Als Team Ineos möchte der einstige Sky-Rennstall erneut die Tour de France gewinnen. Titelverteidiger Geraint Thomas und Jungstar Egan Bernal fahren für- und zugleich gegeneinander.
Brüssel/Wien. Neuer Name, altbekanntes Ziel: Erstmals als Team Ineos geht Titelverteidiger Sky bei der 106. Tour de France am Samstag in Brüssel an den Start. Der britische Rennstall jagt den siebenten Sieg im achten Jahr, keine andere Mannschaft hat die wichtigste Rundfahrt des Jahres derart lang in dieser Form dominiert. Der Ausfall von Superstar Chris Froome (multiple Knochenbrüche nach dem Sturz beim Critérium du Dauphiné) hat das Feld offener gemacht, doch es wäre nicht Ineos, hätte Mastermind Sir David Brailsford nicht nur ein, sondern gleich zwei weitere Asse im Ärmel.
Geraint Thomas ist der Titelverteidiger und zugleich auch das große Fragezeichen dieser Tour. Der Waliser, 33, hat zugegeben, seinen Premierentriumph über die Gebühr ausgekostet zu haben. Der Pokal wurde ihm bei einer Show gestohlen, der Trainingsrückstand wuchs aus eigenem Verschulden an. Nun stimmt zwar das Gewicht, seine Form aber lässt sich schwer einschätzen. In lediglich 26 Renntagen in diesem Jahr blieb Thomas ohne Sieg, die Generalprobe bei der Tour de Suisse endete schmerzhaft auf dem Asphalt. Stattdessen triumphierte Ineos-Jungstar Egan Bernal eindrucksvoll und wurde von der Teamleitung mit der Nominierung als Ko-Kapitän belohnt. Dieser Status war Thomas 2018 neben Froome nicht zugestanden worden, was ihn, wie er im Buch „Die Tour aus Sicht von G“ gestand, frustriert hatte.
Der Titelverteidiger weiß also aus eigener Hand, wie es ist, wenn Plan B zur Anwendung kommt. Die kompakte Teamstärke zeichnet den britischen Rennstall seit jeher aus, und man ist flexibler geworden: Als Bradley Wiggins 2012 den ersten Sky-Triumph besiegelte, wurde der stärkere Edelhelfer Froome von der Teamleitung zurückgehalten. 2018 war das nicht mehr der Fall, diesmal beginnt das Rennen offen. „Zwei Anführer lassen uns mehr Optionen. Egan und ich werden hart füreinander und das Team arbeiten“, erklärte Thomas, der am Tag vor der Präsentation jedoch noch seinen Führungsanspruch betont hatte. Trotz geänderter Vorzeichen erkannte er „wenig Unterschied zum Vorjahr, außer, dass ich mehr Fragen beantworten muss“.
Jugend im Fokus
Der Kolumbianer Bernal, 22, gilt als kommender Star, wobei der deutsche Routinier Tony Martin vor der Tour befand: „Das ist nicht mehr die Zukunft, sondern schon die Gegenwart.“ Bereits bei seinem Debüt im Vorjahr (15.) überzeugte das Leichtgewicht (1,75 m, 60 kg) in den Bergen, inzwischen wurde auch das Zeitfahren besser – diesem kommt heuer allerdings ohnehin weniger Bedeutung zu. Eigentlich war Bernal für den Giro geplant gewesen, ein Schlüsselbeinbruch aber eröffnete ihm die große Tour-Chance. „Die Erfahrung im letzten Jahr hat mir viel geholfen. Ich weiß, was mich erwartet, und bin relaxter und fokussierter“, erklärte der Profi aus Bogotá. Bernal hat alle Freiheiten zu kommandieren, zu taktieren und zu attackieren, die erste schwere Bergetappe am Donnerstag wird Aufschluss geben, wie er sie nützen wird. Sollte er das Gelbe Trikot ins Ziel bringen, würde er den Italiener Felice Gimondi (1965) als jüngsten Sieger der Neuzeit ablösen.
Privat verstehen sich die beiden Teamkollegen im Übrigen bestens, beide gelten als umgängliche Charaktere ohne Starallüren. Dass es bislang nur dem legendären Miguel Indurain 1992 gelungen ist, direkt nach der Premiere erneut die Tour zu gewinnen, sieht Thomas gelassen. „Ich muss niemanden mehr etwas beweisen. Sollte mein Sieg ein One-Hit-Wonder bleiben, ist es ein ziemlich gutes.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2019)