Ach, Europa!

Für viele Menschen ist „Europa“ ein abseits der Geografie schwer definierbarer Begriff, ein abstraktes Kompetenzkonglomerat. Skepsis und Argwohn der Bürger wachsen. Europa: Was ist das eigentlich?

Euro-Krise. Euro-Rettungsschirm. Schuldennachlass. Europa dominiert die Nachrichten. Die Europäische Union kämpft mit der wahrscheinlich schwersten Krise seit ihrem Bestehen. Die Bevölkerung reagiert mit ungläubigem Staunen und nicht selten mit unverhohlenem Argwohn. Die Politiker halten an ihrer europäischen Vision fest: Das „Friedensprojekt Europa“ darf unter keinen Umständen gefährdet werden. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mahnen zu Einigkeit und Solidarität. Und dennoch: Das Unbehagen der Menschen bleibt bestehen. Die Europaskepsis wächst.

Nur 38 Prozent der Österreicher halten die EU-Mitgliedschaft für „eine gute Sache“, so die Daten des letzten auf Österreich bezogenen Eurobarometers (Herbst 2007). Damit sind Herr und Frau Österreicher weit europaskeptischer als ihre Nachbarn: Im EU-Durchschnitt halten 58 Prozent der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft für „eine gute Sache“. Nur 34 Prozent der Österreicher konnten der Aussage „Die Interessen meines Landes werden in der EU gut berücksichtigt“ zustimmen. Magere 20 Prozent bejahten „Ich fühle mich stark in europäische Angelegenheiten eingebunden“.

Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer hat eine Erklärung dafür: „Es stimmt, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht gut auf die EU zu sprechen ist. Das liegt vor allem daran, dass die Notwendigkeit für Reformen auf die Gemeinschaft geschoben wird. Trotzdem wollen die Österreicher das europäische Haus nicht verlassen. Sie sind der Meinung, dass sich die Krise nur gemeinsam lösen lässt.“ Nicht die jetzige Struktur der EU, sondern mögliche künftige Entwicklungen würden der Bevölkerung Sorgen bereiten. Besondere Angst hätten die Österreicher vor Kürzungen im Bereich der sozialen Leistungen. „Finanzen und Soziales sind besonders sensible Bereiche. Hier würden Kompetenzverluste an Brüssel sicher nicht auf die Zustimmung der Bevölkerung stoßen.“

Im Rahmen einer OGM-Umfrage im Dezember 2011 wurde die Frage, ob es vor der Einführung eines EU-Eingriffs in das Budget des nationalen Parlaments eine Volksabstimmung geben sollte, von 48 Prozent der Befragten bejaht. 42 Prozent würden gegen den Eingriff in das nationale Budget stimmen, nur24 Prozent dafür. „Die Menschen sind bereit, mehr Europa zu akzeptieren, aber nicht in diesen hochsensiblen Bereichen. Da der Zug der Zeit in diese Richtung geht, werden die Bürger immer europakritischer.“ Woher kommt diese skeptische Grundhaltung? Für viele Menschen ist „Europa“ ein abseits der Geografie schwer definierbarer Begriff; ein abstraktes Kompetenzkonglomerat. Unkenntnis schafft Unsicherheit, nährt Ängste. Europa, was ist das also?

„Europa ist bedroht, weil geteilt“

„Von Europa weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wonach es benannt ist, noch wer er war, der ihm den Namen Europa gegeben hat“, schrieb der griechische Historiker Herodot um 430 vor Christus. Das Wort Europa selbst soll vom semitischen „ereb“ abgeleitet sein, was so viel wie düster und finster bedeutet.

Unter dem Eindruck des Grauens des Ersten Weltkrieges wurde 1923 die Paneuropabewegung ins Leben gerufen. Ihr Gründer, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, war von der Notwendigkeit einer zukünftigen europäischen Einigung überzeugt: „Die ganze europäische Frage gipfelt im Entweder-oder: Krieg oder Frieden! Anarchie oder Organisation! Wettrüsten oder Abrüsten! Konkurrenz oder Kooperation! Zusammenbruch oder Zusammenschluss! Doch die ambitionierten Ansätze eines neuen europäischen Idealismus wurden bald durch die Herrschaft des Nationalsozialismus und des Faschismus zunichtegemacht. Die Katastrophe war so gewaltig, dass die Überlebenden von einem Gefühl beherrscht wurden: Nie wieder Diktatur, nie wieder Krieg. Während die Menschen im zertrümmerten Europa mit dem nackten Überleben beschäftigt waren, formulierten einige Politiker bereits Zukunftsvisionen. Winston Churchill forderte 1946 in seiner berühmten Züricher Rede „so etwas wie Vereinigte Staaten von Europa“ und wies darauf hin, dass große und kleine Staaten darin gleiche Rechte haben müssten.

Zwei Jahre später trafen sich in Den Haag rund 800 Parlamentarier und Intellektuelle aus 27 Ländern. Das Programm: Nachdenken über Europa. Die führenden Staatschefs verständigten sich schnell auf die grundsätzlichen Maximen: „Nie wieder Krieg“, „Europa ist bedroht, weil es geteilt ist“, „Kein Staat kann sich allein verteidigen und wirtschaften“, „Für Freiheit in ganz Europa und in der ganzen Welt“ und „Zusammen gegen Krieg und Armut“.

In den Fünfzigerjahren setzte man mehr auf Wirtschaft als auf Idealismus, ein europäisches Gemeinschaftsgefühl sollte sich durch das Vernetzen der Wirtschaft „nebenbei“ entwickeln. Der Plan war ein Kind seiner Zeit: Wirtschaft gut, alles gut. Mit der Gründung der EGKS, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1951 wurden mehrere Strategien verfolgt: Einerseits wurde die Wirtschaft der „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich miteinander verflochten, andererseits waren die (kriegs-)wichtigen Ressourcen Kohle und Stahl der alleinigen nationalen Verfügung entzogen. 1957 wurde schließlich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG ins Leben gerufen. Adenauer, Schumann, De Gasperi und Kollegen wussten aus eigener Erfahrung, dass nicht nur wirtschaftliche Gründe für eine fortschreitende Einigung Europas sprachen. Das Grauen des Zweiten Weltkrieges sollte nie wieder möglich sein. Auch spätere Politiker wie Kohl und Mitterrand, die bereit waren, die nationalen Währungen gegen den Euro zu tauschen, waren noch von den Schrecken des Krieges geprägt.

So edel die Motive der Nachkriegspolitiker bei der Einigung Europas auch gewesen sein mögen, einen Vorwurf kann man ihnen nicht ersparen: Sie haben es verabsäumt, ihreWähler vom Wert dieses europäischen Weges zu überzeugen und so zu europäischen Bürgern zu machen. Jean-Claude Juncker, ehemaliger Premierminister Luxemburgs, beurteilte die voranschreitende Integration im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht folgendermaßen: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Von den Anfängen der EGKS über die EWG bis hin zur Einführung des Euro bleiben die „Herren der Verträge“, sprich: die Europapolitiker der Mitgliedstaaten, über Generationen ihrer Strategie treu: Das neue Europa soll gewissermaßen nebenbei entstehen. Der Europabürger als Nebenprodukt des gemeinsamen Marktes? In wirtschaftlichen Krisenzeiten kann ein solchermaßen „abgeleitetes“ Europabewusstsein leicht wieder zu bröckeln beginnen.

Viele Bürger betrachten diese Union nichtals die ihre. Kritisiert werden Defizite an demokratischer Kontrolle und Mitwirkung, der Brüsseler Eurokratie steht man mit Misstrauen gegenüber. Für Teile der Bevölkerung ist Europa mittlerweile ein negativ besetzter Begriff. Pessimisten sehen gar einen möglichen Zerfall Europas am Horizont. Der Bulgare Ivan Krastev, Mitglied des European Council on Foreign Relations, warnt vor dem Teufelskreis der Euro-Skepsis: „Regierungen orientieren ihre Politik an populistischen Forderungen und verfolgen eine anti-europäische Politik. Dadurch verliert die EU an Glaubwürdigkeit, was wiederum zu anti-europäischem Populismus führt.“

Wie beurteilt die ehemalige EU-Staatssekretärin Brigitte Ederer, die maßgeblich zum EU-Beitritt Österreichs beigetragen hat und heute Siemens-Vorstandsmitglied ist, die Situation? „Es wurde verabsäumt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, warum es Sinn macht, Teil der EU zu sein. Das schafft Raum für populistische Strategien.“

„Ist ein Tiroler kein Tiroler mehr?“

Der amerikanische Außenminister habe einmal gesagt: „There is no telephone number for Europe.“ Jetzt müsse man vermutlich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel anrufen, aber: „Auch Deutschland kann die großen Probleme nicht alleine lösen. Österreich braucht überzeugte Politiker, die daran glauben, dass die EU ohne vernünftige Alternative ist.“ Ederer glaubt an die „Vereinigten Staaten von Europa“: „Eine stärkere Integration ist alternativlos, wenn Europa nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden soll.“ Konkret: „Es sollte eine gemeinsame Regierung mit Ressorts geben, die das gemeinsame Ganze im Auge hat. Bei der Kommission stehen nach wie vor die nationalen Interessen im Vordergrund. Es muss mehr Verantwortung auf die europäische Ebene übertragen werden.“

Aber fürchten viele Bürger nicht den Verlust nationaler Identität durch die Abgabe von Souveränität an Brüssel? „Was hat sich kulturell seit dem EU-Beitritt für Österreich verändert?“, fragt Ederer, „ist ein Tiroler kein Tiroler mehr und ein Kärntner kein Kärntner? Die Menschen sind dieselben geblieben.“ Jean Monnet, einer der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaften, meinte allerdings: „Wenn ich das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu machen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2012)

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