Die Geschichte der Schwalbe

Neymar, ein Meister seines Fachs und "Schwalbenkönig"
Neymar, ein Meister seines Fachs und "Schwalbenkönig"APA/AFP/JOE KLAMAR
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Keine WM ohne Schwalben, in jeder Partie wird getrickst und getäuscht. Wer aber segelte als Erster durch den gegnerischen Strafraum? Wer sind die Meister dieser zweifelhaften Kunst?

Da hat sich Fair Play also wirklich einmal ausgezahlt. Die Japaner stehen nur deshalb im Achtelfinale der WM, weil sie zwei Gelbe Karten weniger kassiert haben als die Senegalesen. Was Moral und Fairness betrifft, ist es aber nicht gut bestellt um den Fußball – als Weltsport Nummer eins ja immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Jedes Wochenende, in jeder Runde, in jedem Spiel, und nun auch bei der WM in Russland, der größten Fußballbühne überhaupt, wird getrickst und getäuscht, dass sich die Balken biegen. Neymar torkelt, Cristiano Ronaldo fällt einfach um, Pepe geht theatralisch zu Boden. Und nach jeder Schwalbe folgt der Aufschrei: Er hat doch ein Vorbild zu sein, was, wenn unsere Nachwuchskicker dieses Verhalten übernehmen?!

Das haben sie längst. Auch Neymar und Co. haben die Schwalbe nicht erfunden. Irgendwann während des Siegeszuges des Fußballs in alle Winkel dieser Welt haben sich schmutzige Methoden eingeschlichen. Spätestens wohl, als es erstmals um Punkte und Tabellenplatzierungen ging. Nun, da der Sport durchkommerzialisiert ist, heiligt ohnehin der Zweck die Mittel. Auch der großartige Xavi sagte: „Im Fußball ist das Ergebnis ein Betrüger.“

Taktische Fouls, Zeitschinden, die unsägliche Rudelbildung beim Schiedsrichter – Unsitten gibt es sonder Zahl. Nichts erregt die Gemüter aber wie eine Schwalbe, also das absichtliche Zu-Boden-Gehen, um den Schiedsrichter zum Foulpfiff zu verleiten. Bei der Schwalbe lässt sich zumindest auch zurückverfolgen, wer diesen Begriff geprägt hat.

Es waren die Leidtragenden. Finale der Weltmeisterschaft 1974: Der Deutsche Bernd Hölzenbein hebt ab und segelt mit ausgebreiteten Armen durch niederländischen Strafraum. Paul Breitner verwandelt das Elfmetergeschenk, Deutschland gewinnt 2:1 und ist Weltmeister. In den Niederlanden war fortan in Anlehnung an den tieffliegenden Singvogel von „Hölzenbeins Schwalbe“ die Rede.

Über 40 Jahre später hat ausgerechnet ein Niederländer diese zweifelhafte Kunst perfektioniert. Niemand beherrscht Absprung, Flug, den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck und das Abrollen so wie Arjen Robben, der „fliegende Holländer“. Der Bayern-Profi ist ein Paradebeispiel dafür, dass gerade Ausnahmekönner anfällig sind. Wieso die Schwalbe zum Standardrepertoire eines Fußballprofis gehört, ist nämlich klar: Es ist das Risiko wert. Kann der Spieler den Unparteiischen überzeugen, wird er als Schlitzohr gefeiert. Wenn nicht, ist die schlimmste Konsequenz eine Gelbe Karte. Das ist seit 1999die Sanktion für ein absichtliches Täuschungsmanöver, ein Stürmer wird sie verkraften können. Es wurde auch schon von Fällen berichtet, in denen nicht der Übeltäter geschmäht, sondern der schuldlose Verteidiger vom eigenen Coach gerügt wurde.

"Diving" im Mutterland

Aber kommen die größten Meister der Täuschung gar aus dem Mutterland des Fußballs? In England galt „Diving“ lang als Unsitte der Legionäre. Schon Jürgen Klinsmann hat sich so in den 1990er-Jahren keine Freunde auf der Insel gemacht. (Obwohl seine berühmteste Schwalbe jene im WM-Finale 1990 blieb: Der Argentinier Pedro Monzón musste vom Platz, Deutschland siegte 1:0). Dann entdeckten auch die Engländer dieses Mittel für sich. Michael Owen erschwindelte bei der WM 2002 gegen Argentinien den entscheidenden Elfmeter. Wenn dringend Tore gefragt waren, wurde auch der robuste Alan Shearer plötzlich zum Leichtgewicht.

Selbst der langjährige Kapitän der Three Lions, Steven Gerrard, hat keine weiße Weste. Werfen sich solch verdiente Musterprofis zu Boden, erscheint es umso glaubwürdiger. Arsène Wenger erklärte unlängst: „Die englischen Spieler haben schnell gelernt und sind jetzt vielleicht die Meister.“

Er könnte unter anderen Dele Alli, 22, gemeint haben, einen der derzeit besten englischen Fußballer überhaupt, aber auch jener Mann, der seit seinem Premier-League-Debüt 2015 drei Gelbe Karten für „Simulation“ kassiert hat und diese Kategorie anführt.

Ein flächendeckender Videobeweis, wie er bei der WM auch Neymar entlarvt hat, würde helfen. Das zeigen die Zahlen aus der italienischen Serie A, wo seit Einführung der Videoschiedsrichter im Sommer des Vorjahres die Täuschungsmanöver um gleich 35 Prozent zurückgegangen sind.

Auch der eigene Ruf kann zum Verhängnis werden. So geschehen bei der WM. Obwohl selbst ein ausgewiesenes Raubein, neigt Portugals Verteidiger Pepe bei der kleinsten Fremdberührung zur Schauspielerei. Der Spanier Diego Costa hat ihn einfach „weggeräumt“, um ein Tor schießen. Bei jedem anderen Spieler wäre das klare Foul wohl gepfiffen worden, doch irgendwann verlieren Schwalbenkönige wie Pepe eben ihre Glaubwürdigkeit.

Aber wie ist das Schwalbenproblem in den Griff zu bekommen, wenn selbst der amtierende Weltfußballer Cristiano Ronaldo gelegentlich in Versuchung gerät? Lösungen in anderen Sportarten zu suchen, erübrigt sich. Die Schwalbe ist eine rein fußballerische Eigenheit. Kein Handballer, kein Eishockeyspieler oder Footballer würde je auf die Idee kommen, die eigene körperliche Schwäche vorzutäuschen. Übrigens, auch Fußballerinnen nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2018)

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