Pauken, Prunk, Plantagen

101 Stockwerke im Zeichen des Energiesparens. Ein Minister, der Aquarelle malt. Geheimste Wünsche auf gelben Zetteln. Eine Republikfeier ohne politisches Gerangel. Nachrichten aus Taiwan.

Nachtflug Taipeh–Wien, Rückkehr von einer Neun-Tage-Reise durch die Inselrepublik Taiwan. Um 6.15 Uhr sollen wir landen, gegen fünf, kurz vor dem Early Morning Tea, kommt in meiner Sitzreihe Unruhe auf. Ein gut gekleideter Mittfünfziger, durch zwei Plätze von mir getrennt, dreht sein Leselicht auf, macht sich mit Papieren aus seinem Bordkoffer zu schaffen, scheint irgendwelche Akten durchzugehen, bereitet sich wohl auf die bevorstehenden Termine vor. Plötzlich höre ich seine Stimme – ganz klar: Chinesisch. Leise, damit keiner der noch schlummernden Mitreisenden gestört wird, fast unhörbar, liest er den Text von dem Blatt ab, das er vor sich ausgebreitet hat. Ich nehme an, er memoriert eine Konferenzwortmeldung oder einen Vortrag, den er in wenigen Stunden zu halten haben wird – in einer Sprache, die nicht die seine ist, in deren Idiom er sich einüben will.

Lange vor der Landung ist er damit fertig, die Stewardess bringt ihm Mantel und Hut. In diesem Augenblick stürzt ein junger Mann, der die ganze Zeit in seiner Nähe gesessen ist, auf ihn zu, wechselt mit ihm ein paar Worte und richtet ihm mit hastigen Handgriffen die durch den 14-stündigen Flug verrutschte Krawatte. Mein Interesse ist geweckt: ein Promi mit Adlatus?

Beim Aussteigen erfahre ich Näheres, etliche der Passagiere scheinen ihn zu kennen: Es ist Hau Lung-Pin, der Bürgermeister von Taipeh. Höflich erwidert er den einen und anderen Gruß, still lächelnd verlässt er die Maschine, entschwindet, nicht die geringste Bevorzugung duldend, in der Menge. Ja, so sind sie – die Menschen dieses liebenswerten Landes, deren Gastfreundschaft ich in den zurückliegenden Tagen genossen habe: unprätentiös-pragmatisch, respektvoll, entspannt.

Österreich ist mit dem Lebensgefühl dieses 23-Millionen-Volkes in manchem besser vertraut als andere europäische Staaten: Schon in den Siebzigerjahren setzte der Zustrom taiwanesischer Musikstudenten nach Wien ein, die ersten Asia-Restaurants in Österreich wurden von Taiwanesen betrieben, und die zwei taiwanesischen Fluglinien, die die Strecke Taipeh–Wien bedienen, machten Wien vollends zum Brückenkopf des auf West-Destinationen ausgerichteten Ferntourismus der (wie es damals noch hieß) „Nationalchinesen“. Es herrscht Visafreiheit in beiden Richtungen, der Handelsverkehr floriert; was Taiwan fehlt, sind einzig die vom großen Bruder Rotchina hintertriebenen diplomatischen Beziehungen. Nur 23 Kleinstaaten, vorwiegend aus dem afrikanischen und mittelamerikanischen Raum, setzen sich über das Diktat aus Peking hinweg. Auch der Vatikan, der die knapp fünf Prozent Katholiken Taiwans vertritt, zählt zu diesen Ausnahmen – Rom wird dafür mit der Errichtung eines der ersten von acht Kulturinstituten „belohnt“ werden, die Taiwan in naher Zukunft plant.

Als besonders schmerzlich wird der 1972 auf Druck Rotchinas erfolgte Ausschluss aus der UNO empfunden: Die Republik China, wie sich Taiwan noch immer offiziell nennt, ist und bleibt international isoliert. Der Anmaßung, die sich in diesem Staatstitel ausdrückt, wohl bewusst, forciert man daher neuerdings die Variante „Taiwan“ – auch auf die Gefahr hin, mit Thailand verwechselt zu werden (wir kennen das von der leidigen Causa Austria/Australia). Wieso also hat man nicht am guten alten „Formosa“ festgehalten? Von der „Ilha formosa“, also der „schönen Insel“, schwärmte Mitte des 16. Jahrhunderts jener portugiesische Seemann, dessenSchiff an den Gestaden der subtropischen Pazifikinsel anlegte. Nur auf den Etiketten einiger weniger Exportgüter – etwa der Papaya, die zu meinen bevorzugten Frühstücksfrüchten zählt –hat sich der historische Name erhalten. Hat man ihn geopfert, um die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit auszulöschen?

2011 war für Taiwan ein besonderes Jahr: Man feierte hier wie auf dem Festland den 1911 erfolgten Sturz des letzten Kaisers, das Ende der Qing-Dynastie, die Ausrufung der Republik. Programmfolder und der Internet-Eintrag taiwanroc100.tw listeten die zahlreichen Festveranstaltungen auf, die in allen Teilen der Inselrepublik über die Bühne gingen: Gartenschau und Segelregatta, Puppentheater und Filmfestival, Lampionromantik en gros und Kanonendonner light. Auch das befreundete Österreich leistete seinen Beitrag: Das National Taiwan Symphony Orchestra mit Sitz in Taichung beauftragte einen aus der Reihe der „Ehemaligen“, den aus Taiwan stammenden Wahlösterreicher Shih, mit der Komposition einer massentauglichen Klanginstallation, die mit den Mitteln zeitgenössischer Musik dem Republikjubiläum Gestalt geben sollte.

Alles, was ihnen zur Verfügung stand, boten die Veranstalter auf, um „Prayer“ – so der Titel des von dem Wiener Designer Fabian Dembski inszenierten Spektakels – aus der Taufe zu heben: die riesige Naturbühne des Sun-Moon-Lake, des größten See-Areals von Taiwan, sowie den aus einer ehemaligen Militärbasis hervorgegangenen Kulturbezirk am Stadtrand von Kaohsiung, der nach Taipeh zweitwichtigsten Metropole des Landes. Auch das Aufgebot an darstellendem Personal konnte sich sehen lassen: Taiwans traditionsreichstes Symphonieorchester trat an, Shihs feingliedrige Partitur in eine kraftvolle Ode auf Freiheit, Demokratie und Völkerfrieden umzusetzen; die 400 Stimmen der vereinigten Frauen- und Kinderchöre wetteiferten mit dem Solopart der aus Deutschland eingeflogenen Vokalistin Chang Hsin-Han, dem in zwölf Weltsprachen artikulierten „Gebet“ Gehör zu verschaffen.

76 das Auditorium kreisförmig umschließende und mittels Lichtsignalen „gesteuerte“ Pauken symbolisierten jene Revolutionäre, die beim Entscheidungsschlag gegen die alten Mächte ihr Leben gelassen haben. Großflächig auf die Bühnenbauten projizierte Visuals von den Kampfhandlungen steuerten den historischen Kontext bei. Und was besonders hervorzuheben ist: Weder für das aktuelle Kräftemessen der etwa gleich starken Staatsparteien Kuomintang und DPP noch gar für das ewige Gerangel zwischen Taiwan und der Volksrepublik war an diesen beiden Abenden Platz:Die 6000 Besucher vom Sun-Moon-Lake wie die 3000 von Kaohsiung kamen aus allen Bevölkerungsschichten und waren vor allem eines: aufgeschlossen, wissensdurstig, jung. Taiwandankte es Österreich auf seine Weise, dass der Impuls für diese Großveranstaltung in Wien „gezündet“ hat: Komponist und Stagedesigner, Musikverleger und Presse waren im Anschluss an „Prayer“ zu einer mehrtägigen Rundreise durch die Inselrepublik geladen; Chan Hsiu-Ming, unser Betreuer vom Government Information Office, achtete bei dem Besichtigungsprogramm auf eine ausgewogene Mischung von Alt und Neu. Für die Verständigung mit uns zog er das Französische dem Englischen vor: Vier Jahre hat er an der Pariser Vertretung seines Landes gearbeitet, jetzt freute er sich auf seinen zweiten Auslandsposten – es würde Brüssel sein.

Taipeh mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern ist nicht nur die größte, sondern zugleich die Hauptstadt des Landes. Ob in den Straßen, an den Arbeitsstätten, in den Lokalen oder auch an den touristischen Ballungszentren wie den monströsen Gedächtnishallen für den Republikgründer Sun Yat-Sen und den langjährigen Staatslenker Chiang Kai-shek treffen wir fast nur auf junge Menschen: eilig, beflissen, adrett. Seitdem die Grenzen zur Volksrepublik nicht mehr völlig geschlossen sind, kommen sogar Studenten von „drüben“ nach Taiwan: 2000 sind derzeit zugelassen. Das Kontingent ist allerdings nicht ausgeschöpft: Nur 600 bringen das Geld auf für das teure Leben beim kleinen, reichen (und aufsässigen) Nachbarn.

In den zahllosen Filialen der Supermarktkette „Seven Eleven“ (die hier – in Abweichung von ihrem Namen – nicht von sieben bis 23, sondern rund um die Uhr offen halten) suchen sich die Schüler, ihre Lehrbücher unter dem Arm, Sitzecken, wo sie bei Juice oder Tee gemeinschaftlich ihre Hausaufgaben verrichten. Im berühmten Palastmuseum, erdbeben- und atombombensicher in einen der Hügel am Stadtrand gebaut, dominieren die Reisegruppen vom Festland; schon von Weitem sind sie an den Wimpeln ihrer Führer, an ihrer dürftigen Kleidung und an ihrem geschlossenen Auftreten zu erkennen. Neueste Errungenschaft der weltgrößten Asiatika-Sammlung: die durch Computeranimation möglich gewordene Umsetzung des 115 Meter langen Rollenbildes vom Ching- ming-Flußfest in lebensecht-bewegte Szenen samt nachgestelltem Ton. In Augenhöhe also das 1736 von den Pekinger Hofmalern angefertigte Original, darüber die einzelnen Figuren in voller Aktion: schreitende Menschen, wiehernde Pferde, schnatternde Enten. Wäre das nicht auch etwas für die Breughels im Wiener KHM?

Natürlich darf bei einer Stadtrundfahrt nicht das neue Wahrzeichen von Taipeh fehlen: der auf einem ehemals sumpfigen Reisfeld errichtete und nach seiner Stockwerkzahl „101“ benannte Wolkenkratzer aus dem Jahr 2004. Bis 2010 als das höchste Gebäude der Welt bestaunt, ist der bambusförmige, 509 Meter hohe Geschäfts-, Restaurant- und Aussichtsturm seit Kurzem ein Experimentierfeld der Energiesparstrategen. Zu den exklusiven Fresstempeln der oberen Etagen erhält nur Zutritt, wer sich zur entsprechenden Mindestkonsumation verpflichtet.

„Glyzinie“ heißt das heimelige Speiselokal in der Altstadt von Taipeh, das in einem der wenigen erhalten gebliebenen Holzhäuser aus der Zeit der japanischen Besetzung untergebracht ist. Ich treffe mich mit einem alten Freund, den ich noch aus dessen Wiener Studentenzeit kenne, darf Yen Lin-han, den inzwischen zum erfolgreichen Unternehmer Aufgestiegenen, nach wie vor Stefan nennen. Wie so viele aus seiner Generation arbeitet er in der Computerbranche, handelt mit einem von ihm entwickelten Geräteteil. 30 Mann beschäftigen er und sein deutscher Kompagnon in Taiwan, 160 auf dem Festland. Natürlich kommen wir auch auf Europa zu sprechen, auf die Krise. Stefan winkt ab: Wer sich heute außerhalb Taiwans eine Zukunft aufbauen wolle, setze auf Singapur, Australien, Kanada.

Am Nachmittag Empfang im Kulturministerium. Der Ressortchef hat vor wenigen Tagen wegen einer Korruptionsaffäre zurücktreten müssen; sein Vize beantwortet unsere Fragen zu Künstlerförderung und Bildungssystem umso williger, als wir uns von seiner eigenen Malkunst beeindruckt zeigen: An den Wänden des Audienzsaales hängen ausschließlich Aquarelle von des musischen Ministers Hand.

Nächste Station: Kaohsiung, Taiwans wichtigste Hafenstadt. Die Motorroller, die, Insektenschwärmen gleich, den Straßenverkehr beherrschen, machen nicht einmal vor den Gehsteigen halt. Die Raststätten an den Überlandstraßen sind – statt mit Messer und Gabel – mit Reisnapf und Stäbchen gekennzeichnet.

Vergleichsweise ruhig: die alte Inselhauptstadt Tainan. An den Wandbrettern des Konfuzius-Schreins kann, wer will, auf kleine gelbe Zettel gekritzelt, seine geheimsten Wünsche an den großen Gelehrten hinterlassen, auf den sechs Ebenen im Inneren des Riesen-Buddhas das Leben des Religionsstifters studieren. Im Living Art Museum von Changhua lädt uns Hausherr Liu Suan-yung ein, seinem Lieblingskalligrafen bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, und was sein Direktorkollege Lin Jeng-Yi mit dem Design Center von Nantou auf die Beine gestellt hat, setzt überhaupt Maßstäbe: futuristische Bambusmöbel von tollkühn ausschweifender Fantasie. Da wird gedämpft und geräuchert, gebogen und gepresst, geflochten, genagelt und laminiert, dass es eine Lust ist! Als Draufgabe sehen wir Josef Hoffmanns berühmte Sitzmaschine sowie Prunkstücke von Thonet und Loos: Das Vitra-Museum aus dem deutschen Weil am Rhein ist mit einem Teil seiner Kollektion zu Gast.

Wer seine Nudelmahlzeit bei Tu HsiaoYueh im geschäftigen Zentrum von Tainan einnimmt, bekommt eine packende Geschichte mitgeliefert, die als Schulbeispiel für chinesisches Krisenmanagement gelten kann. Es ist das von allen Taiwan-Reiseführern gepriesene Nachfolgelokal jener Fischersleute aus dem küstennahen Vorort Anping, die – gegen Ende des 19. Jahrhunderts – nach zweimonatigem Wüten eines Taifuns ihre Mitbürger vor dem Hungertod gerettet haben. Außerstande, mit ihren Booten aufs tosende Meer zu rudern und auch nur einen Fisch zu fangen, griffen sie in ihrer Not auf die zum Glück noch vorhandenen Nudelvorräte zurück, verarbeiteten diese samt allem anderen erreichbaren Essbaren in großem Stil zu einer Art Eintopf und schickten die Kräftigsten unter ihnen mit an riesigen Tragbügeln befestigten Trögen ins Dorf, wo sie, im Shuttleverkehr von Haus zu Haus, ihre geschulterte Last abluden. Das vergilbte Foto, das sich von der beispiellosen Hilfsaktion erhalten hat, hängt bis heute am Eingang des inzwischen denkmalgeschützten Gasthauses.

Besonders aufregend schließlich die Fahrt entlang der Ostküste. Dichte Naturwälder wechseln ab mit üppigen Plantagen: Das drei Meter hohe Denkmal am Straßenrand stellt keinen Potentaten oder Volkshelden dar, sondern Shidja, die Königin der Früchte, und der Weihnachtsstern ist hierzulande keine Topfpflanze, sondern ein Baumriese. Die Ami, einer der erst in neuerer Zeit staatlich geförderten Ureinwohnerstämme, empfangen uns in ihrem Reservat mit archaischen Klängen von Bambustrommel und Nasenflöte; auf halsbrecherischer Fahrt durch die urweltlich anmutende Taroko-Schlucht folgen wir der Aufforderung unseres Guides, jener 226 Arbeiter zu gedenken, die beim Bau der 20 Kilometer langen, heute von jährlich drei Millionen Touristen frequentierten Straße umgekommen sind.

Das einem Eisenbahngleis nachgebildete Straßenpflaster in der Marmorstadt Hualien ist kein Gag verspielter Stadtplaner, sondern der stille Protest der Bürger gegen die jüngst verfügte Auflassung ihrer Bahnlinie. Kleiner Trost für Sparsame: Auch wer sich das mit allen Raffinessen japanischer Hotelkultur ausgestattete Royal Chiao Hsi nicht leisten kann, braucht auf die Segnungen der berühmten Heilquellen von Jiaosi nicht zu verzichten: Schon auf dem Bahnhofsvorplatz steht dem Ankömmling ein großes Thermalwasserbassin zur Verfügung, in dem er seine Beine baumeln lassen darf.

Bei der Reisweinverkostung in Yilan kommt zum letzten Mal Österreich ins Spiel: Einer der Teilnehmer, Rechtsanwalt aus Taipeh, schwärmt von seinen „Lotteriefreunden“ in Wien. Lotteriefreunde – was mag das sein? Rasch klärt sich's auf: Die Gesinnungsgenossen von Rotary sind gemeint! Die allseits bekannten Probleme mit dem Buchstaben R haben unserem Gewährsmann einen Streich gespielt. Es wird auf dieser wunderschönen Reise durch Taiwan die einzige „Unstimmigkeit“ bleiben, die in diesen Tagen zwischen uns und unserem Gastgebervolk aufkommt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2012)

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