesdenkmalamt fest, „blieben in ihrer ursprünglichen Anlage vollständig erhalten.“ Einer von ihnen noch ein bisschen vollständiger als alle anderen: Der Leitturm im Arenbergpark ist als Einziger weitgehend so in unsere Zeit gekommen, wie ihn der letzte Wehrmachtssoldat im April 1945 verlassen hat. Sieht man von ein paar Düngersäcken und „Nimm-ein-Sackerl-für-mein-Gackerl“-Tafeln ab, die Wiens Stadtgärtner im Erdgeschoß deponiert haben.

Flakturmbauer als Ehrendoktor

Kurz: Ein vergleichbares Objekt gibt's nirgendwo auf der Welt. Wie ja Wien auch sonst NS-mäßig Einzigartiges zu bieten hat: zum Beispiel eine Technische Universität, die unter ihren Ehrendoktoranden seit 1972 jenen Friedrich Tamms führt, der als Mitarbeiter der „Organisation Todt“ Planung und Ausführung aller Flaktürme besorgt hat und allein damit für die brutale Ausbeutung Tausender Zwangsarbeiter verantwortlich ist.

Als sich 2006 im Zuge von zwei Kunstaktionen die Tore des Leitturms im Arenbergpark zum ersten Mal nach Kriegsende (und auch da nur für kurze Zeit) der Allgemeinheit öffnen, ist Ute Bauer unter den Besuchern; schließlich hat sie ja den „Wiener Flaktürmen im Spiegel österreichischer Erinnerungskultur“ die Abschlussarbeit ihres Architekturstudiums gewidmet. Im strahlenden Licht, das eigentlich Gegenwartskunst erhellen soll, entdeckt Bauer Nachrichten der Vergangenheit, mehr als 60 Jahre lang unerkannt geblieben in der so gut wie immerwährenden Finsternis, die sie nach 1945 umfing: Bleistiftkritzeleien, Kreideschriften an Zimmerwänden, in Stiegenhäusern. Und allmählich wird Bauer bewusst, welch einzigartige Dokumente sich hier erhalten haben: Es sind nicht zuletzt Botschaften der Zwangsarbeiter, die den Bau des Kolosses zu bewerkstelligen hatten. „Laval au Poteau!“ – Laval an den Galgen! – hat da ein Franzose ins Stiegenhaus notiert und den Ministerpräsidenten der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung, Pierre Laval, gemeint. Drei Stockwerke weiter oben wiederum wünscht sich ein Italiener nur noch eines: „Milano e poi morire“ – Mailand und dann sterben.

Bauers Fund ist jene Art von Entdeckung, mit der kein Eigentümer Freude hat, wird doch mit jedem noch so zarten Bleistiftstrich, ist er als historisch bedeutsam anerkannt, sein Nutzungsspielraum immer enger. Dieser Eigentümer heißt in gegenständlichem Fall Stadt Wien, die hat den Leitturm 1990 vom Bund im Zuge eines Liegenschaftentauschs aufgedrängt bekommen und steht jetzt einigermaßen ratlos mit Zigtausenden Tonnen Stahlbeton mäßiger Güte da, die noch dazu denkmalgeschützt sind. Es braucht nicht viel Empathie, um sich vorzustellen, dass die verwaltende Magistratsabteilung 34 Frau Bauers Ansinnen, den Turm Quadratmillimeter für Quadratmillimeter nach noch mehr Erhaltenswertem abzusuchen, nicht gerade mit Euphorie empfangen haben wird. Was man dortselbst heute auffallend unentspannt in Abrede stellt: Man habe Frau Bauers Arbeit stets unterstützt.

Wie auch immer: Ute Bauer erhält zwar nicht sooft sie will, aber jedenfalls mehrfach Gelegenheit, mit ihren IFAG-Mitarbeitern den Turm zu begehen. Sie findet die Namen sowjetischer und tschechischer Zwangsarbeiter auf die Ziegel der Geschoßzwischenwände gekrakelt, findet auch Notate jener (kleinen) Teile der Zivilbevölkerung, die in drei von neun Stockwerken des Leitturms Schutz vor Bombenangriffen suchen durften: „Pst Pst“ hat da jemand gleich im Erdgeschoß mit blauem Buntstift annonciert; in einem Waschraum des fünften Stocks wiederum ist die triste Lage der Schutzsuchenden festgehalten: „Wo bleibt Wasser! 50 Weiber und kein Wasser!“ Bauers Team wühlt sich durch Schutt und Kehricht, um auch noch des kleinsten Belegs habhaft zu werden: darunter Trockenshampoo, Briefpapier von Friedrich Tamms – und der Theaterzettel einer Nestroy-Aufführung „Wiener Schauspielschüler und Luftwaffenhelfer des Flakturms Arenbergpark“ vom Mai 1944. „Spielleitung“: ein 15-jähriger Luftwaffenhelfer namens Helmut Qualtinger.

Vergangenen Juli legt Bauer erste Ergebnisse ihrer Arbeit in Buchform vor und formuliert eine Hoffnung: „aufgrund der herausragenden Qualität der Öffentlichkeit zumindest diesen Turm als begehbares Mahnmal zugänglich zu machen“. Keine fünf Monate später scheint die Zeit der Hoffnungen zu Ende: Seit 1. November hat der Leitturm im Arenbergpark einen Mieter, und der ist so ungeheuer geheim, dass vorerst nicht einmal der anliegende Bezirk von der Vermietung erfährt. „Dabei“, so Bezirksvorsteherstellvertreter Rudolf Zabrana, „informiert uns die Magistratsabteilung 34 sonst über jedes kleine Geschäft, das in ihrem Verantwortungsbereich vergeben wird.“

Es folgt: eine magistratische Posse. Ohne Gesang. Rudolf Zabrana, via Stadtgartenamt im Besitz eines Leitturm-Schlüssels, stellt diesen Ute Bauer für zwei Führungen zur Verfügung: „Wir haben als Bezirk auch die Verantwortung dafür übernommen.“ Verwegen fürwahr. Bei der MA 34 nämlich sind in diesem Zusammenhang Worte wie Besitzstörung zu hören. Haben wir's am Ende bei Herrn Zabrana, Familienvater Jahrgang 1944, SP-Bezirkspolitiker seit mehr als 20 Jahren, mit einer Art Stadtguerillero zu tun? Jedenfalls, Zabrana ist dabei, als die erste Führung, für eine Handvoll Journalisten, klaglos vonstatten geht. Und Zabrana ist auch dabei, als wenige Tage später die 80 Interessenten der zweiten Führung, nach einer Präsentation von Bauers Band, vor verschlossenem Leitturmtor stehen. Nur Stunden vor der zweiten Begehung hat der neue Top-secret-Mieter die Schlösser seines Mietobjekts getauscht. Was sein gutes Recht ist. Dennoch: eine bemerkenswerte Koinzidenz.

Wiens erste Flakturm-Gedenktafeln

Norbert Schwarz, Leiter des Fachbereichs Verwaltung in der MA 34, ist telefonisch um Kalmierung bemüht. Und vielleicht würde man ihm sogar glauben, dass es rund um den Leitturm Arenbergpark seitens der MA 34 ohnehin immer ganz offen und transparent hergegangen sei – hätte man nicht selbst anderes erlebt: Eine E-Mail-Bitte um Besichtigung war erst vergangenen Juli nicht einmal ein „Da könnt ja jeder kommen“ wert.

An diesem Dienstagnachmittag freilich gibt sich Schwarz überfließend auskunftsfreudig: Den Namen des Mieters dürfe er noch nicht verraten, aber es handle sich um ein Unternehmen, das den Leitturm zur Datenspeicherung verwenden wolle. Ja, der Mieter müsse sich mit dem Bundesdenkmalamt ins Einvernehmen setzen. Und nein, bei dem Mieter handle es sich nicht um jene obskure Firma DCV, die mit einem ähnlichen Projekt für den Gefechtsturm im Augarten seit Jahren hausieren geht. Im Übrigen sei die Idee eines öffentlich zugänglichen Mahnmals durch die Vermietung wohl gestorben: „Aber wie viele würden sich denn dafür schon interessieren?“ Die Antwort gibt die Novemberwirklichkeit: an einem einzigen feuchtkalten Montagabend 80 Besucher. Da kennt man honorige Kulturdestinationen in Wien, die mit sehr viel weniger zufrieden wären.

Immerhin: Wenn man schon nicht reinkann, so wird man wenigstens draußen demnächst erfahren können, wer denn hier warum so irrwitzige Betonkubaturen in die Wiener Luft gewuchtet hat. Am 2. Dezember steht in der Landstraßer Bezirksvertretung ein Gedenktafeltext für die Flaktürme des Arenbergparks zur Beschlussfassung an. Von Zwangsarbeit, Luftschutz und NS-Propaganda ist da die Rede und von der massenhaften Ausbeutung und Ermordung von Menschen. Es werden die ersten Gedenktafeln vor Wiener Flaktürmen sein. Und man muss sich schon freuen, dass es zu einem solchen Schritt eh nur 65 Jahre gebraucht hat. Mehr ist dazu nicht zu sagen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2010)

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