Der blinde Fleck

Hat es ihn in Österreich tat- sächlich nicht gegeben: den antifaschistischen Widerstand und den Widerstand gegen die Verharmloser nach 1945? Einspruch! Über Simone Baders und Jo Schmeisers Dokumentarfilm „Liebe Geschichte“.

Der neue Film des Duos „Klub Zwei“ wirft einige Fragen auf. Die erste nach den Beweggründen der Filmemacherinnen Simone Bader und Jo Schmeiser, Töchter und Enkeltöchter von Nationalsozialisten vor die Kamera zu holen, die zweite nach dem Stellenwert der in den Begleitkommentaren transportierten Ideologie, die dritte nach Art und Zweck der Inszenierung, die vierte nach der Tradition, in der der Film steht, auch wenn sie ihm gar nicht bewusst ist.

„Liebe Geschichte“ setzt fort, was Bader und Schmeiser vor sechs Jahren in London begonnen hatten. Dort hatten sie Frauen, die vor dem Naziterror nach England geflüchtet waren, auch Töchter von Vertriebenen befragt: nicht nach ihren früheren Lebensumständen und denen ihrer Angehörigen, sondern nach ihrer infolge der Verfolgung erwachten jüdischen Identität, der Beziehung zur Stadt, die sie aufgenommen hat, ihrem lebhaften Interesse daran, wie sich die Ereignisse während der Naziherrschaft heute niederschlagen, nicht zuletzt auch nach ihrer Einschätzungdes kollektiven Umgangs mit der NS-Vergangenheit in Österreich. „Things. Places. Years.“ lässt gelassene, gebildete, wortmächtige Frauen zu Wort kommen, in privater oder institutioneller Umgebung, die mittelständische Behaglichkeit ausstrahlt. So entsteht der irritierendeEindruck, dass die Interviewten es eigentlich ganz gut getroffen haben, besser jedenfalls, als wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, ohne Shoa, und sie heute noch in Österreich, Polen oder der Slowakei lebten. Ihr Lebensmittelpunkt wird sichtbar in langen, ruhigen Einstellungen auf Straßen und Plätze oder langsamen Kamerafahrten entlang von Fassaden, Mauern, Zäunen, die keinen Bezug zu den Äußerungen der befragten Frauen aufweisen, ihnen aber auch nicht die gebührende Aufmerksamkeit entziehen. Man hört ihnen gerne zu und merkt,auch die Filmemacherinnen haben ihnen gern zugehört. Sie leiden nicht an der Berufskrankheit hektischer Dokumentaristen, Menschenleben durch rasche Schnittfolgen zu zerstückeln.

Bei einer Aufführung im Rahmen der Wiener Frauenfilmtage hat Jo Schmeiser gemeint, ihre Londoner Interviewpartnerinnen „der zweiten und dritten Generation“ hätten sie quasi ermächtigt, sich den Folgegenerationen der Täter zuzuwenden. Das klingt, als würden die Filmemacherinnen sich aufgrund historischer Verstrickungen für befangen halten und „Liebe Geschichte“für sie auch eine therapeutische Funktion erfüllen. – Im Unterschied zu „Things. Pla- ces. Years.“ werden die Protagonistinnen des neuen Films nicht in ihrer gewohnten, oder einer selbstgewählten, Umgebung befragt, sondern an öffentlichen Orten, die jeweils ein Jahrzehnt symbolisieren sollen: Das Wiener Gänsehäufel steht für die Fünfziger-, das Juridicum für die Sechziger-, die UNO-City für die Siebziger-, das Haas-Haus für die Achtziger-, das Museum Leopold für die Neunzigerjahre, die Hauptbücherei am Gürtel für das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Die Zuordnung der Frauen zum jeweiligen Schauplatz wirkt manchmalebenso willkürlich wie die Auswahl der Architektur, und es ist schwer einzusehen, warum der Film völlig unbeteiligte Benutzer des öffentlichen Raums immer wieder ins Bild rückt: So wird die Aufmerksamkeit von den Protagonistinnen abgezogen. Man fragt sich, was eine asiatische Bedienstete der UNO, die sich für eine Zigarettenpause ins Freie setzt und dort von der Kamera eingefangen wird, mit dem Nationalsozialismus zu tun hat.

In den Kulissen sitzt oder steht also ein halbes Dutzend Frauen, deren Großväter, Väter oder Mütter Naziverbrechen begangenoder zumindest gutgeheißen haben. Über deren Biografien erfährt man wenig, denn die Filmemacherinnen scheinen vor allem an den Bemühungen der Interviewten interessiert zu sein, sich von der Last der als Schuld empfundenen Kindschaft zu befreien, ohne das Wissen um die Greuel der eigenen Vorfahren zu verdrängen. Obwohl sich der Film, durch die ausgewählten Orte und den Begleitkommentar, ausschließlich auf die österreichische Gesellschaft bezieht, sind zwei der Interviewten Deutsche. Wie schon im vorigen Film wird der Eindruck erweckt, dass Deutschland (gemeint ist die BRD) sich viel intensiver mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt hat als Österreich. Belege für diese Vermutung werdennicht geliefert, es sei denn, man nimmt die ungleich größere Eloquenz der beiden deutschen Frauen als Beweismittel.

Ist es möglich, dass Bader und Schmeiser ihren Gesprächspartnerinnen – anders als denen in ihrem London-Film – nicht zugetraut haben, den Zuschauern ein gültiges Bild der postnazistischen Gesellschaft zu vermitteln? Ein Indiz dafür wären die Stimmen im Off, die eine Chronologie des laxen Umgangs mit den NS-Verbrechen in Österreich geben. Zivilgesellschaftliche Initiativen kommen in dieser Aufzählung kaum vor. Durch den Verzicht darauf, sie zu benennen, suggeriert der Film, dass eine Auseinandersetzung bis heute nicht stattgefunden hat. Er ortet den Ursprung der offiziellen Verdrängungspolitik in der Moskauer Deklaration 1943, weil die Außenminister der alliierten Staaten darin die Meinung vertreten haben, dass Österreich als erstes freies Land, das Hitlers Angriffskriegen zum Opfer gefallen sei, von deutscher Herrschaft befreit werden sollte, undbehauptet eine Kontinuität des nationalen Opfermythos bis zu Wolfgang Schüssels legitimer Aussage im November 2000, wonach „der souveräne Staat Österreich“ völkerrechtlich gesehen das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei. „Das verringert“, so der damalige Kanzler, „in keiner Weise Österreichs moralische Verantwortung.“ Aber auch dieser Satz ist den Filmemacherinnen offenbar nicht zugetragen worden. Ihre Darstellung bleibt vom Widerstand – dem antifaschistischen und dem gegen die Verharmloser nach 1945 – unberührt; sie führen fort, was Karl-Markus Gauß anlässlich der „falschen Alternative“ im Streit um Thomas Bernhards„Heldenplatz“ beschrieben hatte: „die souveräne Verachtung der wirklichen Geschichte Österreichs mit ihren schmerzhaften, katastrophalen Widersprüchen und in ihren fortwirkenden Gegensätzen – und die höhnische Missachtung aller Traditionen, die in Österreich opferreich den verschiedenen Regimen und Regimentern der Gewaltherrschaft entgegenstanden“.

Ich frage mich, ob Bader und Schmeiser klar ist, auf welche Seite sie sich damit schlagen. Und ob der blinde Fleck in ihrem Film nicht der Aufspaltung in Generationen geschuldet ist. ■


„Liebe Geschichte“ läuft in Wien bis
24. März im Filmhauskino am Spittelberg; am 20. April im Kino im Kesselhaus Krems; ab 26. April im Moviemento in Linz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2011)

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