Als Nicola Werdenigg ihre Geschichte erzählte, hatte sie mit der Reaktion und ihrer weiteren Rolle nicht gerechnet. Wahrheitsfindung und Versöhnung sind ihr großes Ziel.
Die Presse: Wie erleben Sie es, wenn andere Betroffene wie in der „Süddeutschen Zeitung“ ihre Geschichten öffentlich machen?
Nicola Werdenigg: Das ist insofern bemerkenswert, als dass durch das Hinausgehen von anderen das ganze System dahinter sichtbar wird. Es geht nicht um einzelne Fälle, sondern den systematischen Machtmissbrauch, der damals stattgefunden hat, und der sich in Sportinstitutionen durch die Verflechtung mit Medien und Politik am besten halten kann.
Viele andere Betroffene haben sich bei Ihnen gemeldet. Hat Sie irgendetwas noch überrascht?
Ich bin mittlerweile eine Anlaufstelle geworden und arbeite mit der Opferhilfe Weißer Ring zusammen. Ich selbst habe 50 Fälle protokolliert und war verblüfft, dass zwischen 50 und 60 Prozent der Personen, die sich gemeldet haben, Männer waren.
Ist es für Sie glaubhaft, dass Wegbegleiter von alledem nichts mitbekommen haben?
Ich glaube, dass genau das systemimmanent ist. Das Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Computer, da mache ich niemandem einen Vorwurf. Wenn jemand sehr erfolgreich war, dann steht der Erfolg im Mittelpunkt und nicht das Rundherum. Meine Geschichte habe ich damals auch niemandem erzählt, darüber wurde in den 1970er-Jahren nicht gesprochen. Das passierte im sozialen Umfeld, mit dem man täglich unterwegs ist, seine Peiniger sieht. Darüber will man nicht reden, man schämt sich. Jetzt ist das Tabu gebrochen.
Wie haben Sie persönlich Herrn Kahr als Trainer kennengelernt?
Er hatte einen rauen Ton. Die Qualifikationen waren eine harte Auslese, sensible Fahrer haben sich bei ihm nicht wohlgefühlt.
Inwiefern hat er das Klima im Skiverband geprägt?
Bevor Toni Sailer 1972 als Sportdirektor zum Verband kam, herrschte eigentlich eine strenge Disziplin. Dann hat er Kahr geholt und plötzlich ist ein anderer Wind gegangen, ist der Alkohol geflossen und gefeiert worden. Was mir in diesem Zusammenhang wirklich am Herzen liegt: Ich möchte Toni Sailer nicht anschwärzen, ihm ist es selber nicht gut gegangen. Er war hochstilisiert und inszeniert als Nationalheld, hat viel auf seinen Schultern gehabt. Das hat er wahrscheinlich nicht mehr gepackt und zu trinken angefangen. Wenn der Toni nüchtern war, war es irrsinnig fein, mit ihm zu reden. Aber wenn er betrunken war, bin ich ihm aus dem Weg gegangen. Aber es geht nicht darum, Kahr oder sonst irgendwen an den Pranger zu stellen, es geht um das Sportsystem. Das ganze System besteht heute noch, und da muss man hinschauen und etwas tun.
Hat der Skiverband denn diese Systemkritik schon realisiert?
Ich glaube schon. Ich habe mit ein paar Leuten aus dem Verband gesprochen, die sehr wohl und schon bevor ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, gesagt haben: „Passt auf, da tut sich was.“ Ob das im Weltcupteam angekommen ist, weiß ich nicht. Die sollen Olympia gut fahren, den Weltcup fertig machen, und dann kann man sich überlegen, wohin man geht.
Hat der ÖSV Ihrer Meinung nach die richtigen Schritte gesetzt?
Ich kann nur sagen, dass ich die eingerichtete Kommission mit Frau Klasnic nicht für zielführend halte. Ein Sportverband braucht nicht etwas neu zu erfinden, was bereits Thema in Expertenkreisen ist.
Was wären also Ihre Wünsche an den ÖSV-Präsidenten?
Dass wir gemeinsam einen Weg finden, uns versöhnen und die Wahrheit ans Licht bringen – im Sinne junger Sportler und der ganzen Gesellschaft. Ich möchte nicht, dass es so gesehen wird, als wäre der ÖSV mein Feind, ich wünsche ihm das Allerbeste. Es geht um Versöhnung und Wahrheit, das entlastet Opfer und Täter.
Hätten Sie erwartet, dass Sie zum Gesicht dieser Causa werden?
Überhaupt nicht. Ich habe einen Schneeball geworfen, wollte das System im Genick treffen. Schröcksnadel hat mit unbedachten Äußerungen ein Schneebrett losgetreten, und als er dann Innauer und Gottwald nicht gut dastehen hat lassen, ist die Lawine losgebrochen. Mir geht es gut, weil ich merke, dass sich unheimlich viel tut. Allein, wenn so viele Leute das erste Mal darüber reden können, die Entlastung, die das für sie bedeutet, ist ungeheuer.
ZUR PERSON
Nicola Werdenigg, 59, machte im November Missbrauch während ihrer aktiven Zeit im Skiweltcup öffentlich. Gemeinsam mit Ex-Judoka Chris Karl gründete sie den Verein #WeTogether, der die Prävention von Machtmissbrauch im Sport zum Ziel hat. [ APA ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2018)