Die Gärten, die es nie gab

Entlang seiner eigenen Biografie erzählt Giorgio Bassani in seinem Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ von Diskriminierung und Deportation der jüdischen Bevölkerung. Viel davon lässt sich in seiner Heimatstadt Ferrara finden.

Die Gärten der Finzi-Contini“ ist einer der bekanntesten italienischen Romane betitelt, zugleich Hommage an die Stadt Ferrara. In Ferrara mit seiner gewaltigen mittelalterlichen Burg, den engen Gassen und den großen Gärten mitten in der Stadt erlebte der junge Giorgio Bassani die Diskriminierung und Deportation der jüdischen Bevölkerung. Seine „Gärten der Finzi-Contini“ wurde auch durch die Verfilmung von Vittorio De Sica weltberühmt. Ein schlankes blondes Mädchen sitzt auf einer steinernen Gartenmauer, ein Mann blickt zu ihr auf. Die hohe Gartenmauer steht für die Barriere zwischen den unterschiedlichen Ideologien und zwischen den Gesellschaftsgruppen während der Zeit des Faschismus. Eine Hauptrolle in Roman und Film spielt die emilia-romagnolische Stadt Ferrara selbst. Die Stimmung und die Topografie der als „Città Ideale“ erdachten und verwirklichten Stadt am rechten Ufer des Flusses Po ist in Bassanis Werk dermaßen eindrucksvoll dargestellt, dass immer wieder Reisende das Ferrara der Finzi-Contini suchen und die Orte Bassanis sofort wiedererkennen.

Für den Film wurde die Szene, in der Micòl Finzi-Contini als kleines Mädchen zum ersten Mal den Erzähler einlädt, in den Garten zu kommen, auf dem weitläufigen und stillen jüdischen Friedhof von Ferrara gedreht, jenem Ort, an dem auch der Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ beginnt. Am Anfang der Geschichte steht die Beschreibung des Familiengrabes der Finzi-Contini. Ein aufwendiges Grabmal von weißem Marmor aus Carrara und rosafarbenem aus Verona. Giorgio Bassani schöpfte für die fikitive Familiengeschichte der Finzi-Contini aus seiner eigenen Erinnerung an seine Jugend in einer bürgerlich-liberalen Arztfamilie. Während des Zweiten Weltkriegs schloss sich Bassani der antifaschistischen Untergrundbewegung an. Nach dem Krieg zog der Autor nach Rom, wo er in den 1950er-Jahren als Vizepräsident die RAI lenkte, das staatliche italienische Radio- und Fernsehunternehmen. Obwohl er den Großteil seines Lebens in Rom verbrachte, wollte Bassani auf dem jüdischen Friedhof von Ferrara bestattet werden. Sein eigenes Grabmonument versinnbildlicht Zerstörung und eine Wunde, die niemals verheilt. Besucher legen Steine zum Andenken auf Bassanis Grab.

In Bassanis Roman ist das monumentale Grabmonument der Finzi-Contini leer. Die Körper von Micòl Finzi-Contini und ihrer Familie wurden nie gefunden. Der Leser weiß von Anfang an von ihrem Tod, erst nach und nach erfährt er von der nie erfüllten Liebesgeschichte zwischen Giorgio und Micòl.

Die eigene Atmosphäre von Ferrara ist auch dem Nebel zu verdanken. „Wegen der besonderen Beschaffenheit unseres Klimas erlaubt dir der Nebel nicht, mit den Augen zu sehen“, meint die Kunsthistorikerin Emanuela Mari. „Deshalb musst du auf eine andere Art schauen, du musst mit dem Geist sehen.“ Emanuela Mari ist in Ferrara geboren und hat in der Stadt studiert. Für ihre Doktorarbeit befasste sie sich mit der Renaissance in Ferrara, der humanistischen Blütezeit der Stadt. Wie viele Ferrareser ist auch Emanuela Mari hauptsächlich mit dem Fahrrad in Ferrara unterwegs. „Die Maße von Ferrara sind noch immer jene der Renaissance, das heißt, die Stadt ist nach dem Maß des Menschen gebaut. Das Fahrrad ist das ideale Fortbewegungsmittel zur Kontemplation. Es gibtZeit zu schauen, zu denken und zu hören.“

Und so gleiten Ferrareser ebenso wie Reisende in der Renaissancestadt mit dem Fahrrad durch die Addizione Erculea, jenen Bereich der Stadt, der vom Herzog Ercole I. d'Este angelegt wurde, einen ausgedehnten Bereich von Grünanlagen und Friedhöfen. Die Addizione Erculea war das erste städtebauliche Projekt Europas. Sie ist umgeben von einer neuen, hohen Stadtmauer, die auch den jüdischen Friedhof begrenzt. Mit ihrem exakten Straßenraster, ihren idealen Proportionen und den prächtigen Bauwerken ist die Addizione Erculea ein planerisches Avantgardeprojekt, das städtisches Treiben mit Oasen der Stille kombiniert. Viele Teile waren der Kontemplation gewidmet. Klöster, Paläste und Gärten der Familie Este, deren Mitglieder, typisch für die Kultur der Renaissance, einen großen Glauben an Astrologie und an Magie hegten. Die Vorliebe für die Astrologie zeigt sich auch in der architektonischen Anlage der Addizione Erculea, die auf dem Reißbrett nach der Zeichnung eines Horoskops entworfen wurde.

Ferrara erhebt sich aus dem flachen Land der Po-Ebene, einer Gegend, die jahrhundertelang von der Armut in den Sumpfgebieten und dem Kampf gegen das Wasser beherrscht war. Im Zentrum von Ferrara macht sich das massige Castello Estense breit, das heute noch den Namen jener Herrscherfamilie trägt, die Ferrara prägte. Nördlich vom Castello verläuft die großzügige Prachtstraße von Ferrara, der schnurgerade Corso Ercole I. d'Este. In der Planung der Stadt wurden ungewöhnlich viele Gärten verwirklicht, und so ist es kein Zufall, dass Giorgio Bassani seinem Roman den Titel „Die Gärten der Finzi-Contini“ gab. Der Garten ist ein Teil der Renaissancetradition von Ferrara, die ihrerseits einer noch viel älteren Tradition entspringt, jener des Gartens der Liebe.

Der Garten der Liebe ist ein literarisches Thema, in der französischen Literatur des 13. Jahrhunderts, im „Roman de la Rose“, findet sich auch die Figur der Engelsfrau, die blond ist wie Micòl Finzi-Contini. Im „Roman de la Rose“ ist der Liebhaber ein Träumer, der den Garten betritt und eine Reihe von gefährlichen Abenteuern bestehen muss, um sich seiner Frau würdig zu erweisen – so wie der Ich-Erzähler Giorgio. Die ersten Begegnungen von Giorgio mit Micòl finden in der Schule statt. Micòl und ihr Bruder Alberto werden zu Hause von ihrem hochgebildeten Vater unterrichtet und legen in der öffentlichen Schule nur ihre Prüfungen ab. Später kommen Micòl und Giorgio einander näher, weil die Einführung der Rassengesetze beide zu Außenseitern gemacht hat. Der Vater von Micòl erweist sich als eine Art Schutzherr für die bedrängte jüdische Gemeinde in der Stadt.

Vittorio De Sica warder Regisseur der erfolgreichen Verfilmung der „Gärten der Finzi-Contini“. Giorgio Bassani war zunächst an der Erstellung des Drehbuchs beteiligt, distanzierte sich im Laufe des Projektes aber von dem Film. Vor Gericht wurde der Streit zwischen Bassani und De Sica entschieden: Im Abspann des Films musste festgestellt werden, der Film handle „frei nach dem Roman von Bassani“. Dem Autor ging es dabei wohl vor allem um die Darstellung der Beziehung von Micòl zu Giorgios Nebenbuhler aus Mailand, Malnate. Das Verhältnis, das die Figur Giorgio im Roman zu ihrem Vater hat, spiegelt das tatsächliche Verhältnis Giorgio Bassanis zu seinem Vater. Ein großer Teil der Juden von Ferrara war in das politische und gesellschaftliche System des Faschismus zunächst eingebunden. Als 1938 die Rassengesetze in Kraft gesetzt wurden, war der Bürgermeister von Ferrara ein Jude namens Renzo Ravenna.

Der Garten der Finzi-Contini existiert in Wirklichkeit nicht. Bassani beschreibt den Garten der Finzi-Contini jedoch sehr detailliert, und er imaginiert ihn an einer Stelle der Stadt Ferrara, wo sich früher eine Delizia der Familie Este befand. Die Delizie der Este waren Paläste, umgeben von ausgedehnten Gärten, Orte der Erholung und der Unterhaltung. Im nördlichen Teil der Stadt Ferrara lag die Delizia del Bel Fiore, ein berühmtes Lustschloss der Renaissance, das im 17. Jahrhundert zerstört wurde. In seiner Vorstellung verlegt Bassani den Palast und den Garten der Finzi-Contini dorthin, wo sich die Delizia del Bel Fiore befand, und zwar genau ans Ende des Corso Ercole I. d'Este, der in der Renaissance Viale degli Angeli, Straße der Engel, genannt wurde.

Im „Finzi-Contini“-Film sind die Szenen, in welchen die jungen Leute Tennis spielen, unvergesslich. Das Weiß der Tenniskleidung ist Symbol für die Jugend und Unschuld, und das Tennisspiel steht für die Liebe, die für Micòl Finzi-Contini immer ein Kampf mit einem Sieger und einem Verlierer darstellt. Im Jahr 1938, als die Rassengesetze eingeführt werden, darf Giorgio als Jude nicht mehr in den Tennisklub – genauso wie der Autor Giorgio Bassani. Giorgio wird von Micòl in den Garten der Finzi-Contini eingeladen. Er und eine Gruppe andere junger Leute, die teilweise Juden sind, können dann den privaten Tennisplatz der Familie Finzi-Contini benützen. Der Tennisplatz im Garten wird ein Ort der an den Rand Gedrängten. Sie sind einerseits von der Gesellschaft ausgeschlossen, andererseits sind sie Auserwählte, weil sie den Garten der Finzi-Contini betreten dürfen. Der Tennisklub „Mafisa d'Este“ befindet sich heute noch mitten in der Stadt, er ist einer der stillen Gärten der idealen Renaissancestadt. Dunkellilafarbene Rosen sind an Spalieren hinaufgezogen. Die Tennisplätze liegen friedlich da. Niemand spielt an diesem Vormittag. Nur ein paar ältere Herren sitzen bei Cappuccino und tratschen müßig im warmen Sonnenlicht.

Ein Besuch in Ferrara führt unweigerlich auch an das gewaltige, ziegelrote Castello, das Symbol von Ferrara. Heute ist die mittelalterliche Trutzburg teils Museum und teils Sitz der Stadtregierung. An der wehrhaften Mauer, die das Castello umgibt, zeigt Emanuela Mari einen Gedenkstein, der an das Jahr 1943 erinnert: „An dieser Stelle fand ein schreckliches Massaker statt. Im Jahr 1943 wurden elf Menschen hier ermordet. Sie wurden von den Faschisten festgenommen, die sich in der Republik von Salò wieder organisiert hatten, nachdem die Alliierten in Italien gelandet waren und am 8. September 1943 ein Waffenstillstand bekannt gegeben worden war.“ Die Faschisten der Republik von Salò brachten in der Nacht des 14. November 1943 diese elf Antifaschisten an die Mauern des Castello Estense. Sie wurden erschossen. Ohne jeden Prozess, und ganz ohne Verurteilung.

Ausgehend vom brutalen Mord an den Antifaschisten in Ferrara verfasste Giorgio Bassani die Erzählung „Eine Nacht des Jahres 1943“, die in der Sammlung „Fünf Ferrareser Geschichten“ erschien. Bassani macht in seiner Version der Ereignisse einen Faschisten aus Ferrara namens Sciagura zum Verantwortlichen der Morde an der Mauer des Castello Estense. Bassanis Erzählung verarbeitete der Ferrareser Regisseur Florestano Vancini zu einem Film mit dem Titel „Die lange Nacht von 43“. Vancini selbst hatte am 15. November als Schüler auf dem Weg zur Schule die Körper der Ermordeten gesehen, die zur Abschreckung vor dem Castello liegen gelassen worden waren, Eindrücke, die ihn zu seinem Spielfilm bewogen. „In Italien gab es keinen Nürnberger Prozess, die Faschisten wurden nicht zur Verantwortung gezogen“, sagt Emanuela Mari. „In Italien ist also eine offene Wunde geblieben, die nie verarztet wurde, sondern die versteckt werden musste.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2011)

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