Meer aus zweiter Hand

Vor 100 Jahren gab's noch keinen Schilfgürtel, und manchmal gab's nicht einmal einen See. Der Neusiedler See oder: Wie man Natur erfindet.

Der westlichste Steppensee Europas liegt in der Nähe einer Großstadt: Aus diesem Spannungsfeld resultieren manche Besonderheiten in Geschichte und Gegenwart des Neusiedler Sees. Während die einen den fremdartigen Flachsee bestaunten, bemühten sich andere um die Trockenlegung des launischen Stehgewässers. So entstand eine widersprüchliche Landschaft zwischen Natur und Künstlichkeit.

Nach dem Ersten Weltkrieg kamen Steppensee und Großstadt einander näher. Eine neue Grenzlinie schenkte Österreich den größeren Teil des Neusiedler Sees und den Seewinkel. Franz Werfel schrieb von „Österreichs seltsamem Gast“, Ernst Krenek staunte über ein „Stück echten, wirklichen Südens – wie in Afrika“. Von den ÖBB wurden eigens Bäderzüge eingerichtet, um Ausflügler rascher zu den neuen Badeanlagen zu bringen. Ein Konsortium plante sogar die Errichtung einer Schnellschwebebahn, mit der Erholungssuchende flugs hätten zum See eilen können.

Zur neuen Popularität dieser Gegend trug die burgenländische Fremdenverkehrswerbung das Ihre bei. Der Slogan „Meer der Wiener“ wurde kreiert, bis heute der erfolgreichste Werbespruch für den Neusiedler See. Die neuen Badeanlagen und Seeterrassen wurden nicht zufällig auf Pfählen und in einiger Entfernung vom Ufer errichtet. Man wollte damit der Unberechenbarkeit des Wassers vorbeugen. Was zunächst nur wenige Besucher wussten, offenbarte sich in den Jahren um 1930. Das Wasser ging zurück. Das „Meer der Wiener“ hatte damals an manchen Stellen nur eine Wassertiefe von 70 bis 80 Zentimetern. Die erste Euphorie einer neuen Binnenkolonisation und symbolischer Landnahme erlitt einen Rückschlag. Am Steppensee meldete sich die Natur wieder zu Wort.

Periodische Wasserschwankungen gehören zu den Charakteristika solcher seichten und sensiblen Gewässer, die sich praktisch nur vom Niederschlag speisen. Das Auf und Ab des Wassers kann dabei erhebliche Ausmaße erreichen. Einst konnte der Wasserstand des Neusiedler Sees nach oben oder unten leicht einen Meter vom Mittelwert abweichen. Nicht wenig bei einem See mit 1,5 Meter durchschnittlicher Tiefe. In den Jahren 1865 bis 1870 trocknete der See sogar völlig aus. Pilger wanderten vom Ruster Ufer über den Seeboden zur Wallfahrt nach Frauenkirchen und kehrten trockenen Fußes wieder zurück. Bei Hochwasserstand wiederum konnte sich der See auf das 1,5-Fache seiner heutigen Fläche ausdehnen und weite Landstriche unter Wasser setzen.

Doch so „natürlich“ waren die häufigen Niedrigwasserjahre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Sie waren bereits auch die Folge menschlicher Eingriffe. Seit mehr als 100 Jahren versuchte man, den See zu regulieren. Im Laufe der Zeit entstand eine Vielzahl unterschiedlicher Pläne mit dem Zweck, des launischen Steppensees Herr zu werden. Die Überlegungen reichten von teilweiser oder gänzlicher Entwässerung bis zur Aufstauung des Sees. Einer faktischen Trockenlegung entging der Neusiedler See möglicherweise nur durch seine Aufteilung zwischen zwei Staaten.

Der einzige Abfluss: ein Kanal

Insgesamt zeigt sich eine charakteristische Ambivalenz im gesellschaftlichen Umgang mit dieser Landschaft: Während die einen den See bewunderten, arbeiteten andere an seiner Beseitigung. Ihren Höhepunkt erreichten die Regulierungsmaßnahmen mit der Fertigstellung des Einserkanals um 1910. Er ist bis heute der einzige Abfluss dieses Stehgewässers. Mit seiner Hilfe wollte man den See und das benachbarte Sumpfgebiet des Hanság im Südosten trockenlegen. Letzteres gelang, beim See hatte man sich jedoch verrechnet. Er blieb – wenn auch nicht unbeschadet. Bis Mitte der 1960er-Jahre soll der Neusiedler See gar zwei Drittel seines mittleren Volumens verloren haben. Niedrigwasserstände häuften sich. Aber auch Überflutungen konnten auftreten wie zum Beispiel im Jahr 1941.

Mit den großen Wasserschwankungen und der Unberechenbarkeit der Seeverhältnisse war es schließlich ab 1965 vorbei. Damals einigte man sich mit Ungarn auf ein verfeinertes Wasserregime beim Wehr am Einserkanal. Vereinfacht formuliert: Bei einem Zuviel an Wasser wird rechtzeitig abgelassen, bei einem Zuwenig zurückgehalten. Zugleich wurde der See leicht aufgestaut. Seit damals haben wir es am Neusiedler See also mit einem regulierten Gewässer zu tun – trotz scheinbarer oder realer Naturidylle.

Die „Befriedung der Natur“ (Norbert Elias) geschah am Neusiedler See, könnten wir meinen, gerade rechtzeitig zum einsetzenden Tourismusboom. Denn stabiler Wasserstand ist eine der Voraussetzungen für anhaltende Besucherströme. Was der frühe Naturschutz und die Appelle von Biologen nicht schafften, erreichte die Ökonomie. Doch am Verlust der „Urtümlichkeit des Steppensees“ und seiner Verwandlung in ein „künstliches, für den Schwimmsport geeignetes Gebilde“, gab es damals in der Region auch Kritik. Dass die Interessen der Segler dabei auch nicht zu kurz gekommen sind, sei hier nur am Rande erwähnt.

Bis in die Gegenwart wird am See noch „justiert“: Angesichts niederschlagsarmer Jahre tauchten jüngst wieder Austrocknungsängste und neue Regulierungsabsichten auf. So manche Pläne wurden diskutiert, Wasser aus der Raab oder gar aus der Donau zuzuleiten. Ab heuer soll jedenfalls ein neues Wassermanagement Wetterextreme weiter abfedern und einen etwas höheren Wasserstand bewirken.

Der Neusiedler See ist nicht mehr das, was er einmal war, oder – er ist einfach anders. Im 19. Jahrhundert bot sich dem Beobachter noch ein deutlich größerer Wasserspiegel dar. Der See reichte um ein, zwei oder mehr Kilometer näher an die Orte heran. Er war kaum von Schilf bedeckt – im Unterschied zu heute. Alte Reiseberichte, in denen noch von einem hohen Ufer im Süden erzählt wird, „wo sich die Wellen mit fürchterlichem Getöse brechen“, sind erst vor dem Hintergrund eines radikalen Landschaftswandels verständlich, selbst vorbehaltlich romantischer Überhöhungen.

Auch die Verschilfung ist weitgehend das Ergebnis anthropogener Eingriffe und Einflüsse. Sie breitete sich erst von der Jahrhundertwende bis um 1960 stark aus. Derzeit ist mehr als die Hälfte der Seefläche verschilft, mehr Schilf gibt es europaweit nur noch im Donaudelta. Gefördert haben sein Wachstum vor allem anhaltende Niedrigwasserstände sowie der steigende Nährstoffeintrag aus Landwirtschaft und Haushalten. Beim „Naturparadies“ des Schilfgürtels handelt es sich also im Wesentlichen um Natur aus zweiter Hand. Natur wird gern als stabil wahrgenommen. In Wirklichkeit ist sie dynamisch und vereint – insbesondere am Neusiedler See – zunehmend natürliche und kulturelle Wirkkräfte.

Das ökologische Problem beschleunigter Verlandung erwies sich gleichzeitig als ökologisches Potenzial: Im Schilfdickicht finden zahlreiche bedrohte Tierarten ihr Rückzugsgebiet, seine Filterwirkung verbessert die Wasserqualität. Aber auch in der ästhetischen Wahrnehmung der Landschaft war der historisch neue Schilfgürtel bald integriert. „Rohrdschungel“ oder „rauschender Schilfwald“ sind inspirierende Topoi geworden und machen die Faszination des Neusiedler Sees mittlerweile zu einem erheblichen Teil aus.

Das populäre Bild des Steppensees ist kaum von jenem der „Puszta“ zu trennen. Gemeinsam ist beiden Landschaften, See und Seewinkel, ihre massive Umformung in jüngerer Zeit. So erfuhr die einstige Weidewirtschaft vor allem im Laufe der 1950er-Jahre eine Umwandlung in Wein- und Ackerbau. Den Austrieb der Herden hatte man aufgegeben, die nunmehr nutzlos gewordenen Hutweiden und Wiesen wurden umgebrochen. Das soll nicht heißen, dass der Seewinkel vorher eine einzige große Heide gewesen sei. Die besten Böden dienten schon vor dieser Agrarwende dem Ackerbau und zu einem geringeren Teil auch dem Weinbau.

Doch selbst diese gemischte Weide- und Ackerlandschaft wirkte im Seewinkel exotisch und konnte „Pusztaromantik“ heraufbeschwören. Um 1960 beklagte der Naturwissenschafter Lothar Machura die rapide Umkrempelung der noch vorhandenen Weiden mit den Worten: „Wo noch vor zwei Jahrzehnten als Wahrzeichen dieser Landschaft Windmühlen standen, Ziehbrunnen in den Himmel ragten und langsame Steppenochsen ihre großrädrigen Karren an riesigen Rinder- und Pferdeherden vorbeischleppten, herrscht heute die Leblosigkeit einer schier endlosen Maschinensteppe.“

Wie „Puszta“ gemacht wird

Der Seewinkel erhielt somit binnen weniger Jahrzehnte ein neues Aussehen. In der Welt touristischer Bilder und in der Vorstellung vieler Besucher ist er jedoch vor allem die „Puszta“ geblieben. Wie war das möglich? In der Tat zeigen Ansichtskarten selten die Weingärten der Gegend, geschweige denn die Gemüsefelder. Durchgesetzt hat sich dagegen vor allem ein Sujet: Schilfhütte mit Ziehbrunnen. Eine heute vertraut wirkende und verkitschte Motivpaarung, die es vor Mitte der 1950er-Jahre gar nicht gab, die aber wenige Jahre später bereits beginnt, Postkarten, Tourismusbroschüren sowie Buchumschläge zu erobern.

Dabei handelt es sich bei der Nachbarschaft von Schilfhütte und Ziehbrunnen um ein Konstrukt. Nicht nur, weil beide Objekte oft künstlich erhalten oder nachgebaut werden, als Fotomotiv für Touristen. Auch die räumliche Nähe beider Objekte ist grundsätzlich arrangiert. Traditionell verwendeten nämlich Hirten im Seewinkel keine Unterstände dieser Art, vielmehr wurden solche Hütten von den Weinhütern gebaut. Die Annäherung von Ziehbrunnen und Schilfhütte dürfte sich also erst durch das Vorrücken der Weinbauflächen ergeben haben und wurde im Bild erst vollzogen durch die motivischen Überlegungen von Fotografen. Die nunmehr funktionslosen Ziehbrunnen reichten als eigenständiges Bildmotiv immer weniger. Es lag daher nahe, diese durch die pittoreske Schilfhütte zu ergänzen.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich dabei zwei konkurrierende Landschaftstypen vermählten: die Heide und der Weingarten. Dass die Schilfhütte allgemein mehr mit Hirtenleben denn mit Weinhüterunterstand assoziiert wird, kam der populären Bildproduktion entgegen. Imaginiert und verklärt sollte die alte Puszta werden und nicht die moderne Weinlandschaft. Das eigenständige Symbol und erfolgreichstes Markenzeichen der „österreichischen Puszta“ entstand somit erst zum Zeitpunkt ihres völligen Verschwindens – wenn es sie überhaupt jemals gab. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2011)

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