Live ist nicht live, schon gar nicht beim Streaming

Manchmal fallen im benachbarten Schanigarten die Tore schneller – woran liegt denn das?

Torgebrüll vor einem Bildschirm – während man auf einem anderen erst den Schuss sieht? Dieses Phänomen erstaunt den Public-Viewing-Flaneur, und Fußballfreunde lässt es sinnieren: Wie live ist es eigentlich, was ich hier sehe? Blicke ich, wenn ich ein Match verfolge, in die (Fußball-)Vergangenheit, wie ein Astronom, der einen Stern, der eine Million Lichtjahre entfernt ist, so sieht, wie er vor einer Million Jahre war?

Im Prinzip ja. Aber das sollte den Fußballgenuss weder im Stadium noch vorm Bildschirm trüben, dafür ist die Lichtgeschwindigkeit – ca. 300 Millionen Meter pro Sekunde – einfach zu groß. Ein Tor, das 300 Meter entfernt von mir fällt, sehe ich eine Millionstelsekunde zu spät, und das macht nichts.

Was kann es sonst sein? Was kann die beobachtete Zeitverschiebung zwischen zwei TV-Geräten erklären? Intuitiv nahe liegt der Vergleich mit einem Gewitter, bei dem wir den Donner (der sich als Schall mit ca. 300 Metern pro Sekunde ausbreitet) später hören, als wir den Blitz (der sich mit Lichtgeschwindigkeit, also eine Million Mal so schnell, ausbreitet) sehen. Doch das kann hier keine Rolle spielen, diese Differenz fiele nur bei einer kilometerweit entfernten Schallquelle ins Gewicht, und so laut darf auch zu WM-Zeiten kein TV-Gerät sein.

Nächste These: Es könnte an der Übertragung liegen. Hier gibt es natürlich Unterschiede: Manche TV-Signale reisen durch die Luft, von Schüssel zu Schüssel oder Antenne zu Antenne, manche durch Glasfaserkabel. Aber das sollte praktisch keinen Unterschied machen, denn die elektromagnetischen Wellen – wie man sowohl diverse Funksignale als auch Licht geschwollen nennen darf – reisen in Glas wie in Luft (fast) mit derselben Geschwindigkeit wie im Vakuum.

Schuld ist vielmehr die Ökonomie, diesfalls der Übertragung der Daten, die das Fußballspiel ausmachen. Diese werden nämlich vor der Übertragung komprimiert, um Geld zu sparen, und nachher dekomprimiert. Das dauert beides seine Zeit, skurrilerweise umso länger, je moderner die verwendete Technik ist. Am schnellsten geht es beim Satellitenfernsehen, da ist die Verzögerung (Experten sprechen von Latenz) kleiner als eine Sekunde. Dann kommen die Antennen (terrestrische Übertragung) mit ca. drei Sekunden, dann das Kabel-TV (ca. sechs Sekunden). Signifikant behäbiger ist Streaming: Hier kommt es zu Latenzen von bis zu einer Minute! Schuld daran sein soll vor allem das Encoding, mit dem die Daten in digitale Daten umgewandelt werden, wie sie im Internet transportierbar sind.

So kann das Internet, das unsere Welt so herrlich beschleunigt, auch entschleunigende Wirkung zeigen – und zumindest Fußballfreunde zum Grübeln bringen: Ist mein Jetzt auch das Jetzt der Kollegen im benachbarten Schanigarten? Und wie schaffen wir es, trotz physikalischer Hemmnisse kollektiv zu jubeln?

thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2018)

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