US Open: Kevin Andersons Wandlung vom Denker zum Kämpfer

Der Finaleinzug bei den US Open ist Kevin Andersons größter Erfolg, zuvor war bei Grand Slams ein Viertelfinale (New York 2015) das Höchste der Gefühle.
Der Finaleinzug bei den US Open ist Kevin Andersons größter Erfolg, zuvor war bei Grand Slams ein Viertelfinale (New York 2015) das Höchste der Gefühle.(c) Anthony Gruppuso / Reuters
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Kevin Anderson, 31, spielt bei den US Open gegen Rafael Nadal um seinen ersten großen Titel. Die Schüchternheit des Südafrikaners ist aggressivem Selbstvertrauen gewichen.

Weniger als eine Minute war gespielt, im ersten Halbfinale der US Open, als auch die letzten Zweifel an der geballten Willensstärke von Kevin Anderson ausgeräumt waren. Vier Aufschläge hatte der 2,02 Meter große Rechtshänder ins Feld geknallt, alle vier vermochte sein Gegner Pablo Carreño Busta nicht zu retournieren. Und vor allem: Nach jedem der vier Punkte ballte Anderson die Faust, gefolgt von einem lauten „Come on!“. Man hätte glauben können, das Spiel befinde sich im fünften Satz im Tiebreak.

Der 31-jährige Anderson ist ja beileibe kein Neuling auf der Tennistour, 2004 fand er sich erstmals in der Tennisweltrangliste, seit 2010 steht er stets unter den besten 100. Wer die Karriere des aufschlagstarken Südafrikaners verfolgte, erinnert sich an einen eher schüchternen Spieler, der trotz seiner Größe ab und zu ein wenig unsicher wirkte, wohl selbst nie an den ganz großen Erfolg, den absoluten Durchbruch glaubte. Nun steht ebenjener Mann plötzlich heute (22 Uhr, live Eurosport) im Finale des Turniers in Flushing Meadows und strotzt dabei nur so vor Selbstvertrauen.


Kopfsache

„Zu 90 Prozent geht es im Tennis um den Kopf“, sagt Anderson und erklärt, dass er seit ein paar Monaten deutlich mehr im mentalen Bereich arbeitet. „Ich war zu wenig aggressiv, jetzt balle ich öfter die Faust. Am Anfang hat sich das komisch angefühlt, aber schön langsam gewöhne ich mich daran.“ Tatsächlich tickt jeder Tennisprofi anders. Es gibt den Typus eines Rafael Nadal, der sich stets laut anfeuert und ständig unter Strom steht, und es gibt Spieler wie Roger Federer oder Dominic Thiem, die zumeist ganz ruhig und konzentriert wirken. Anderson probierte es viele Jahre auf die leise Art, mit überschaubarem Erfolg, ehe ihm sein Betreuerstab zum Sinneswandel riet.

Im Endspiel gegen den Weltranglistenersten und 15-fachen Grand-Slam-Sieger Nadal ist Anderson krasser Außenseiter, zumal er auf dem Weg ins Finale keinen Top-Ten-Spieler aus dem Weg räumen musste. Viermal trat er bislang gegen Nadal an, viermal hieß auch der Sieger Nadal. Gewinnt nun der Südafrikaner, wäre er der in der Weltrangliste am schlechtesten platzierte Grand-Slam-Champion, seitdem Gastón Gaudio 2004 in Paris die Trophäe gestemmt hat. Doch völlig chancenlos ist Anderson nicht. Seine ersten Aufschläge sind mehr als 220 Kilometer pro Stunde schnell, und wenn er viele davon ins Feld trifft, wird auch Nadal seine Probleme haben.

Dabei dachte Anderson vor einem knappen Jahr schon ans Karriereende. Die Chance war damals groß, dass er den Großteil des Jahres 2017 im Krankenbett und auf Rehabilitation verbringen würde. Den in Florida lebenden Star plagten Hüftprobleme, eine Operation schien unausweichlich. Mit viel Bewegungsübungen und beinhartem Training stabilisierte er die Hüfte und schaffte den mühsamen Weg zurück. Umso vorsichtiger geht Anderson nun mit seinem Körper um. Eine Trainingseinheit besteht zu einem großen Teil aus Dehnungs- und Stabilisierungsübungen. Selbst Yogaposen streut Anderson ein, ehe er zum Racket greift und Bälle schlägt. „Ich arbeite so hart wie nie zuvor“, sagt er.

Auch wenn sich Anderson auf dem Tennisplatz gewandelt hat, abseits des Courts ist er nach wie vor ein höflicher, zurückhaltender Mann. In der Pressekonferenz nach seinem Halbfinalsieg, in den Katakomben des mächtigen Arthur-Ashe-Stadions, wirkt er gebildet und weltgewandt. Er ist wohltuend freundlich und spricht überlegt und ruhig. Anders als die meisten anderen Profis brach er die Schule nicht ab und begann in den USA zu studieren. Er machte sich das US-System des wettkampfmäßigen College-Sports zunutze und spielte drei Jahre lang für das Team der University of Illinois. Erst als er 2007 aus der Qualifikation heraus ein Challenger-Turnier gewann und dabei vier Top-200-Spieler schlug, schmiss er die Uni hin und ging Vollzeit auf Tennistour.


Mandela als Inspiration

Stets mit dabei ist seine Ehefrau Kelsey, die Anderson zu Studienzeiten kennenlernte. Kelsey versuchte sich als Golfspielerin, beendete aber ihre Karriere, um ihren Mann auf der Tennistour zu begleiten. Sie regelt die Finanzen und organisiert Flüge und Hotels, beim regen Reisebetrieb eines Tennisprofis ist das nahezu ein Vollzeitjob. Nach dem Halbfinalsieg stand sie mit Tränen in den Augen auf der Tribüne, als sich ihr Ehemann im Siegerinterview bei ihr bedankte. Aus dem lauten Kämpfer Anderson wurde gleich nach dem Matchball wieder der emotionale, zurückhaltende Denker.

Nach den US Open will er in Südafrika mehr Kinder zum Tennis bringen, ein Sport, den er als „die beste Lebensschule“ bezeichnet. Nur ein Superstar möchte Anderson keineswegs sein. Er will seine Bekanntheit nützen und künftig auch die Slums seiner Heimatstadt Johannesburg besuchen, um armen Kindern Mut zuzusprechen. „Es ist so wichtig, an sich zu glauben, jeder kann es schaffen“, sagt er und erwähnt ehrfürchtig Nelson Mandela, der ihn inspiriert habe.

Vorher will Anderson aber noch den ganz großen Triumph schaffen, vor 23.000 Zusehern im größten Tennisstadion der Welt. Sein Plan ist klar: „Ich muss an mich glauben, mich auf meine Stärken konzentrieren und von Anfang an voll aggressiv sein.“ Da ist er wieder, der neue Kevin Anderson, der Fäuste ballende Kämpfer.

US OPEN

Anfänge
1881 fand die erste Austragung der U.S. National Championships der Herren im Newport Casino statt, der erste Damenbewerb wurde sechs Jahre später gespielt.

Belag
Bis einschließlich 1974 wurden die US Open auf Rasen aus-getragen, ehe man für drei Jahre auf Sand wechselte. Seit 1978 wird auf den Hartplätzen in Flushing Meadows gespielt. Jimmy Connors gelang das Kunststück, auf allen drei verschiedenen Belägen zu triumphieren.

Stadion
Mit einer Kapazität von 23.771 Plätzen ist das Arthur-Ashe-Stadion die größte Tennisarena der Welt. Benannt wurde sie nach dem Grand-Slam-Sieger von 1968 und ersten Afro-Amerikaner im US-Daviscup-Team. Seit 2016 verfügt das Stadion über ein verschließbares Dach.

Rekordsieger
der Profi-Ära ab 1968 sind bei den Herren Jimmy Connors, Pete Sampras und Roger Federer mit je fünf Siegen, Federer gewann seine fünf Titel sogar in Folge. Bei den Damen halten Chris Evert und Serena Williams bei je sechs Erfolgen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2017)

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