Der Kreislauf des englischen Fußballs

Der Kreis der Auserwählten: England muss gegen Schweden bestehen, dessen wohl größte Stärken Kampfgeist und Beweglichkeit sind.
Der Kreis der Auserwählten: England muss gegen Schweden bestehen, dessen wohl größte Stärken Kampfgeist und Beweglichkeit sind.APA/AFP/YURI CORTEZ
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England liegt im WM-Fieber, eine Nation träumt von Glück und Titel. Wimbledon und Silverstone-GP sind nur Rahmenprogramm, wenn die Three Lions gegen Schweden antreten.

London/Samara. Paare, die sich heute in England das Ja-Wort geben, werden den großen Tag wohl nicht nur aus dem einen Grund in Erinnerung behalten: Wenn um 15 Uhr Ortszeit die Hochzeitsglocken läuten, wird im fernen südrussischen Samara der Anpfiff zum Viertelfinalspiel England gegen Schweden bei der Fußball-WM ertönen. Die nationale Aufregung ist so groß, dass sich die Church of England also zu einem Hinweis genötigt sah: „Teilnehmer einer Trauung werden dringend aufgefordert, ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit dem glücklichen Brautpaar zu schenken und ihre Mobiltelefone abzuschalten.“

Das wird wirkungslos bleiben. Denn England liegt im Fußballfieber. Nachdem die Three Lions im Achtelfinale Kolumbien besiegt haben, steht die Mannschaft erstmals seit 2006 wieder im Viertelfinale eines internationalen Turniers. Noch mehr Balsam für die kollektive Psyche war, dass der Sieg im Elfmeterschießen errungen wurde – erstmals bei einer WM. „Dass wir durch Penaltys gewonnen haben, war der größte Moment unserer Fußballgeschichte“, sagte sogar der Fan Joe O'Neill.

24,4 Millionen Menschen sahen die entscheidenden Momente im TV – Großbritannien hat 65,6 Millionen Einwohner –, danach kam sogar der Verkehr in vielen Städten durch südländisch anmutende Autoparaden zum Halt. Lautes Hupen, „Come on England“-Choräle und das enthusiastische „Yesssss!“ dröhnten auch durch die Straßen Londons.

Als Eric Dier den letzten Strafstoß verwandelte, explodierten zudem die sozialen Netzwerke. In nur einer Minute wurden 127.000 Tweets verzeichnet. Zum Spitzenreiter wurde der Slogan „It's coming home“ mit mehr als einer halben Million Tweets in weniger als 24 Stunden.

Wer kommt heim? Der Pokal!

Es ist der Titel eines WM-Liedes von 1996, in dem milde über die ewige – und stets enttäuschte – Hoffnung der Three Lions, endlich wieder einen Pokal ins Mutterland des Fußballs, also „nach Hause zu bringen“, gespöttelt wird: „Dreißig Jahre des Schmerzes/Haben mich niemals aufhören lassen zu träumen“, heißt es da. Nun glaubt England, dass der Traum Wirklichkeit werden kann. Beim Buchhalter Ladbrokes ist England mittlerweile mit Frankreich erster Herausforderer von Favorit Brasilien. Die junge englische Truppe hat die Herzen der Fans erobert: „No mum, I'm not coming home. It's . . .“, postete Stürmer Jesse Lingard nach dem Kolumbien-Spiel. Wem da das Herz nicht überging, der hat wohl keines.

Dabei ist unübersehbar, dass die Mittel der englischen Mannschaft reichlich beschränkt sind. Die einzige Strategie war es bisher, hohe Bälle in den Strafraum in die Richtung von Kapitän Harry Kane zu schlagen. Nur zwei der bisher acht englischen Tore (Anm: England besiegte Panama mit 6:1) fielen nicht aus Standardsituationen, eines davon war sogar abgefälscht. Der Erste, der daher zu Besonnenheit mahnt, ist Teamchef Gareth Southgate. „Wir werden den Gegner nicht unterschätzen“, sagt er vor dem Schweden-Spiel. Gleichzeitig forderte er: „Ich will mehr.“

Mit seinem eleganten Auftreten in Anzugweste und Krawatte und seinen sportlichen Manieren ist er der neue Liebling der Nation geworden. Unter #GarethSouthgateWould wird gescherzt, was der ideale Mann alles machen würde: „Wenn Sie #GarethSouthgateWould bitten, während Ihres Urlaubs Ihre Blumen zu gießen, mäht er Ihnen auch den Rasen und stellt den Mistkübel auf die Straße.“

Drei Milliarden Pfund

Abgekühlt wird das Fußballfieber mit Bier, mit sehr viel Bier. Supermarktriese Tesco erwartet, dass 50 Millionen Flaschen und Dosen verkauft werden. Konkurrent Asda spekuliert mit dem Verkauf von fünf Millionen Würsten. Pubs melden Rekordumsätze, insgesamt winkt der Wirtschaft ein Ausgabenboom von bis zu drei Milliarden Pfund.

Bis zu 30 Millionen Zuseher werden heute für das England-Spiel erwartet, in Pubs, beim Public Viewing oder beim Barbecue.

Völlig in den Schatten gefahren ist parallel dazu der Formel-1-GP in Silverstone, der am Sonntag mit dem Qualifying startet. Und auch eine weitere Bastion hält weiter ihr Fähnchen aufrecht: In Wimbledon, wo am Wochenende die erste Turnierrunde zu Ende geht, verweigert man standhaft die Ausstrahlung von Fußballspielen: „Wir sind eine Tennisveranstaltung“, beschied Klubvorstand Richard Lewis unbotmäßigen Bittstellern ungnädig. Man konnte seine Geringschätzung hören.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2018)

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